Gegenstand der folgenden Ausführungen ist der Einfluß der generativen Grammatik auf die Sprachwissenschaft. Dies bezieht sich zuvörderst auf die diversen Ausprägungen, die Noam Chomsky ihr im Laufe der Jahrzehnte verliehen hat. Diese sind in ihrer Gesamtheit überwiegend negativ zu beurteilen. Einige Richtungen, die sich von seinem Modell abgespalten haben oder lediglich in mancher Beziehung von ihm inspiriert sind – z.B. gerade soweit, daß sie auch das Attribut ‘generativ’ für sich beanspruchen – sind zum Teil positiver zu beurteilen; um solche geht es hier jedoch nicht. Im folgenden sind die wichtigsten Gesichtspunkte genannt.
Chomsky rezensierte 1959 ein Hauptwerk eines prominenten Vertreters des Behaviorismus in vernichtender Weise und trug damit wesentlich zum Ende dieser wissenschaftlichen Strömung in den USA bei. Dagegen setzte er den Mentalismus. In der us-amerikanischen Linguistik waren beide Strömungen bereits etabliert, der Mentalismus vor allem durch E. Sapir, der Behaviorismus durch L. Bloomfield. Chomsky wirft dem Behaviorismus sture Methodenorientierung bei gleichzeitiger Theorielosigkeit vor.
Die Theorie, die Chomsky dagegen setzt, hat allerdings mit dem bis dahin bekannten Mentalismus nicht viel zu tun. Chomsky vertritt im Gegenteil eben das positivistische, naturwissenschaftliche Wissenschaftsverständnis, das gerade den Behaviorismus charakterisiert. Linguistik ist für ihn eine Naturwissenschaft; sie untersucht das für Sprache zuständige Organ, nämlich den “language acquisition device”, ganz ebenso, wie die Biologie das fürs Sehen zuständige Organ, eben das Auge, untersucht.
Chomsky, Noam 1959, "A review of B.F. Skinner's Verbal Behaviour." Language 35:26-58
Chomsky weist der Syntax eine zentrale Stellung in der Theorie einer Sprache zu. Damit fokussiert er auf diejenige Komponente des Sprachsystems, die - neben der Phonologie - noch am ehesten einer Formalisierung zugänglich ist. Das Wesen menschlicher Sprache ist jedoch Verständigung zwischen Menschen, mithin die Verbindung von Kognition mit Kommunikation. Hier geht es wesentlich um die gemeinsame Erzeugung von Sinn. Zu der Frage, wie dies funktioniert, tragen Chomsky Theorien sehr wenig bei. Sie beschränken sich auf die syntaktische Struktur, welche die Sinn tragenden Ausdrücke aufweisen.
Zu den Grundbegriffen und Postulaten der generativen Grammatik zählen die folgenden:
Diese Postulate sind kontrafaktisch, bzw. die Begriffe haben kein Gegenstück in der Empirie:
Die generative Grammatik hat einen formalen, deduktiven Ansatz. Einerseits ist jedoch das, was da deduktiv formalisiert wird, nur ein kleiner, noch dazu i.w. isoliert betrachteter Ausschnitt der Sprache (s.o.); d.h. die theoretische Basis reicht nicht zu. Andererseits gibt es keine Methodik, weder im Dienste der Heuristik, d.h. zur Aufnahme, Analyse und Beschreibung von Sprachdaten, noch im Dienste der Kontrolle der Theorie durch empirische Arbeit, d.h. zur Falsifikation von deduzierten Thesen. Die Forschung ist also nicht methodisch abgesichert. Das Modell leistet keinen Beitrag zur linguistischen Methodologie und Methodik.
Während die oberste Aufgabe der Linguistik so wie jeglicher Wissenschaft die Ausarbeitung einer Theorie ihres Gegenstandes ist, gilt dies doch keinesfalls absolut in dem Sinne, daß sie nur dieses tun könnte oder sollte. Vielmehr wird sie sowohl dieser ihrer obersten Aufgabe als auch erst recht ihren Pflichten für die soziale Gemeinschaft nur dann gerecht, wenn sie gleichzeitig die Theorie für die Verbesserung der Conditio Humana fruchtbar macht. Dazu gehört im Falle der Sprachwissenschaft wesentlich die Beschreibung bestehender Sprachen. Jegliche Strömung der Linguistik muß sich daher der Frage stellen, was sie zu dieser Aufgabe beiträgt.
Die theoretischen Versuche Chomskys haben vielen Linguisten den Eindruck vermittelt, als lege er eine umfassende Theorie menschlicher Sprache vor. Z.B. heißt es in dem Text, mit dem ein Buchversand 2007 für Chomskys Syntactic structures wirbt:
Noam Chomsky's first book on syntactic structures is one of the first serious attempts on the part of a linguist to construct within the tradition of scientific theory-construction a comprehensive theory of language which may be understood in the same sense that a chemical, biological theory is understood by experts in those fields.
Erst recht haben Chomskys spätere Arbeiten, vor allem Aspects of the theory of syntax, mit ihren grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Einlassungen einerseits und ihrer Einbeziehung des Sprachvermögens, des Erstspracherwerbs und vieler anderer Aspekte von Sprache andererseits diesen Eindruck verstärkt.
Es gibt zwar zu Anfang des 3. Jt. zahlreiche Bücher, die eine Sprache umfassend – d.h. in allen ihren Aspekten (natürlich nicht alle Details erschöpfend) – beschreiben, darunter jedoch keine einzige Publikation in einem generativen Rahmen. Angesichts der Tatsache, daß das generative Modell in Wahrheit kein umfassendes Modell der menschlichen Sprache ist, ist dies auch nicht anders zu erwarten.
Erst in seinen Publikationen seit Mitte der 1980er Jahre wies Chomsky klarer darauf hin, daß sein Interesse nicht der Sprache gilt, sondern einem Konstrukt, das er verschiedentlich ‘i-language’, ‘knowledge of language’ o.ä. nennt und welches den Gebrauch von Sprache jedenfalls ausschließt. Somit wäre daraufhin zu fragen, ob es Publikationen gibt, die diesen Gegenstand in bezug auf eine bestehende Sprache beschreiben.
Es gibt zwar – überwiegend aus den späten 1960er Jahren – eine Reihe von Büchern, die Ausdrücke wie A generative grammar of the X language im Titel tragen, wo X z.B. Afar oder Spanisch ist. Ferner gibt es umfassende grammatische Beschreibungen von ein paar Sprachen – u.a. Deutsch (Heidolph et al. 1981) –, die dem generativen Modell verpflichtet sind. Es gibt jedoch keine umfassende Grammatik einer Sprache, die im Sinne Chomskys formalisiert wäre. Alle hier einschlägigen Publikationen sind entweder partiell, d.h. einem “Segment” der Gramatik gewidmet, oder nicht formal.
Fazit: Das Modell hat zur Erzeugung von Sprachbeschreibungen soviel wie nichts beigetragen.
Das Modell der generativen Grammatik – in seinen diversen von Chomsky geprägten Varianten – hat, in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, in einem Punkte die Wissenschaft marginal vorangebracht, nämlich was die grammatiktheoretischen Voraussetzungen präziser grammatischer und phonologischer Beschreibungen betrifft. In allen anderen Hinsichten:
in allen diesen Hinsichten hat das Modell versagt und die Sprachwissenschaft in ihrer Entwicklung zurückgeworfen.