Georg von der Gabelentz
Eine kurze, an allgemeines Publikum adressierte Würdigung der Sprachwissenschaftler der Familie von der Gabelentz findet sich hier.
Zeit | Ort | Ereignis |
13.10.1807 | Altenburg, Thüringen | geboren als Sproß eines sächsischen Uradelsgeschlechts. |
Jurastudium (hat nie Sprachwissenschaft studiert). | ||
1832 | Éléments de la grammaire mandchoue. | |
1848 | Altenburg | altenburgischer Staatsminister. |
1849 | Abschied aus dem Staatsdienst, um sich der Sprachwissenschaft widmen zu können; ist allerdings bis 1870 fast ununterbrochen Landtagspräsident. | |
1860 | Lemnitz | "Das Passivum" [in 209 Sprachen]. |
3.9.1874 | Lemnitz | gestorben |
Hans Conon von der Gabelentz kannte über 80 Sprachen; er war einer der hervorragendsten Sprachenkenner seiner Zeit. Zudem war er begeisterter Humboldtianer. Er hat die meiste Zeit auf seinem Herrenhaus (“Schloß”) in Lemnitz bei Triptis, Ostthüringen verbracht.
Zeit | Ort | Ereignis | ||
16.3.1840 | Poschwitz bei Altenburg, Thüringen | Hans Georg Conon von der Gabelentz geboren als zweiter Sohn des Hans Conon von der Gabelentz. | ||
Lemnitz | Ausbildung zunächst im Elternhause, vor allem durch seinen Vater. | |||
1855-59 | Gymnasium; liest chinesische und andere Grammatiken. | |||
1859-63 | Jena | Studium von Jura, Kameralistik und Sprachwissenschaft. | ||
1863f | Leipzig | Studium | ||
1864-78 | Dresden | als Verwaltungsjurist im sächsischen Staatsdienst | ||
1872 | verheiratet mit Alexandra von Rothkirch. | |||
1876 | Leipzig | Promotion mit einer sinologischen Arbeit. | ||
1878 | Leipzig | als außerordentlicher Professor berufen auf den neuen Lehrstuhl für ostasiatische Sprachen, den ersten dieser Art in Deutschland. | ||
1881 | Leipzig | Chinesische Grammatik | ||
1884-1890 | Mitherausgeber von F. Techmers Internationale Zeitschrift für Allgemeine Sprachwissenschaft | |||
1889 | Ehescheidung. | |||
1889 | Berlin | ordentlicher Professor für ostasiatische Sprachen und allgemeine Sprachwissenschaft. | ||
1890 | Berlin | Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften | ||
1891 | verheiratet mit Gertrud verw. von Adelebsen. | |||
1891 | Leipzig | Die Sprachwissenschaft | ||
11.12.1893 | Lemnitz | gestorben |
Georg v.d. Gabelentz war wie sein Vater überzeugter Humboldtianer, was jedoch damals nicht mehr zeitgemäß war. Er beherrschte viele Sprachen und befaßte sich bereits in der Schulzeit mit Linguistik. Mit 20 Jahren publizierte er seinen ersten linguistischen Aufsatz. Er befand sich, als Orientalist und allgemeiner Sprachwissenschaftler, zeitlebens in gespanntem Verhältnis zu den Indogermanisten, deren Erfolge er zwar anerkannte, denen er aber Beschränktheit vorwarf.
Führt (1869) die Begriffe ‘psychologisches Subjekt’ und ‘psychologisches Prädikat’ i.S.v. ‘Topic vs. Comment’ in die Linguistik ein; s.u.
Führt (1878 und dann 1881 in seiner chinesischen Grammatik) die Anordung der Grammatik in analytischem und synthetischem System ein, s.u.
Bahnbrechende Arbeiten über ostasiatische Sprachen, besonders über die genetische Klassifikation der austronesischen Sprachen.
Gabelentz nahm (ebenso wie sein Vorbild Humboldt) die “verbundene Rede” und somit die Syntax sehr wichtig. Schon seine frühesten Arbeiten sind der Syntax gewidmet. Er war ein hervorragender Syntaktiker. Z.B. analysiert er (1891:448 = 1901:467) die Syntax von Komplementsätzen im Englischen und Chinesischen und erkennt, daß die Versetzung des Subjekts in den Genitiv (Typ Linda's singing annoyed me) ein Nominalisierungsphänomen ist.
Die Sprachwissenschaft wurde 1901 überarbeitet, ergänzt und in zweiter Auflage publiziert von seinem Neffen Albrecht Graf von der Schulenburg.
