13. Entwicklung zum Kastilischen

13.1. Situation der Sprache

Kastilisch ist ursprünglich ein um Burgos zentrierter nordspanischer (überwiegend kantabrischer) Dialekt, der phonologisch stark neuert. Da die Kastilier in der Reconquista führend waren, setzte sich seit Mitte des 11. Jh. das Kastilische gegenüber den anderen iberoromanischen Varianten durch. Insbesondere ist es in Zentralspanien sekundär.

Mehrere der kastilischen Neuerungen im 10. und 11. Jh. gehen von Burgos aus. Sowie ab 1035 (Ferdinand I.) Kastilien seine Macht ausdehnt, absorbiert Kastilisch einerseits Leonesisch-Asturisch und andererseits Aragonesisch weitgehend und macht erst vor Galizisch-Portugiesisch einerseits und Katalanisch andererseits Halt. Leonesisch hat ursprünglich zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Galizisch bewahrt, wird ab dem 13. Jh. jedoch total vom Kastilischen überlagert.

In dem Maße, in dem das Kastilische dominiert, spaltet sich die ursprüngliche iberoromanische Einheit der Halbinsel.- Einige der kastilischen Eigenheiten (Fünfvokalsystem, Fusion stimmhafter in stimmlose Obstruenten) sind wohl vom Baskischen beeinflußt.

Im 19. Jh. gibt es autoritäre zentralistische Gesetze, die Kastilisch in ganz Spanien gegen die "hablas minoritarias", will sagen: Galizisch, Katalanisch und Baskisch, in allen Lebensbereichen, insbesondere in den Schulen, durchdrücken sollen. So auch im 20. Jh. unter Primo de Rivera und Franco.


13.2. Konsonanten

13.2.1. Frikativierung von /ʎ/

Evtl. schon im 10. Jh. [?] wird /ʎ/ > /ʒ ~ ʤ/; die letztere Variante schwindet später.

Portug. Altkastil. Bedeutung
filhofijoSohn
mulhermuger1Frau
1 Der Cid hat mugier.

13.2.2. Inversion und Frikativierung von /jt/

Die gemäß Kap. 12 entstandene Gruppe /jt/ wird invertiert und auf eine Affrikata reduziert:

Port. Span.Bedeutung
feitohecho3gemacht
leitelecheMilch
peitopechoBrust
ditodichogesagt
noitenocheNacht
oitoochoacht
frutofrutoFrucht

13.2.3. /f/ /h/

Außer vor /w/ hat sich kein ererbtes /f/ im Kastilischen gehalten. Die ersten Anzeichen eines Wandels von /f/ zu [h] treten in Kastilien bereits im 11. Jh. auf. Im 16. Jh. ist der Wandel abgeschlossen. Don Quijote spricht noch um 1600 fermosa doncella, in Anlehnung an die Ritterromane und zur Erheiterung seiner Zuhörer.

Die Glottalisierung des Labials ist innerhalb der Iberoromania eine Sonderentwicklung des Kastilischen; auch Aragonesisch hat fabla = kastil. habla. Kommt allerdings auch im Gaskognischen und in Gegenden von Sardinien und Kalabrien vor. In Iberien ist baskischer Substrateinfluß denkbar, da Baskisch kein /f/ hat.

Durch die stete Interaktion mit Latein als Adstrat wurden Wandel wie dieser unregelmäßig durchgeführt. Vgl. z.B. humo vs. fumar.

Seit dem 16. Jh. geht im Kastilischen das (soeben erst aus /f/ entstandene) /h/ verloren. Die sonst nicht sehr konservative Orthographie des modernen Spanischen schreibt sowohl dieses als auch das zuletzt im klassischen Latein in Wörtern wie hora vorhanden gewesene /h/.


13.2.4. Verstimmlosung der Sibilanten

Um 1600 werden alle Sibilanten einschließlich der Affrikaten stimmlos, wodurch die ehemalige Opposition zwischen stimmlosen und stimmhaften dephonologisiert wird. Abgesehen von denjenigen Frikativen, welche Allophone von Okklusiven sind, überleben die stimmhaften Frikative nur in bestimmten Kontexten als Allophone der stimmlosen.

