15. Prosodie

15.1. Einführung

15.1.1. Segmentale und suprasegmentale Merkmale

Sprachliche Einheiten sind, was die Struktur ihres Significans angeht, entweder segmental oder suprasegmental.

Der Terminus Prosodie (wörtl.: "Hinzugesungenes") bezieht sich auf die Menge von suprasegmentalen Einheiten in einem bestimmten Bereich.

Phonetisch sind Suprasegmentalia Eigenschaften der Lautkette, die nicht am Segment festgemacht werden können und deren Domäne größere Einheiten sind:

Funktional kann ein suprasegmentales Merkmal außersprachlich, parasprachlich oder sprachlich motiviert sein. Kriterium ist nicht der Grad der Bewußtheit [wie Clark & Yallop 1995:329 vermeinen] und auch nicht der kontinuierliche vs. diskrete Status [wie Martinet 1963:90 vermeint], sondern die Einbindung ins System, d.h. in paradigmatische und syntagmatische Relationen.

Die durch Prosodie kodierten Bedeutungskomponenten kann man wie folgt einteilen (Lambrecht 1994:239):

  1. funktionelle Satzperspektive alias Informationsstruktur,
  2. illokutive Kraft,
  3. Ausdruck von Affekt und Emotion.

Davon ist Nr. 1 eindeutig sprachlich, Nr. 2 zum Teil jedenfalls sprachlich, jedoch, wie wir unten sehen werden, zum Teil auch parasprachlich, und Nr. 3 parasprachlich oder außersprachlich.

Ebenso wie bei den segmentalen Eigenschaften kommt es auch bei den suprasegmentalen nicht auf absolute Werte, sondern auf Relationen an. Bei den suprasegmentalen Eigenschaften kommt es besonders auf den syntagmatischen Kontrast an. D.h. der Sprecher moduliert diese Eigenschaften im zeitlichen Verlauf seiner Rede, und dies ist es, worauf der Hörer achtet.

15.2. Dauer

15.2.1. Moren

Die More ist die kleinste metrische Einheit. Sie ist in vielen Sprachen die Instanz zur Bestimmung der metrischen Struktur eines Worts und für Beschränkungen über den Wortakzent oder den lexikalischen Ton. Eine Silbe dauert mindestens eine More; ein More umfaßt eine Silbe oder weniger.

Im Japanischen ist jeder Abschnitt, der einen (kurzen) Vokal enthält, und jeder Abschnitt, der mit einem Konsonanten beginnt, eine More:

Silben und Moren im Japanischen
Wort BedeutungSilbenMoren
hatimakiKopfband ha•ti•ma•kiha-ti-ma-ki
sinbunZeitung sin•bunsi-n-bu-n
hakkiriklärlich hak•ki•riha-k-ki-ri
yapparierwartungsgemäß yap•pa•riya-p-pa-ri
tattastand auf tat•tata-t-ta
ookiigroß oo•kiio-o-ki-i

Die japanischen Versmaße beruhen auf der Morenzählung.

Im Lateinischen zählt eine Silbe eine More, wenn sie auf Kurzvokal endet; andernfalls zählt sie zwei Moren. Eine einmorige Silbe ist leicht, eine zweimorige schwer. Hiernach bestimmt sich die Zuweisung des Wortakzents (s.u.) und die metrische Gestalt des Worts.

15.2.2. Dauer des Segments

Die Dauer trägt zur Prominenz eines Lautes bei. Manche Laute sind aus anatomischen Gründen verschieden lang. Ein Vokal kann über 300 ms dauern, die Lösung eines stimmhaften Plosivs dagegen etwa 20 ms. Offene Vokale sind länger als geschlossene, weil die Artikulatoren weitere Wege haben.

Die Bezugseinheit für die Dauer ist i.w. die Silbe. Zwar ist der Vokal hauptverantwortlich; aber die Dauer des Rests der Silbe muß proportional sein. Natürlich ist die Dauer relativ zur Sprechgeschwindigkeit.

Die Dauer eines Segments kann phonologisch relevant, also ein distinktives Merkmal sein. Im Lateinischen gibt es eine Längenopposition sowohl bei Vokalen als auch bei Konsonanten:

Drei Stufen der Vokallänge gibt es im Estnischen.