Kurz vor seinem Tode schickt Gabelentz seinen Aufsatz “Typologie der Sprachen” zur Publikation an die Indogermanischen Forschungen. Das war das offizielle Organ der Junggrammatiker, denen er mit diesem Artikel Konkurrenz machen wollte. Er kann die Druckfahnen nicht mehr korrekturlesen, so daß die Herausgeber den Aufsatz unter dem Titel “Hypologie” drucken können.
Das Werk ist als umfassende Einführung in alle Sparten der Sprachwissenschaft angelegt. Es wendet sich an den Anfänger. Es setzt zwar Kenntnis der Schulsprachen des Gymnasiums des 19. Jh. voraus, ist im übrigen aber leicht zu verstehen. Der Stil ist insgesamt sehr blumig, folgende Passage ist durchaus repräsentativ:
“Wir leben in einem Zeitalter der Entdeckungen, und wer an den neuen Errungenschaften seiner Wissenschaft teilnehmen will und kann, sitzt stets vor vollbesetzter Tafel; die Bedienung ist fast zu prompt: noch hat er den Fisch auf der Gabel, da wird auch schon der Braten aufgetragen! Nicht Hunger hat er zu fürchten, sondern Übersättigung. Solche Zeiten sind für die Gewinnung allgemeiner Anschauungen nicht günstig: man fragt einander öfter: Hast Du davon erfahren? als man fragt: Was denkst Du darüber, wie fügst Du es ins Ganze ein?”Präzision und Systematizität leiden darunter gelegentlich; dafür ist das Werk reich an originellen Ideen.
Buch | Titel (Inhalt) | Kapitel / Teil | Inhalt |
---|---|---|---|
1 | Allgemeiner Theil (Methodologie der Sprachwissenschaft) | Begriff, Aufgaben, Stellung und Geschichte der SW, Ausbildung des Linguisten. | |
2 | Einzelsprachliche Forschung (deskriptive Linguistik) |
I-V | Dialekte, synchrones Bewußtsein, Sprachbeherrschung, primäre und sekundäre
Spracherlernung; Methodik der Datenaufnahme und |
VI | Sprachbeschreibung: synthetisches vs. analytisches System. Grammatik: Vorbereitung, Analyse, Arten von Grammatiken. Wörterbuch. Schrift. | ||
3 | Genealogisch-historische
Sprachforschung (histor.-vergl. Sprachwissenschaft) |
Einführung, 1. Teil |
Gegenstand: Geschichte der Einzelsprache. Aufgabe: Erklärung. Äußere Sprachgeschichte. Sprachgenealogie; Methodik des Verwandschaftsnachweises. |
2. Teil, 1. Hs. - 2. Hs., §4 | innere Sprachgeschichte; Gegenstand, Aufgaben, Methoden. Faktoren des Sprachwandels. Lautwandel, Artikulation, Onomatopöie. | ||
2. Teil, 2. Hs., §5-13 | Analogie, Reanalyse, Volksetymologie, Lautsymbolik, Phraseologie, Bedeutungswandel. | ||
2. Teil, 2. Hs., §14-29 | Agglutinationstheorie. Sprachmischung: Entlehnung, Dialekte, Soziolekte. | ||
4 | Allgemeine Sprachwissenschaft | I - III, II, §3 | Aufgaben. Menschliche Sprachfähigkeit. Rede: Satztypen, Äußerungstypen. Stoff vs. Form. Innere Form. |
III, II, §4 - VIII | Äußere Form: morphologische Struktur. Wortstellung, Betonung, Modulation, Wortarten, Subjekt vs. Prädikat, grammatisches System. | ||
IV, 1-18 | Sprachbeurteilung: Verhältnis Sprache vs. Volksgeist, Grundlagen der Bewertung, Kriterien. | ||
IV, I-VIII | Grammatische und lexikalische Kategorien. Sprachschilderung, allgemeine Grammatik. |
S. 3 wird folgende begriffliche Unterscheidung eingeführt:
Die Unterscheidung im Gegenstandsbereich begründet eine entsprechende Unterscheidung zwischen drei linguistischen Disziplinen, die sich diesen Gegenständen widmen:
1. Einzelsprachliche Forschung:
“Der Gegenstand der einzelsprachlichen Forschung, die Erscheinung, die sie erklären will, ist ... die Sprache als Äußerung, das heißt die Rede. Wie kommt in der zu bearbeitenden Einzelsprache die Rede zustande, und warum gestaltet sie sich gerade so? Eine Äußerung erklären heißt, die ihr zugrundeliegenden Kräfte nachweisen. Die Rede ist eine Äußerung des einzelnen Menschen, die sie erzeugende Kraft gehört also zunächst dem Einzelnen an. Aber die Rede will verstanden sein, und sie kann nur verstanden werden, wenn die Kraft, der sie entströmt, auch in dem Hörer wirkt. Diese Kraft - ein Apparat von Stoffen und Formen - ist eben die Einzelsprache. Sie richtig beschreiben, heißt ihre Äußerungen erklären. Mehr soll und will die einzelsprachliche Forschung als solche nicht.” (S. 59)
“Die Einzelsprache ist ein Vermögen, das aus seinen Äußerungen begriffen, in diesen nachgewiesen werden will. Diese Aufgabe setzt sich die einzelsprachliche Forschung, und sie darf innerhalb ihres Kreises jenes Vermögen als ein sich im wesentlichen gleichbleibendes behandeln. ... Dieses Vermögen also soll der Einzelsprachforscher erkennen, beschreiben und aus ihm heraus soll er die Äußerungen der Einzelsprache erklären.” (S. 139)
Die so konzipierte einzelsprachliche Forschung ist also synchrone deskriptive Linguistik.
