Der 1807 geborene Hans Conon von der Gabelentz hat zwar nie Sprachwissenschaft, sondern Jura studiert, entwickelte sich aber schon bald zu einem der hervorragendsten Sprachenkenner seiner Zeit. Bereits mit 25 Jahren brachte er eine Grammatik des Mandschurischen auf Französisch heraus. Ganz ähnlich wie Wilhelm von Humboldt, den er sehr verehrte und dessen wissenschaftlicher Richtung er sich vorbehaltlos anschloß, hatte er zwar früh hohe politische Ämter inne, aber seine eigentliche Leidenschaft galt der Sprachwissenschaft. Daher gab er seinen Posten als altenburgischer Staatsminister bald wieder auf, um sich ganz der Sprachwissenschaft widmen zu können. Er wurde Mitbegründer der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, die bis heute ein reiches wisenschaftliches Leben organisiert.
Die Aufgabe, einzelne grammatische Kategorien in möglichst vielen verschiedenen Sprachen aufzusuchen, um die Gesetzmäßigkeiten ihrer Gestaltung herauszufinden, war von Humboldt vorgezeichnet worden (z.B. anhand des Duals). Gabelentz führte sie an Kategorien wie dem Passiv durch und berücksichtigte dabei bis zu 209 Sprachen. Eine solche empirische Breite in einer typologischen Untersuchung war damals absolut unerhört und wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder erreicht. Bereits mit 39 Jahren wurde Gabelentz für sein großes wissenschaftliches Werk von der Universität Leipzig mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Als Folge seiner weitgespannten Interessen entstand zudem die bedeutendste sprachwissenschaftliche Privatbibliothek jener Zeit.
Hans Conons zweiter Sohn Hans Georg wurde 1840 in Poschwitz bei Altenburg geboren. Er erhielt seine sprachwissenschaftliche Ausbildung zunächst von seinem Vater. Bereits als Gymnasiast las er Grammatiken des Chinesischen und anderer naher und ferner Sprachen. Er studierte zwar auch zunächst Jura, wechselte dann aber zur Sprachwissenschaft. Neben seiner Arbeit als Verwaltungsjurist im sächsischen Staatsdienst schrieb er eine sinologische Dissertation und promovierte an der Universität Leipzig. Zwei Jahre später wurde dort eine außerordentliche Professur für ostasiatische Sprachen, die erste Deutschlands, eingerichtet und mit Georg von der Gabelentz besetzt. Mit 49 Jahren wurde dieser dann ordentlicher Professor für ostasiatische Sprachen und allgemeine Sprachwissenschaft in Berlin.
Georg von der Gabelentz hat in seinem kurzen Leben eine eindrucksvolle Menge an Beiträgen zu seinem Fach veröffentlicht. Am Anfang stehen wegweisende Arbeiten zur genetischen Klassifikation der austronesischen Sprachen, in denen er das Werk seines Vaters fortführt. Besonders aber ist seine 1881 erschienene bahnbrechende Chinesische Grammatik zu nennen. Die Anordnung folgt einer von ihm selbst entwickelten Zweiteilung in analytische und synthetische Grammatik, die zahlreichen Grammatiken als Vorbild gedient hat und zunehmend wieder dient. Das Buch wurde noch 1953 in unveränderter Neuauflage wieder herausgegeben und wird heute auf dem Büchermarkt vermißt.
Gabelentz' Hauptwerk, Die Sprachwissenschaft (1. Auflage 1891), ist bis heute eine der besten Gesamtdarstellungen des Fachs. Es bietet einen umfassenden Überblick über seine verschiedenen Sparten (synchron-deskriptive, historisch-vergleichende, typologisch-vergleichende Sprachwissenschaft) und über eine Fülle von empirischen Problemen, die heute teilweise zu Unrecht im Hintergrund stehen. Es geht, was kaum ein Überblickswerk tut, auf die Ausbildung von Sprachwissenschaftlern, die Erlernung von Fremdsprachen, die systematische Anlage einer Sprachbeschreibung ein. Auch theoretisch ist Gabelentz seiner Zeit voraus. Er nimmt de Saussures Unterscheidung von `langage', `langue' und `parole' sowie die Auffassung der Sprache als System vorweg und reflektiert kritisch über Grammatiktheorie, das Verhältnis der synchronen zur diachronen Sprachwissenschaft sowie - als einer von ganz wenigen - über die Ziele und Aufgaben der Sprachwissenschaft. Dieses Werk ist auf dem heutigen Buchmarkt in Nachdrucken verfügbar und hat sich seinen Platz in den sprachwissenschaftlichen Fachbereichen erobert.
Die Sprachwissenschaft des Georg von der Gabelentz war in echtem Sinne allgemein und bildete somit das notwendige Gegengewicht zur vorherrschenden Indogermanistik. Sie wendete sich vor allem nichtindogermanischen Sprachen zu, betrachtete neben deren Geschichte vor allem ihr Funktionieren als System, weitete den genetischen auf den typologischen Vergleich aus und verhalf der Linguistik aus einem oft recht beschränkten Eurozentrismus zu wahrem Universalismus. Gabelentz gilt zu Recht als einer der Begründer der modernen synchronen Sprachwissenschaft.
Hans Conons jüngste Tochter, Georgs Schwester Clementine, gehört zwar nicht zu den Sprachwissenschaftlern der Familie, wohl aber zu deren großen Sprachkennern und war als ständige Diskussionspartnerin im Familienkreis durchaus eine Sprachgelehrte. Auch sie lernte vom Vater Sprachen, mit gleichem Erfolg wie die Brüder, hat später weitere Sprachen gelernt, ihr wissenschaftliches Engagement aber auf anderen Gebieten entfaltet. Mit der gleichen wissenschaftlichen Leidenschaft, mit der sich Vater Hans Conon und Bruder Hans Georg mit den Sprachen befaßten, entwickelte sie eine historische Textilkunde, ja geradezu Ansätze zu einer Typologie von Textiltechniken.
Christian Lehmann & Barbara Unterbeck, 1999