Länge von Konsonanten ist phonologisch dasselbe wie Doppelkonsonanz oder Gemination (vgl. Kap. 14.4.3). Sie besteht normalerweise darin, daß die Silbengrenze in den Konsonanten fällt, dieser also ambisyllabisch ist. In dem Falle endet eine Silbe mit der Konstriktion, und die folgende beginnt mit der Lösung der Konstriktion. So ist es etwa im Italienischen (z.B. [trat•to•'ri•a]). Das führt dazu, daß Doppelkonsonanten bevorzugt oder ausschließlich im Wortinneren auftreten; so wieder im Lateinischen und Italienischen. Doppelkonsonanz am Wortrand gibt es im Finnischen und Ungarischen. Hier sorgt die Liaison dafür, daß auch wortanlautende und -auslautende Konsonanten eine Silbengrenze enthalten können.

Dauer eines Segments ist oft konkomitant mit anderen phonetischen Merkmalen wie Gespanntheit und - bei Vokalen - Marginalität (i.e. Nicht-Zentralität). Im Prinzip kann jedes dieser Merkmale das jeweils phonologisch distinktive sein, wobei die anderen dann konkomitant (und somit redundant) sind.

Oft gibt es phonotaktische Beschränkungen über das Vorkommen langer Segmente. Im Tschechischen und Ungarischen kann jede Silbe eines Wortes lang sein:

Im Deutschen dagegen enthalten grammatische Affixe keine Langvokale.

Allophonische Vokallänge entsteht im Englischen vor stimmhaftem Konsonant und kann dann, wenn der Konsonant selbst stimmlos wird, phonemisch werden (vgl. Kap. 5.6). Besonders in stress-timed (s. Clark & Yallop 1995:340f) Sprachen wie Deutsch und Englisch sind akzentuierte Silben phonetisch länger als unakzentuierte. In anderen Sprachen wie Spanisch (in der hochkastilischen Aussprache) sind alle Silben gleich lang.

Die Dauer wird häufig zu den Suprasegmentalia gerechnet. Dies liegt wohl daran,

Unbeschadet dieser beiden Tatsachen ist aber auch festzustellen, daß das Merkmal der Dauer von einem Segment zum nächsten innerhalb der nächstgrößeren Einheit wechseln und somit gemäß obiger Definition als segmentales Merkmal gerechnet werden kann.

15.3. Akzent

15.3.1. Prominenz

In einem Satz wird - bedingt durch seine Informationsstruktur - ein bestimmter Ausdruck (rhematisch, topikalisch, emphatisch, kontrastiv) hervorgehoben. Er soll prominenter sein als syntagmatisch benachbarte Ausdrücke. Folglich erhält er den Akzent.1, 2

Die phonetische Grundlage der phonologischen Prominenz, die durch Akzent erzielt werden soll, ist die auditive Intensität der akzentuierten Einheit. Diese hat ihrerseits, wie in Kap. 3 zu sehen, eine komplexe auditive Grundlage aus Lautstärke, Tonhöhe und Dauer. Das wichtigste artikulatorische Korrelat ist der subglottale Druck. Daneben wird oft auch die akzentuierte Einheit gespannt artikuliert.

Anders als bei allen anderen phonologischen Merkmalen gibt es beim Akzent grundsätzlich nicht eine Opposition auf einer Einheit in gegebenem Kontext; vielmehr kommt der Akzent einer von mehreren gleichartigen Einheiten (z.B. Wörtern) in einem Syntagma zu. Er hat also eher eine kontrastive als eine oppositive Funktion.

Der wichtigste Kontrast in der Phonologie ist die Prominenz, also das Hervorragen einer Einheit gegenüber benachbarten.

Aus dem Gesagten folgt, daß für die Grammatik nur die syntagmatische Position des Akzents relevant ist, nicht jedoch seine tonale Charakteristik (etwa die Stimmqualität). Diese bringt dagegen Emotionen, Emphase, Ironie und dgl. zum Ausdruck, die eben nicht Teil der Grammatik sind.