2. Sprachgeschichte:
“Tatsächlich ist nun aber jenes Vermögen ein gewordenes und immer weiter werdendes, sich veränderndes und verschiebendes, und auch das will erklärt werden: Durch welche Veränderungen ist die Sprache zu ihrem jeweiligen Zustande gelangt? Womöglich auch - wenn die Frage nicht in alle Zukunft unbeantwortet bleibt: warum ist die Sprache gerade so geworden und nicht anders? Auf alles dies kann die Einzelsprachforschung von ihrem Standpunkte aus und mit ihren Mitteln keine Antwort geben; hier stehen wir auf dem Gebiete der Sprachgeschichte.” (S. 139)
3. Allgemeine Sprachwissenschaft
“Diese Wissenschaft hat das menschliche Sprachvermögen selbst zum Gegenstande. Sie will dies Vermögen begreifen, nicht nur in Rücksicht auf die geistleiblichen Kräfte und Anlagen, aus denen es sich zusammensetzt, sondern auch, soweit dies erreichbar ist, in dem ganzen Umfange seiner Entfaltungen.” (S. 302)
4. Die drei Disziplinen werden zusammenfassend wie folgt einander gegenübergestellt:
“Der Gegenstand der einzelsprachlichen Forschung ist die Sprache als Rede: die soll aus dem nationalen Sprachvermögen erklärt werden, nachdem dieses induktiv aus ihr ermittelt worden ist. Sie hat nicht den Ursprung dieses Vermögens zu erklären - das ist Sache der allgemeinen Sprachwissenschaft - auch nicht dessen zeitliche Wandelungen zu verfolgen - das gehört der Sprachgeschichte an - , sondern sie soll dies Vermögen, wie es jeweilig ist, entdecken, beschreiben und bis in die letzten seiner Windungen hinein verfolgen.” (S. 76)Der hohe Erläuterungsaufwand ist offensichtlich dadurch motiviert, daß neben der übermächtigen historischen Sprachwissenschaft die anderen beiden Disziplinen in der Linguistik nicht etabliert waren und daß insbesondere die erste nicht einmal für nötig gehalten wurde.
Die orthogonalen Perspektiven der deskriptiven und der historischen Sprachwissenschaft sind zwar nicht mit den heutigen Termini benannt, aber in folgendem Passus klar eingeführt:
“Die Tatsachen, die sie [die deskriptive Sprachwissenschaft] vergleicht, sind eben gleichzeitig und gleichsprachlich, im Gegensatze zu jenen, mit denen es die historisch-genealogische Forschung zu tun hat und die entweder zu verschiedenen Zeiten aufeinanderfolgen oder, gleichviel ob neben- oder nacheinander, an verschiedenen Orten auftreten.” (S. 61)
Die Unterscheidung spielt wiederholt eine erhebliche Rolle, aber die Begriffe werden (wohl im Sinne Humboldts) vorausgesetzt und nicht definiert. Gemeint ist ungefähr ‘Lexikon/(Morphem-)Inventar vs. (grammatische) Struktur’, also nicht dasselbe, was im Strukturalismus des 20. Jh. ‘Form vs. Substanz’ heißen wird.