Die folgende Tabelle zeigt einige Beispiele des Wandels. Portugiesisch ist zum Vergleich angegeben als eine Sprache, die diese Oppositionen - wenn auch teilweise mit eigenen Fusionen - bewahrt hat.

UrsprungPortugies.Altkastil. Mittelkastil.Resultat
smatasse matassematases
zcasacasacasa
ʃdissedixedijeʃ
ʒfilho fijo/hillohijo
ʦcaçacaçacaza θ
ʣdizerdezirdecir

In dem Quadrat
stimmhafter Okklusivstimmhafter Okklusiv
stimmloser Frikativstimmhafter Frikativ
ist der stimmhafte Frikativ das am meisten markierte Oppositionsglied. Die Markiertheitstheorie hätte daher (mit Brøndal) vorausgesagt, daß wenn eine der vier Teilklassen schwindet, dann die stimmhaften Frikative.

Der Wandel der Affrikaten nach [θ] geht über eine alveolar-frikative Zwischenstufe []. Dessen Opposition zum gewöhnlichen [s] war schwach. Der Übergang von [] nach [θ] im Hochkastilischen - seit zweite Hälfte 16. Jh., in der ersten Hälfte des 17. Jh. vollzogen - erhält die Opposition. In anderen Dialekten wird sie zugunsten von /s/ aufgegeben.


13.2.5. Velarisierung

/ʃ/ wird vom 16. Jh. an velarisiert, d.h. zu /x ~ χ/. Nebrija 1492 z.B. schreibt diximus (i.e. [di'ʃimos]) statt des späteren dijimos.

Die Stimmhaftigkeitsopposition war schon geschwunden; daher enthält die folgende Tabelle portugiesische Gegenstücke mit /ʃ/ und mit /ʒ/.

PortugiesischSpanisch
XerezJerez
deixardejar
frouxoflojo
laranjanaranja

Die folgende Tabelle zeigt denselben Wandel für solche /ʒ/, die aus /ʎ/ entstanden waren (s.o.).

PortugiesischSpanisch
olhoojo
molharmojar
velhoviejo
mulhermujer
alhoajo
filhohijo
espelhoespejo

Während des 16. Jh. herrscht Variation [ʃ ~ x]. Seit Beginn des 17. Jh. bleibt [x ~ χ] als Realisierung des Phonems.


13.2.6. Degemination und Palatalisierung

/ll/

LateinSpanischPortugiesisch Bedeutung
stellaestrellaestelaStern
villavillavilaVilla

/nn/:

LateinSpanisch PortugiesischBedeutung
annoañoanoJahr
damnum > dannodañodanoSchaden
ingannareengañarenganar betrügen
autumnus > otunnootoñooutuno Herbst

13.2.7. Epenthese

Latein Ur-Ibero-
Romanisch
PortugiesischAltspan. Spanisch
 Synkope  Dissimilation    Epenthese
homine omne2 homemomrehombre
nōminenomne nomenomrenombre
consuetudinecostumne costumecostumrecostumbre
culminecumne cumecumrecumbre
fēminafemna fêmeafemrahembra
(h)umeroomro ombrohomrohombro

2 So noch Cid.

13.2.8. Transposition

Transposition ist die Versetzung eines Segments auf der syntagmatischen Achse. Häufig ist die Transposition einer Liquida über einen Vokal oder einen Konsonanten hinweg.

Die letzten vier Beispiele zeigen altspanische Transpositionen, die im Mittelspanischen wieder rückgängig gemacht wurden. Das letzte Beispiel ist das einzige, wo eine Nicht-Liquida - aber immer noch ein Sonorant - transponiert wird.