15.3.2. Wortakzent und Satzakzent

Der Satzakzent ist die okkasionelle Hervorhebung eines Teils eines Satzes in diesem Sinne. B1.a enthält zwei Satzakzente, deren Träger durch Unterstreichung bezeichnet sind:

B1.a. Also diese Erna, was die sich nur einbildet.
b. Also diese Erna, was die sich nur einbildet.
c. [ʔazodizəˈʔɛɐna: vasˌti:zɩçnuɐˈʔaɩnbɩldət]

Der Satzakzent landet auf einem bestimmten Wort, das Teil des hervorzuhebenden (akzentuierten) Ausdrucks ist (s. B1.a). Dieses Wort wird dadurch hervorgehoben, daß eine seiner Silben prominenter gesprochen wird als die anderen (B1.b).

Der Wortakzent ist die Akzentuierung einer Silbe eines Wortes. Die Silbe ist die kleinste akzentuierbare Einheit; folglich ist der Akzent eine suprasegmentale Einheit.

In B1.b ist der Wortakzent durch Unterstreichung bezeichnet. In phonetischer Umschrift wird der Akzent durch ein der akzentuierten Silbe vorangehendes Diakritikum bezeichnet. Meist genügt es, zwei Akzentstufen (sei es im Satz oder innerhalb einer Wortform) zu unterscheiden, einen Hauptakzent [ˈ] und einen Nebenakzent [ˌ], so wie es in B1.c illustriert ist.

Der Sitz des Wortakzents, d.h. diejenige Silbe, welche den Akzent erhält, falls der Satzakzent auf dieses Wort fällt, läßt sich (wenn er nicht gerade beweglich ist; s.u.) für eine gegebene Wortform unabhängig von ihrer jeweiligen Verwendung im Text angeben. Er heißt deshalb auch - leicht unpräzise - lexikalischer Akzent. Dieser ist virtuell und wird nur dann real, wenn der Satzakzent auf das Wort fällt. Z.B. hat das Wort diese den Wortakzent auf der ersten Silbe, aber in B1 hat das Wort nicht den Satzakzent, und folglich ist die erste Silbe dieses Wortes in B1 nicht akzentuiert und somit auch nicht prominenter als die anderen Silben (d.h. seine zweite Silbe).

Man hat den phonologischen Akzent begrifflich von dem orthographischen Akzent zu unterscheiden. Der letztere ist ein Diakritikum - normalerweise ein Akut (´), Gravis (`), Zirkumflex (  ̃) oder Makron (^) -, welches Bestandteil der Orthographie ist. Manchmal - z.B. im Spanischen und Italienischen - gibt es den Sitz eines (von bestimmten Prinzipien abweichenden) Wortakzents an. Manchmal - z.B. im Französischen - hat der orthographische Akzent mit dem phonologischen überhaupt nichts zu tun.3

15.3.3. Arten des Wortakzents

Die Typen von Wortakzent lassen sich wie folgt einteilen:

Ein beweglicher Akzent kann auf mehr als eine Silbe eines gegebenen Wortes fallen; er ist also insoweit nicht geregelt. Das Französische z.B. hat einen beweglichen Wortakzent; in einem Wort wie université kann er auf jede der fünf Silben fallen.

Ein fester Wortakzent ist ein solcher, der durch eine Regel aus der segmentalen Struktur der Wortform ableitbar ist. Im einfachsten Falle bestimmt sich der Wortakzent dadurch, daß von einer Wortgrenze an die Silben gezählt werden. Im Ungarischen und Tschechischen z.B. wird grundsätzlich die erste Silbe des Wortes betont, im Polnischen die Pänultima (vorletzte Silbe). Im Lateinischen ist es etwas komplizierter: der Akzent fällt auf die Pänultima, wenn sie schwer ist (s.o.), sonst auf die Antepänultima.

Ein freier Wortakzent ist ein solcher, der bei einer gegebenen segmentalen Struktur auf verschiedene Silben fallen kann. Im Englischen z.B. sind content und content verschiedene Wörter. Spanisch hat ebenfalls freien Wortakzent, mindestens insofern er auf jede der drei letzten Silben eines Wortes fallen kann:

Während man einen beweglichen Akzent im Prinzip auf jede beliebige Silbe eines gegebenen Wortes setzen kann, hat man bei einem freien Akzent paradoxerweise keine Freiheit: sein Sitz bestimmt sich zwar nicht nach phonologischen, wohl aber nach lexikalischen und grammatischen Rücksichten. Noch anders gesagt: ein freier Akzent gehört zur phonologischen Identität eines Wortes, ein beweglicher dagegen nicht.