Der unmittelbare Vorläufer der Auffassung der Sprache als System ist ihre Auffassung als Organismus. Auch diese Metapher findet sich noch bei Gabelentz. Daneben aber führt er den Begriff des Systems ein:
“Denn die Sprache ist ebensowenig eine Sammlung von Wörtern und Formen, wie der organische Körper eine Sammlung von Gliedern und Organen ist. Beide sind in jeder Phase ihres Lebens (relativ) vollkommene Systeme, nur von sich selbst abhängig; alle ihre Teile stehen in Wechselwirkung und jede ihrer Lebensäußerungen entspringt aus dieser Wechselwirkung.” (S. 8f)
"Jede Sprache ist ein System, dessen sämmtliche Theile organisch zusammenhängen und zusammenwirken. Man ahnt, keiner dieser Theile dürfte fehlen oder anders sein, ohne dass das Ganze verändert würde." (S. 481)
"Sie [die Sprachen] sind freie organische Gebilde, und weil und soweit sie dies sind, stehen alle ihre Teile zueinander in notwendigem Zusammenhange." (Gabelentz 1894:4)
Danach setzt sich der Begriff des Sprachsystems in der Linguistik fest, und zwar bereits vor Beginn des Strukturalismus. Der oft zitierte Satz "que chaque langue forme un système où tout se tient" geht auf Antoine Meillet 1903:407 zurück, der offensichtlich Gabelentz echot. An diese Formulierung wiederum knüpft de Saussure (1915:165) an mit
"La langue est un système dont tous les termes sont solidaires"
Der Begriff des Sprachtyps geht auf W.v. Humboldt zurück; aber die zugehörige Disziplin bezeichnet erst Gabelentz als ‘Typologie’. Als weitere Vorläufer führt Plank 1991 auf: Byrne, Georges de Cuvier, Raoul de la Grasserie, Karl W.L. Heyse, August Pott. Der folgende Absatz aus der Sprachwissenschaft gehört zu den meistzitierten der allgemein-vergleichenden Sprachwissenschaft:
1“Jede Sprache ist ein System, dessen sämmtliche Theile organisch zusammenhängen und zusammenwirken. Man ahnt, keiner dieser Theile dürfte fehlen oder anders sein, ohne dass das Ganze verändert würde. Es scheint aber auch, als wären in der Sprachphysiognomie gewisse Züge entscheidender als andere. Diese Züge gälte es zu ermitteln; und dann müsste untersucht werden, welche anderen Eigentümlichkeiten regelmäßig mit ihnen zusammentreffen. Ich denke an Eigentümlichkeiten des Wort- und Satzbaues, an die Bevorzugung oder Verwahrlosung gewisser grammatischer Kategorien. Ich kann, ich muss mir aber auch denken, dass alles dies zugleich mit dem Lautwesen irgendwie in Wechselwirkung stehe. Die Induktion, die ich hier verlange, dürfte ungeheuer schwierig sein; und wenn und soweit sie gelingen sollte, wird es scharfen philosophischen Nachdenkens bedürfen, um hinter der Gesetzlichkeit die Gesetze, die wirkenden Mächte zu erkennen. Aber welcher Gewinn wäre es auch, wenn wir einer Sprache auf den Kopf zusagen dürften: Du hast das und das Einzelmerkmal, folglich hast du die und die weiteren Eigenschaften und den und den Gesamtcharakter! - wenn wir, wie es kühne Botaniker wohl versucht haben, aus dem Lindenblatte den Lindenbaum konstruieren könnten. Dürfte man ein ungeborenes Kind taufen, ich würde den Namen Typologie wählen. Hier sehe ich der allgemeinen Sprachwissenschaft eine Aufgabe gestellt, an deren Lösung sie sich mit ihren heutigen Mitteln wagen darf. Hier würde sie Früchte zeitigen, die denen der sprachgeschichtlichen Forschung an Reife nicht nachstehen, an Erkenntniswerte sie wohl übertreffen sollten. Was man bisher von geistiger Verwandtschaft, von verwandten Zügen stammverschiedener Sprachen geredet hat, das würde sofort greifbare Gestalt gewinnen, in ziffernmäßig bestimmten Formeln dargestellt werden; und nun träte das spekulative Denken an diese Formeln heran, um das Erfahrungsmäßige als ein Notwendiges zu begreifen.” (S. 481)Hier sind tatsächlich alle wesentlichen Merkmale der modernen Sprachtypologie beisammen:
