Der Grundsatz der Arbitrarietät des Sprachzeichens besagt folgendes:
Die Assoziation eines gegebenen Significans mit einem gegebenen Significatum ist durch keine allgemeinen Gesetze motiviert.
Das einzige, was Significans und Significatum eines Zeichens zusammenhält, ist also eine in der Sprachgemeinschaft gültige Konvention.
Z.B. ist das Significatum “sechster Wochentag” im West- und Süddeutschen mit dem Significans Samstag, im Nord- und Ostdeutschen dagegen mit dem Significans Sonnabend verbunden. Beide Assoziationen sind gleich gut und gleich unmotiviert; sie entsprechen unterschiedlichen Konventionen in den beiden Sprachgemeinschaften.
Der Grundsatz ist in der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie seit Platons Dialog Kratylos bekannt und umstritten. Er wurde von F. de Saussure (1916) in einer ziemlich extremen Version kodifiziert und daher oft ihm zugeschrieben.
Der Grundsatz ist in verschiedener Hinsicht einzuschränken:
- ‘Arbiträr’ bedeutet wörtlich ‘beliebig’. Aber es ist natürlich nicht gemeint, daß die Assoziation im Belieben des einzelnen Sprechers stünde. Er muß sich im Gegenteil an die erwähnte Konvention halten. Der Begriff der Arbitrarietät ist also mit dem der Konventionalität verträglich; sein polarer Gegensatz ist die Motivation bzw. Motiviertheit.
- Er betrifft nur Significans und Significatum von Morphemen. Komplexe Zeichen weisen eine innere Struktur auf, die einem im System verankerten Muster entspricht und die ihre Bestandteile in mehr oder minder regelhaften Bezug zum Ganzen setzt (s. zur Kompositionalität). Sie sind daher sowohl durch diese Bestandteile als auch durch das Strukturmuster motiviert. Dies betrifft sowohl komplexe Stämme wie Regenwurm, Bandwurm und Regenschirm als auch, erst recht, syntaktische Konstruktionen. Solche Zeichen sind relativ motiviert. Dies bedeutet nicht, daß sie ziemlich motiviert sind, sondern daß sie mit Bezug auf ihre Bestandteile und das Bildungsmuster motiviert sind. (Beispiele wie Samstag und Sonnabend widersprechen dem partiell und zeigen, daß auch komplexe Zeichen zu einem hohen Grade arbiträr sein können.)
- Erst recht motiviert sind die syntagmatischen und paradigmatischen Strukturen, die die Einheiten einer Sprache zueinander in Beziehung setzen. Über diesen walten sogar universale Gesetze.
- Auch auf der Ebene der monomorphematischen Zeichen herrscht zu einem gewissen Grade Motivation. Das Significans entspricht dem Significatum quantitativ, es entsprechen sich also – mindestens statistisch – phonologische und semantische Komplexität. Sie entsprechen sich vielfach auch qualitativ, nämlich in der Onomatopöie und Lautsymbolik.
- Die Geltung des Grundsatzes ist methodisch nicht leicht zu operationalisieren. Es ist nicht in der Weise möglich, daß man feststellt, daß zu einem gegebenen Significatum die Significantia zwischen den Sprachen variieren. Denn das Significatum ist selbst eine durch die Gesamtheit ihrer Relationen abgegrenzte Einheit der ‘langue’; es gibt keine Significata außerhalb einer Sprache bzw. mehreren Sprachen gemeinsame Significata. ‘Tisch’ z.B. heißt auf Englisch table und auf Deutsch Tisch. Das beweist aber, streng genommen, nichts für die Arbitrarietät, weil die beiden Wörter gar nicht dasselbe Significatum haben. Z.B. bedeutet table u.a. “Tabelle”, während Tisch dies nicht bedeutet.
Daher muß das Prinzip der Arbitrarietät des Sprachzeichens weitgehend ersetzt werden durch folgendes Prinzip:
Die Assoziation von Significans und Significatum von Morphemen wird in jeder einzelnen historischen Sprache [d.h. langue] vorgenommen.
Insgesamt herrscht in der Sprache Motivation vor, die eine außereinzelsprachliche Basis hat. Die Basis kann in der Natur der menschlichen Sprache oder in außersprachlichen Voraussetzungen oder Zwecken liegen. Es bleibt vergleichsweise wenig in der Sprache, was nicht motiviert ist und was deshalb die Sprachgemeinschaft durch Konvention festsetzen muß. Dieser arbiträre Bereich, dessen Kern wiederum die Assoziation von Significans und Significatum von Morphemen ist, macht die historische Identität einer Sprache aus. Er spielt daher dort, wo die historische Identität und die historischen Beziehungen einer Sprache erforscht werden, eine zentrale methodische Rolle. Mehr dazu s.v. historisch-vergleichende Methode.
Der Terminus lautet übrigens fast überall Arbitrarität. Dies ist allerdings eine irreguläre Behandlung eines lateinischen Fremdworts. Lat. bonitas ergibt dt. Bonität; aber lat. varietas ergibt dt. Varietät und lat. pietas ergibt dt. Pietät; daher ergibt lat. arbitrarietas dt. Arbitrarietät (und übrigens selbstverständlich im Spanischen arbitrariedad, und dito in den anderen vom Latein abstammenden Sprachen).