Der feste Akzent fungiert nebenbei als Grenzsignal in folgendem Sinne: Ein für das Verständnis wichtiger Aspekt der grammatischen Struktur einer Äußerung sind ihre Zusammensetzung aus Wortformen und mithin die Grenzen zwischen diesen Wortformen. Wie wir in Kap.14.4.2 sahen, entstehen durch phonotaktische Beschränkungen und konditionierte phonologische Prozesse demarkative Funktionen segmentaler Einheiten und insbesondere segmentale Grenzsignale. Manche Sprachen markieren die Wortgrenze durch besondere segmentale Prozesse, das Deutsche z.B. durch Glottisverschlußprothese und Auslautverhärtung. In Sprachen wie dem Ungarischen oder Lateinischen, die die Wortgrenze nicht segmental markieren, erfüllt der feste Wortakzent diese Funktion, denn vom Akzentsitz aus kann der Hörer die rechte oder linke Wortgrenze errechnen.

Natürlich ist die Freiheit vs. Festheit des Akzents nichts, was unabhängig von Theorien empirisch feststellbar ist. Ein fester Akzent wird ja jedenfalls nicht von phonetischen, sondern eher von phonologischen, wahrscheinlich von morphophonologischen Eigenschaften der Wortform bestimmt. Diese aber werden auf der Basis einer Theorie angesetzt. Genau wie bei der Silbenstruktur stellt sich auch beim Akzent die Alternative, ob man für die Akzentzuweisung hinreichende Information in der segmentalen morphophonologischen Repräsentation unterbringt und den Akzent durch darauf basierende phonologische Regeln zuweist (fester Akzent), oder ob man in der morphophonologischen Repräsentation den Akzent mit spezifiziert und stattdessen bestimmte mit dem Akzent einhergehende segmentale Eigenschaften durch Regeln einführt (freier Akzent). Chomsky & Halle 1968 plädieren für phonologisch bedingte Akzentzuweisung im Englischen.

15.3.4. Klisis

Der Normalfall für eine Wortform ist, daß sie akzentuiert werden kann. Die meisten Sprachen haben aber auch Wörter, die nicht akzentuiert werden können, häufig auch Alternanten von Wörtern, von denen eine nicht akzentuiert ist.

B2.Das ist ja wohl die Höhe!
B3.a.Ich hab' se gefragt.
b.Ich habe sie, nicht ihn gefragt.

Im Deutschen können mehrere Modalpartikeln, z.B. ja und wohl in B2, nicht akzentuiert werden.4 Von den Personalpronomina gibt es Varianten wie se in B3.a, die nicht akzentuiert werden. Soll das Pronomen der 3. Person in B3 akzentuiert werden, wird die Variante von B3.b benutzt.

Ein Wort, das nicht den Satzakzent bekommen kann, ist klitisch; diese seine Eigenschaft und der sie bewirkende Prozeß heißen Klisis. Ein Klitikum bildet ein phonologisches Wort mit einem syntagmatisch benachbarten Wort, seinem Träger (engl. host). D.h. zwischen einem Klitikum und seinem Träger gibt es keine phonologische Wortgrenze, und für Zwecke der Akzentuierung gilt das Klitikum als phonologischer Bestandteil seines Trägers (es "ordnet sich dessen Akzent unter"; griech. Klisis bedeutet wörtlich “sich anlehnen”).

Ein Klitikum, das seinem Träger folgt, ist enklitisch (der Prozeß heißt Enklise); ein Klitikum, das seinem Träger vorangeht, ist proklitisch (der Prozeß heißt Proklise). Die Modalpartikeln in B2 und das oblique Personalpronomen in B3.a sind enklitisch; die präverbalen Morpheme in B4 sind proklitisch.

B4. je ne le fais pas
Frz “ich mache es nicht”

Klitika können oft nur grammatisch, nicht phonologisch von Affixen unterschieden werden.