Der Terminus ‘Grammatikalisierung’ kommt nicht vor (er wurde erst 1912 von A. Meillet geprägt), der Begriff jedoch durchaus. S. 326 werden u.a. folgende Beispiele angeführt:
Die dahinter stehende theoretische Konzeption ist die folgende:
“Nun bewegt sich die Geschichte der Sprachen in der Diagonale zweier Kräfte: des Bequemlichkeitstriebes, der zur Abnutzung der Laute führt, und des Deutlichkeitstriebes, der jene Abnutzung nicht zur Zerstörung der Sprache ausarten lässt. Die Affixe verschleifen sich, verschwinden am Ende spurlos; ihre Funktionen aber oder ähnliche drängen wieder nach Ausdruck. Diesen Ausdruck erhalten sie, nach der Methode der isolierenden Sprachen, durch Wortstellung oder verdeutlichende Wörter. Letztere unterliegen wiederum mit der Zeit dem Agglutinationsprozesse, dem Verschliffe und Schwunde, und derweile bereitet sich für das Verderbende neuer Ersatz vor: periphrastische Ausdrücke werden bevorzugt; mögen sie syntaktische Gefüge oder wahre Komposita sein (englisch: I shall see — lateinisch videbo = vide-fuo); immer gilt das Gleiche: die Entwicklungslinie krümmt sich zurück nach der Seite der Isolation, nicht in die alte Bahn, sondern in eine annähernd parallele. Darum vergleiche ich sie der Spirale.” (S. 256)Damit nimmt Gabelentz wesentliche Elemente der Grammatikalisierungstheorie des ausgehenden 20. Jh. vorweg:
Die analytische und die synthetische Perspektive in der Sprachbeschreibung führt Gabelentz wie folgt ein:
“Ich kann eine Sprache, das heißt erstens: ich verstehe sie, wenn ich sie höre oder lese, und zweitens: ich wende sie richtig an, wenn ich in ihr rede oder schreibe. Insofern ich sie verstehe, stellt sie sich mir dar als Erscheinung, oder richtiger, als eine Gesamtheit von Erscheinungen, die ich deute. Sofern ich sie anwende, bietet sie sich mir als Mittel, oder richtiger als eine Gesamtheit von Mitteln zum Ausdrucke meiner Gedanken. Dort war die Form gegeben und der Inhalt, der Gedanke zu suchen; hier umgekehrt: gegeben ist der Gedankeninhalt, und gesucht wird die Form, der Ausdruck. Dies leuchtet unmittelbar ein und hat längst in der bekannten Zweiteilung der Wörterbücher seinen Ausdruck gefunden: ich lese Latein, stoße auf ein mir unbekanntes Wort und schlage im lateinisch-deutschen Wörterbuche nach. Ich will lateinisch schreiben, es fehlt mir der richtige Ausdruck für diesen oder jenen Begriff: so suche ich nach ihm im deutsch-lateinischen Wörterbuche unter dem entsprechenden deutschen Worte.” (S. 84f)
“Alles in der Sprache ist zugleich zu deutende Erscheinung und anzuwendendes Mittel. Es handle sich um die Konjunktion quod, die einen Objektsatz einführt: so muss ich, wenn anders ich das Lateinische grammatisch kenne, mit einem Blicke die übrigen Anwendungen von quod und mit einem zweiten Blicke die übrigen Formen des Objektsatzes überschauen ...” (S. 85)
“So ergeben sich zwei einander notwendig ergänzende grammatische Systeme: das eine nenne ich das analytische, weil in ihm die Spracherscheinungen durch Zerlegung erklärt werden; das andere nenne ich das synthetische, weil es lehrt, die grammatischen Mittel zum Aufbaue der Rede zu verwerten.” (S. 85)
In dieser Konzeption hat Gabelentz einen Vorläufer in Gestalt einer griechischen Sprachlehre von 1843 (nach der er womöglich selber Griechisch gelernt hat); aber er ist sicher der erste, der sie in die Sprachwissenschaft einführt. Die Konzeption wird vor allem von Jespersen aufgegriffen. Die Termini ‘analytisch vs. synthetisch’ werden nach Jespersen nicht mehr gebraucht; stattdessen werden die beiden Perspektiven als ‘semasiologisch vs. onomasiologisch’ und in der Linguistik des ausgehenden 20. Jh. auch als ‘struktural vs. funktional’ bezeichnet. Sie sind suo loco ausführlich erläutert.