Irgendeine unregelmäßige Transposition liegt vor in:

lat.altspan.span.port. Bedeutung
viduabibdaviudaviúvaWitwe

13.2.9. Metathese

Metathese ist der Austausch zweier Segmente derselben Klasse auf der syntagmatischen Achse. Im allgemeinen haben die beiden Segmente analoge Positionen in benachbarten Silben. Die folgende Tabelle zeigt einige iberoromanische Beispiele.

Aus der Tabelle gehen zwei Beobachtungen hervor:

Beides zeigt, daß Metathese nicht, wie die meisten anderen phonologischen Prozesse, ein regelmäßiger, d.h. alle Wörter, welche die phonologischen Bedingungen erfüllen, erfassender Prozeß ist.

In der Literatur wird Transposition oft nicht von Metathese unterschieden. Tatsächlich kann man einen Prozeß, wo A und B die Plätze tauschen, von einem Prozeß, wo A B überspringt, nicht unterscheiden, wenn A und B adjazent sind. Daher spricht man statt von Metathese und Transposition auch gelegentlich von Fernmetathese und Kontaktmetathese. Immerhin ist festzustellen, daß die Metathese i.e.S. ausschließlich zwei Liquiden involviert, während die Transposition jedenfalls einen Obstruenten involviert sowie in den obigen Beispielen eine Liquida. Weiter oben sahen auch einen Halbvokal, der einen Obstruenten überspringt. Diese Unterschiede in den betroffenen Lautklassen sprechen dafür, daß Metathese und Transposition Prozesse verschiedener Natur sind.


13.2.10. Dissimilation

LateinPortugiesischSpanisch Bedeutung
arboreárvoreárbolBaum
sanguinesanguesangreBlut

sangre ist vielleicht auch Epenthese.


13.2.11. Reduktion von intervokalischem [ð] im modernen europäischen Spanisch

(nach Lloyd 1987:23)

Im Suffix des Partizips Passiv -ado wird das [ð] nur in formaler Rede beibehalten ([aðo]). Im Umgangsstil wird es immer elidiert: [ao] oder sogar [aw].

In Substantiven passiert das normalerweise nicht. Daher:
[estao] "gewesen" vs. [estaðo] "Staat".

Aber es gibt Ausnahmen. Z.B. lautet es immer [lao] "Seite".

Zwischen anderen Vokalen als [a_o] gibt es regionale Variation. In Andalusien schwindet das [ð]. Im Norden der Halbinsel gilt dies als Substandard, und das [ð] bleibt.

In illiteraten Zeiten würde das Endergebnis wohl der Totalverlust von intervokalischem [ð] sein; aber da jeder die Schreibung kennt, ist die Restauration immer möglich.

13.3. Vokale

13.3.1. Diphthongierung

Die Diphthongierung 'ɔ -> ue, ɛ -> ie' kommt bereits im Altertum unsystematisch in verschiedenen Regionen urromanischer Sprache vor. Zum systematischen Lautwandel wird sie erst ab 900 im Kastilischen. Von da ausgehend verbreitet sie sich einerseits nach León und andererseits nach Aragón, erfaßt jedoch Galizisch-Portugiesisch und Katalanisch nicht.

LateinKatalan.Portugies.Kastil. Bedeutung
bonobombuenogut
proboprovopruebobeweisen
locologoluegogleich
voltavoltavoltavueltaWendung
cordacordacordacuerdaSchnur
ovoovoovohuevoEi
tenestenstieneshältst
tempustempotiempoZeit
pedepieFuß

Die Diphthongierung kann durch folgende Regel beschrieben werden:

[+ vokal ]
[- kons ]
[- hoch ]
[- tief ]
-> [+ hoch ]
[α vorn]
[+ vorn] / [ _____ ]
[+ akzent]
[lexikal. Stamm]
[α vorn]
[- hoch]

In Aragón und León geht die Entwicklung teilweise noch weiter, findet nämlich auch vor Palatal statt, wo sie im Kastilischen blockiert ist:

Kastil.Aragón/LeónBedeutung
ojouelloAuge
nochenueiteNacht

Andererseits hat Aragonesisch corda, volta wie Katalanisch.




3 Altkastil. fecho