15.4. Intonation

Gelegentlich wird Intonation synonym mit Prosodie gebraucht. Intonation i.e.S. ist die suprasegmentale Struktur eines Satzes, und zwar insbesondere sein Tonhöhenverlauf als Bestandteil von Phonologie und Syntax. Ihre phonetische Grundlage ist der Verlauf von F0. In diesem Sinne ist Intonation zu unterscheiden

Die Beispiele der folgenden Tabelle sind ganze Sätze, zeigen also Satzintonation.

In der linken Spalte werden verbreitete Symbole zur Bezeichnung des Intonationsverlaufs verwendet. Oft werden auch - reale oder stilisierte - Kurven, die die Höhe von F0 wiedergeben, verwendet.

Einige der Beispiele betreffen affektive Intonation, welche weitgehend ohne Kodierung im Sprachsystem funktioniert. Die gewöhnliche Fragesatzintonation aber ist, wiewohl interlingual sehr weit verbreitet, Bestandteil des jeweiligen Sprachsystems. Im Deutschen z.B. involviert sie einen gewöhnlichen - d.h. leicht fallenden - Tonverlauf bis zur vorletzten Silbe einschließlich und steigenden Ton auf der letzten Silbe des Satzes.

15.5. Lexikalischer Ton

15.5.1. Grundbegriffe

In der vorigen Tabelle war die Satzintonation an einem Beispiel illustriert worden, das nur aus einer Silbe bestand. Somit ergibt sich phonetisch derselbe Effekt, als wenn es sich um Wortton handelte. Dieser existiert im Deutschen freilich nicht auf phonologischer Ebene, wohl aber in zahlreichen anderen Sprachen.

Lexikalischer Ton ist die Nutzung der Höhe oder des Verlaufs der Grundfrequenz einer Silbe als distinktives Merkmal von Morphemen. Er hat die Funktion eines distinktiven Merkmals wie z.B. Stimmhaftigkeit. Phonetisch betrachtet, ist der Ton eine Eigenschaft einer Silbe und wird daher zu den Suprasegmentalia gerechnet.

Nach ihrer internen Struktur werden Töne wie folgt eingeteilt:

Eine Tonsprache ist eine Sprache mit lexikalischem Ton. Die Tonsprachen unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht, insbesondere der Anzahl und Art der phonemischen Töne8 und den phonologischen Prozessen, die den Ton betreffen. Sie unterscheiden sich auch darin, auf was für Silben sie überhaupt Ton haben. Die chinesischen Sprachen z.B. haben Ton im Prinzip auf jeder Silbe (s.u.). Das Altgriechische und einige andere indogermanische Sprachen haben Ton nur auf der Silbe des Wortes, auf die der Wortakzent fällt. Das Yukatekische hat Ton nur auf langen Silben: kol (tonlos) 'roden', kòol (Tiefton) 'Milpa', kóol (Hochton) 'ziehen'.

15.5.2. Ton im Chinesischen5

Alle chinesischen Sprachen haben lexikalischen Ton. Abgesehen von einigen rein grammatischen Morphemen, hat jedes Morphem und jede Silbe einen distinktiven Ton. Viele Morpheme unterscheiden sich ausschließlich im Ton.

Das Mandarin hat eins der einfachsten chinesischen Tonsysteme. Die Tabelle zeigt die vier Töne und zwei Beispiele von je vier Wörtern, die sich ausschließlich im Ton unterscheiden.

Töne des Mandarin
Ton Nr.1234
Diakritikum
Ebene
5 ●   ●
4
3
2
1
Beispiel 1
yǐ
Bedeutung
"Tuch" "argwöhnen" "Stuhl" "Bedeutung"
Beispiel 2
mǎ
Bedeutung
"Mutter, Alte" "Hanf, Jute" "Pferd; Ziffer" "verfluchen, schimpfen"

Wie man sieht, ist Ton 1 ein Registerton, die anderen sind Konturtöne.

Das Kantonesische hat eines der komplexesten Tonsysteme:

Töne des Kantonesischen
Ton Nr.
Ebene
123456
5 ●   ●
4
3 ●   ●
2 ●   ●
1

Ton Nr.
Ebene
789
5
4
3
2
1

Dabei sind die Töne 7 - 9 abgehackt, nämlich auf Silben mit Kurzvokal, die auf /p t k/ enden.