Zu den weiteren Gedanken, die die strukturale Linguistik vorwegnehmen, ist die Konzeption einer “Lehre vom Lautbefunde” zu rechnen, die genau der späteren Phonologie entspricht:
“Unter dieser Lehre verstehe ich die systematische Aufzählung und Beschreibung der Laute und die Angabe, an welchen Stellen und in welchen Verbindungen sie erscheinen dürfen,” (S. 87)
Die heute in der historischen Linguistik geläufige Unterscheidung zwischen äußerer und innerer (externer und interner) Sprachgeschichte wird explizit gemacht:
“Wir werden, um Mißverständnisse zu vermeiden, gut tun, zwischen äußerer und innerer Sprachgeschichte zu unterscheiden. Die äußere Geschichte einer Sprache ist die Geschichte ihrer räumlichen und zeitlichen Verbreitung, ihrer Verzweigungen und etwaigen Mischungen (Genealogie). Die innere Sprachgeschichte erzählt und sucht zu erklären, wie sich die Sprache in Rücksicht auf Stoff und Form allmählich verändert hat.” (S. 141f)
Das Bild des Ganzen schwebt mir vor: die Theile halte ich in den Händen, um sie nachschaffend aufzubauen. Was bestimmt mich, erst diesen aufzustellen, dann den, dann jenen? Offenbar ist es dies, dass ich erst dasjenige nenne, was mein Denken anregt, worüber ich nachdenke, mein psychologisches Subject, und dann das, was ich darüber denke, mein psychologisches Prädicat, und dann wo nötig wieder Beides zum Gegenstande weiteren Denkens und Redens mache. (Gabelentz 1891:370f)
Ich kann sagen: “Der 16. März ist mein Geburtstag”, oder: “Mein Geburtstag ist der 16. März.” Hier leuchtet der Unterschied beider Sätze ohne Weiteres ein: denn Subject und Prädicat sind gleichermassen substantivische Satztheile, und jeder empfindet, wie diese Satztheile mit der Stellung auch die Rollen wechseln. Setze ich statt: der 16. März: gestern, oder vor drei Tagen war…, so wird anscheinend die Sache schon schwieriger, denn nun ist der eine der beiden Satztheile adverbial, kann also nicht grammatisches Subject sein. Psychologisches Subject ist er aber darum nicht minder; denn nach wie vor rede ich von einem gewissen Tage und sage von ihm aus, dass er mein Geburtstag war.
In dem Sprichworte: “Mit Speck fängt man Mäuse” ist das grammatische Subject “man”. Ganz gewiss ist dies aber nicht das psychologische Subject, nicht Dasjenige, wovon die Rede ist. Vielmehr ist die Rede vom Mittel [d.h. mit Speck], und der Sinn ist: Lockungen und Schmeicheleien sind sind das Mittel, um Leichtsinnige zu fangen. Hiesse es umgekehrt: “Mäuse fängt man mit Speck”, so handelte der Satz von den leichtsinnigen Leuten und sagte von ihnen aus, wie sie zu fangen seien. (Gabelentz 1891:371)
Das Buch ist bis heute eine der besten Einführungen in die Linguistik. Es bietet einen umfassenden Überblick über ihre verschiedenen Sparten (synchron-deskriptive, historisch-vergleichende, typologisch-vergleichende Sprachwissenschaft) und über eine Fülle von empirischen Problemen, die heute teilweise zu Unrecht im Hintergrund stehen. Es geht, was kaum eine Einführung tut, auf die Ausbildung von Sprachwissenschaftlern, die Erlernung von Fremdsprachen, die systematische Anlage einer Sprachbeschreibung ein. Auch theoretisch ist Gabelentz seiner Zeit voraus. Er nimmt Saussures Unterscheidung von `langage', `langue' und `parole' sowie die Auffassung der Sprache als System vorweg und reflektiert kritisch über Grammatiktheorie, das Verhältnis der synchronen zur diachronen Sprachwissenschaft sowie - als einer von ganz wenigen - über die Ziele und Aufgaben der Sprachwissenschaft. Das Buch zeichnet sich durch eine überzeugende Verbindung von sprachtheoretischer Durchdringung mit Sprachenkenntnis, gesundem Menschenverstand und Praxisbezug aus und ist leicht verständlich und flüssig (wenn auch gelegentlich etwas manieriert) geschrieben.