Ebenso wie andere phonologische Merkmale sind Töne phonologischen Prozessen unterworfen, die unter der Bezeichnung Tonsandhi zusammengefaßt werden. B5 aus dem Cháozhōu (Süd-Mĭn) zeigt in a die (zugrundeliegende) Version ohne Sandhi, in b die Version mit Sandhi (die Ziffern sind Tonhöhen):

15.5.3. Entstehung von Ton

Zahlreiche Eigenschaften variieren zwischen den Sprachen. Einige Sprachen haben lexikalischen Ton, andere nicht. Beide Typen müssen irgendwie entstanden sein. Folglich muß eine Sprache ohne lexikalischen Ton sich zu einer Sprache mit lexikalischem Ton wandeln können, und umgekehrt.6

Der Verlust von Ton ist von indogermanischen Sprachen bekannt. Z.B. hat das Altgriechische zu historischer Zeit seinen lexikalischen Ton verloren. Dies kann als spontaner Lautwandel passieren und geht dann ohne Kompensation auf phonologischer Ebene vonstatten. Natürlich entstehen dadurch Homonyme, so daß auf lexikalischer Ebene für Kompensation gesorgt wird.

Die Töne des Chinesischen sind wahrscheinlich erst nach der altchinesischen Periode entstanden; das Ursinotibetische jedenfalls hatte keine Töne. Der allgemeine Mechanismus der Tonogenese ist die in Kap. 12 eingeführte Phonologisierung. Tonogenese im besonderen läuft wie folgt ab:

Die Grundfrequenz eines Vokals (F0) wird phonetisch durch umgebende Konsonanten konditioniert, so wie es in der folgenden Regel (mit leichter Vereinfachung) dargestellt ist:

Die artikulatorische Grundlage des ersten dieser beiden Prozesse ist, daß bei Einsetzen der Stimme nach stimmlosem Konsonant die Anspannung zunächst höher ist und sich erst später einpendelt. Herrscht dagegen schon während des Verschlusses Stimmhaftigkeit, läßt die Anspannung der Stimmbänder bei Lösung des Verschlusses nach, weil der subglottale Druck plötzlich sinkt, so daß die Frequenz bei Lösung des Verschlusses niedrig ist (Hagège & Haudricourt 1978).

Der zweite Prozess setzt einen stimmlosen Glottal am Silbenende voraus. Ist dieser [h], so gehen die Stimmbänder in Ruhelage, was zur Abnahme von F0 und somit Tiefton (oder fallendem Ton) führt. Ist es dagegen ein Plosiv, so sind die Stimmbänder anzuspannen, was zur Zunahme von F0 und mithin zu Hochton (oder steigendem Ton) führt.

Lexikalischer Ton kann durch Reinterpretation solcher allophonischer Variation der Tonhöhe entstehen (vgl. Norman 1988, ch. 2.7). Die zunächst allophonischen Tonunterschiede werden phonemisch, sobald die konditionierenden Konsonanten oder auch nur deren konditionierendes Merkmal wegfällt. Dies ist in der folgenden Tabelle mit hypothetischen Beispielen dargestellt.

Entstehung von lexikalischem Ton
allgemeiner Prozeß
fiktives Beispiel
vorher nachher vorhernachher
•[- sth]  V•[u sth]  V̅ tiktīk
•[+ sth] V•[u sth]  V̱ dikti ̱k
    V h•     V̀• mah
    V ʔ•    V́• maʔ

Legende: • Silbengrenze; o̅ Hochton; o Tiefton; ó steigender Ton; ò fallender Ton.

15.5.4. Deklination und Downstep

Es besteht eine universale Tendenz zur Senkung des Tons gegen Äußerungsende infolge Nachlassen der Anspannung (Deklination).

Viele Sprachen in Afrika haben die Deklination phonologisiert. Downstep ist das phonologische Prinzip, daß nach einem Tiefton der nächste Hochton auf einer niedrigeren absoluten Höhe ist als der letzte.

Der Terminus Downdrift ist zweideutig zwischen Downstep und Deklination.