G. v.d. Gabelentz ist einer der Begründer der modernen synchronen Sprachwissenschaft. Da er (Remot-)Orientalist war, wurde er von der etablierten Sprachwissenschaft weitgehend ignoriert. F. de Saussure allerdings muß anläßlich seiner Studienaufenthalte in Leipzig (1876-78 und 1879/80) bei ihm studiert haben. Denn der Cours de linguistique générale stimmt in zahlreichen Konzeptionen, zugehörigen Argumenten und oft bis auf den Wortlaut mit Gabelentz' Sprachwissenschaft überein (ohne freilich Gabelentz zu erwähnen). Diese Übereinstimmungen sind (mit Coseriu 1967, pace Koerner 1971, 1974) kaum anders erklärbar, als daß de Saussure entweder in den Leipziger Lehrveranstaltungen oder durch Lektüre von Gabelentz' Buch beeinflußt worden ist. Tatsächlich ist bekannt, daß Saussure sich 1891 ernsthaft der allgemeinen Sprachwissenschaft zuwandte, d.i. das Erscheinungsjahr der Sprachwissenschaft.
1 Der Teil "Aber welcher Gewinn ... Typologie wählen." wurde freilich erst in der posthumen Auflage von 1901 hinzugefügt.
(annähernd vollständig)
1860, "Spuren eines ausgebildeten Conjugationssystems im Dayak". ZDMG 14: 547ff.
1869, "Ideen zu einer vergleichenden Syntax". Zs. f. Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 6:.
1875, "Weiteres zur vergleichenden Syntax". ZDMG 8:.
1876, Thai-kih-thu, des Tscheu-tsi Tafel des Urprinzipes, mit Tschu-hi's Commentare nach dem Hoh-pih-sing-li, Chinesisch mit mandschuischer und deutscher Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen [Diss. Dresden] Dresden : [selbst].
1878, "Beitrag zur Geschichte der chinesischen Grammatiken und zur Lehre von der grammatischen Behandlung der chinesischen Sprache". ZDMG 32:601ff.
1878, "Ein Probestück vom chinesischen Parallelismus". Zs. f. Völkerpsychologie u. Sprachwiss. 10:.
1879, "Kin Ping Mei, les aventures galantes d'un épicier. Roman réaliste, trad. du Mandchou". Rev. orient. et américaine (Paris) (pub. par L. de Rosny).
1880, "Zur chinesischen Philosophie". Wiss. Beil. d. Allg. Ztg. Nr. 92.
1881, Chinesische Grammatik, mit Ausschluss des niederen Stils und der heutigen Umgangssprache. Leipzig : Weigel. Reprograph. Nachdruck: Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1953.
1881, "Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft. Leipziger Antrittsrede". Unsere Zeit (Leipzig) .
1881, "Sur la possibilité de prouver l'existence d'une affinité généalogique entre les langues dites indochinoises". Atti del IV. Congr. Intern. degli Orientalisti, Firenze, vol.II:283-295.
1882, "On a new Chinese grammar". Verhandlungen des V. Intern. Orientalisten-Congresses, Berlin, vol.II,2.
1882 (mit A.B. Meyer), "Beiträge zur Kenntniss der melanesischen, mikronesischen und papuanischen Sprachen. Ein erster Nachtrag zu Hans Conon's von der Gabelentz Werke Die melanesischen Sprachen". Abh. d. philol.-hist. Cl. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss. (Leipzig) Bd. 8, Nr. 4.
1883 (mit A.B. Meyer), "Einiges über das Verhältnis des Mafoor zum Malayischen". Bijdr. tot de taal-, land- en volkenkunde von Neerl. Indie .
1883, "Anfangsgründe der chinesischen Grammatik mit Uebungsstücken". y|p\K24|>(Leipzig) .
1884, "Ueber Sprache und Schriftthum der Chinesen". Unsere Zeit (Leipzig).
1884, "Zur grammatischen Beurteilung des Chinesischen". Int. Zs. f. Allg. Sprachwiss. (hrsg. v. F. Techmer), 1:272-280.
1885, "Einiges über die Sprachen der Nicobaren-Insulaner". Ber. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss., philol.-hist. Cl..
1885, "Kolarische Sprachen". Ersch und Grubers Encyklopädie 1885, II. Serie, Bd. 84:104-108.
1885, "Kuki. Volk und Sprache". Ersch und Grubers Encyklopädie 1885, II. Serie, Bd. 38.
1885, "Kunama-Sprache". Ersch und Grubers Encyklopädie 1885, II. Serie, Bd. 38.
1885, "Zur Lehre von der Transkription". Int. Zs. f. Allg. Sprachwiss. (hrsg. v. F. Techmer), 2:252-257.
1886, "Hans Conon von der Gabelentz als Sprachforscher". Ber. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss., philol.-hist. Cl., Sitzung am 11. Dec. 1886.