15.6. Übungen und Testfragen

  1. (1 P.) Geben Sie ein Beispiel dafür, daß ein segmentales Merkmal in einer Silbe von einem Segment zum nächsten den Wert wechseln kann.
  2. (1 P.) Was ist das Metrum einer phonologischen Form (z.B. eines phonologischen Wortes oder eines Verses)?
  3. (2 P.) Deutsch ist ‘stress-timed’, Kastilisch jedoch ‘syllable-timed’. Was bedeutet das?
  4. (2 P.) Wozu dient der Wortakzent, wozu dient der Satzakzent?
  5. (2 P.) Wodurch wird der Wortakzent determiniert, und wodurch wird der Satzakzent determiniert?
  6. Betrachten Sie anhand eines Beispielpaars wie benebelnbenedeien die Alternative, den Wortakzent entweder in der lexikalischen Repräsentation zu spezifizieren oder durch phonologische Regel abzuleiten.
    (2 P.) Wie sehen die lexikalischen Repräsentationen der beiden Wörter in den beiden Fällen aus?
    (2 P.) Welche phonetische Information läßt sich in den beiden Fällen durch Regel ableiten?
  7. (2 P.) Identifizieren Sie die Klitika in dem Satz Sie hat es eben vergessen (die Unterstreichung symbolisiert Satzakzent).
  8. (2 P.) Was ist in phonetischer Hinsicht der Unterschied zwischen Satzintonation und Satzakzent?

15.7. Literatur

Clark & Yallop 1995, ch. 9.



1 Das lateinische Wort Akzent ist eine Lehnübersetzung des griechischen Prosodie und hat also dieselbe wörtliche Bedeutung wie dieses.

2 Für ‘Akzent’ könnte man im Prinzip auch Betonung sagen. Dieses Wort ist allerdings, hauptsächlich von Deutschlehrern und solchen, die bei ihnen lernen, schon auf die Bedeutung "unerklärliche Bedeutungsnuance" festgelegt. Zum Ausdruck intellektueller Hilfslosigkeit stehen freilich kommunikativ effizientere Möglichkeiten zur Verfügung, etwa "ich weiß nicht, worin der Bedeutungsunterschied besteht". Dann könnte das Wort Betonung wieder für den Begriff ‘Akzent’ frei werden.

3 Ein weiteres Homonym ist der Akzent, der die Muttersprache beim Sprechen einer Fremdsprache (oder einer anderen Sprachvarietät) verrät.

4 Es gibt zu diesen Wörtern akzentuierte Gegenstücke, die mit den hier gemeinten homonym sind [sie sind eigentlich nicht einmal homophon, da sie sich ja durch den Akzent unterscheiden].

5 aus Li & Thompson 1987, Kap. 2.1

6 Die Argumentationsfigur gilt im Prinzip für alle sprachlichen Eigenschaften. Allerdings ist es theoretisch möglich, daß eine Sprache von der Ausprägung X einer bestimmten Eigenschaft sich zur Ausprägung Y wandeln kann, jedoch kein Weg zu X zurückführt. Das hieße dann, daß die Sprachen, die X aufweisen, eine Eigenschaft der menschlichen Ursprache bewahrt haben. Sonderlich wahrscheinlich ist diese theoretische Möglichkeit nicht, denn auch die menschliche Ursprache muß die Eigenschaft irgendwie erworben haben; und folglich sollten menschliche Sprachen sie erwerben können.

7 Stimmqualität und Zustand des Vokaltrakts sind teilweise für Personen charakteristisch. In dem Maße, in dem sie variieren können, geben sie besonders Emotion und Einstellung wieder (vgl. Kap. 4.3).

8 Es ist an zweierlei zu erinnern: Erstens, viele Eigenschaften, die in einer Sprache phonemisch sind, in einer anderen jedoch nicht, können in der letzteren nichtsdestoweniger auch phonetisch vorkommen. Z.B. hat im Deutschen selbstverständlich jede Silbe einen phonetischen Ton (das ist ganz unvermeidlich); er wird halt nur im Sprachsystem nicht genutzt. Zweitens haben phonemische Töne ganz ebenso wie segmentale Phoneme auch allophonische Varianten. D.h. eine Tonsprache hat mehr phonetische als phonemische Töne. Für Linguisten, die nicht Sprecher einer Tonsprache sind, ist es oft ziemlich schwierig festzustellen, welche von der Vielfalt von phonetischen Tönen in einer Sprache phonemisch sind.