1886, "Some additions to my Chinese grammar". J. of the China Branch of the Royal As. Soc. (Shanghai) N.S. 20:.
1887, "Ueber das taoistische Werk Wen-tsi". Ber. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss., philol.-hist. Cl..
1887, "Zur chinesischen Sprache und zur allgemeinen Grammatik". Int. Zs. f. Allg. Sprachwiss. (hrsg. v. F. Techmer), 3:93-109.
1888, "Beiträge zur chinesischen Grammatik. Die Sprache des êuang-tsi". Abh. d. philol.-hist. Cl. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss. (Leipzig) Bd. 10, Nr. 8.
1888, "Confuzius und seine Lehre". y|p\K24|> (Leipzig) .
1888, "Ueber den chinesischen Philosophen Mek Tik". Ber. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss., philol.-hist. Cl. .
1888, "[August Friedrich] Pott". Allgemeine Deutsche Biographie 1888, 26: 478-485. Abgedr.: Sebeok, Thomas A. (ed.) 1966, Portraits of linguists. A biographical source book for the history of Western linguistics, 1746-1963. 2 vols.; 251-261.
1889, "Der Räuber Tschik, ein satirischer Abschnitt aus Tschuang-tsi". Ber. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss., philol.-hist. Cl..
1889, "Stoff und Form in der Sprache". Ber. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss., philol.-hist. Cl.. Abgedr.: Gabelentz 1891, 4. Buch, Kap.III, II.
1890, [Antrittsrede Berlin]. Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Ak. d. Wiss. 34.
1901, Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse. Leipzig : Weigel Nachf.2. Aufl.; 1.: 1891. Nachdruck: Tübingen, Narr, 1972 (TBL, 1).
1892, Handbuch zur Aufnahme fremder Sprachen. Berlin : .
1892, "Vorbereitendes zur Kritik des Kuan-tsi". Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Ak. d. Wiss. .
1892, "Zur Beurteilung des koreanischen Schrift- und Lautwesens". Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Ak. d. Wiss. .
1893, "Die Lehre vom vergleichenden Adverbialis im Altchinesischen". Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Ak. d. Wiss. .
1894, Die Verwandtschaft des Baskischen mit den Berbersprachen Nord-Africas herausgegeben nach dem hinterlassenen Manuscripte durch Dr. A.C. Graf von der Schulenburg. Braunschweig : .
1894, "Typologie der Sprachen. Eine neue Aufgabe der Linguistik". IF 4:1-7.
Conrady 1893, "Georg von der Gabelentz". Beilage zur Allgemeinen Zeitung Nr. 303, Dez. 1893.
Coseriu, Eugenio 1967, "Georg von der Gabelentz et la linguistique synchronique". Word 23:74-100. Dt.: "Georg von der Gabelentz und die synchronische Sprachwissenschaft". Gabelentz, G. v.d. 1972, Die Sprachwissenschaft. Tübingen : Narr; Nachdruck der 2. Aufl. 1901; [3 - [35.
Erkes, E. 1953f, "Georg von der Gabelentz". Wiss. Zs. d. Karl-Marx-Univ. Leipzig 3, Ges.- u. Sprachwiss. R., H. 4:385-392.
Grube, Wilhelm 1905, "Gabelentz". Allgemeine Deutsche Biographie 50:548-555.
Gruber, W. 1892, "[Rez. v. Gabelentz 1891]" ZDMG 36:712ff.
Koerner, E.F. Konrad 1971, [Rezension des Nachdrucks von Die Sprachwissenschaft, Tübingen 1969]. Lingua 28:153-159.
Koerner, E.F. Konrad 1972, "A brief reply to Messrs. Narr and Petersen". Lingua 30:462f.
Koerner, E.F. Konrad 1974, "Animadversions on some recent claims regarding the relationship between Georg von der Gabelentz and Ferdinand de Saussure". Amacker, René et al. (eds.) 1974, Studi saussureani per Robert Godel. Bologna : Pàtron (Studi linguistici e semiologici, 1); 165-180.
Meringer, Rudolf 1894, "[Rez. v. Gabelentz 1891]" Zs. f. österreich. Gymnasien 1894:785.
Narr, Gunter & Petersen, Uwe 1972, "On Koerner, Coseriu, and Gabelentz: A brief rejoinder". Lingua 30:460f.
Plank, Frans 1991, "Hypology, typology: the Gabelentz puzzle." Folia Linguistica 25:421-458.
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