In dem Dialog diskutiert Sokrates die Frage nach der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem mit den beiden Sophisten Kratylos und Hermogenes.
Die Gesprächspartner sind sich einig, daß die “Namen”, also die Bezeichnungen (egal ob Propria oder Appellativa), den Dingen von einem oder mehreren “ersten Namengebern” zugeteilt worden sind und daß sie insoweit eine gewisse “Richtigkeit” haben. Strittig ist, ob diese Richtigkeit durch die Natur des Bezeichneten motiviert ist. Im positiven Falle kommt das Zeichen dem Bezeichneten phısei “von Natur aus” zu; im negativen Falle kommt es ihm nómō “durch Gesetz” bzw. thései “durch Übereinkunft” (also ohne innere Notwendigkeit) zu.
Das griechische Wort etymo-logía ist mit dem Adjektiv étymos “wirklich, wahr, echt” zusammengesetzt. Etymologie ist folglich die Lehre von der echten Form und Bedeutung der Wörter, d.i. eben die, welche sie ursprünglich, nämlich bei der Namengebung, hatten. Wenn sie diese Form und Bedeutung phısei haben, dann ist Etymologie eine Methode, zum Wesen der Dinge vorzudringen. Daraus ergibt sich die erkenntnistheoretische Brisanz der Fragestellung des Kratylos.
Kratylos vertritt die These,
“für jegliches Ding gebe es eine von Natur [phısei] gewordene Richtigkeit des Namens; und nicht das sei der [richtige] Name, den einige [dem Ding] nach Übereinkunft beigeben, indem sie ein Stück von ihrer Stimme dazurufen, sondern es bestehe sowohl bei den Griechen als auch bei den Barbaren von Natur eine gewisse Richtigkeit der Namen, die für alle dieselbe sei.” (383 b)Hermogenes vertritt die Gegenthese; er glaubt nicht,
“daß die Richtigkeit des Namens etwas anderes ist als eine vertragsmäßige Vereinbarung.” (384 d)Sokrates übernimmt auf weite Strecken die Rolle des Moderators, erprobt allerdings, wieweit sich die Position des Kratylos sinnvoll gegen Hermogenes halten läßt. Dazu macht er eine lange Reihe von Etymologien. Für den Namen des Meergottes Poseidõn schlägt er drei alternative Etymologien zur Auswahl vor:
ursprünglicher Name | ursprüngliche Bedeutung | Motivation | lautliche Anpassung |
posí-desmos | Fußfessel | das Meer hält einen bei der Fortbewegung auf | das e (vor dem i) wurde zur Zierde eingefügt |
pollà eidōs | viel wissend | der Gott weiß viel | zunächst wurden zwei l statt des s gesprochen |
[h]o seíōn | der Erschütterer | Poseidon produziert auch Erdbeben | p und d wurden dazugesetzt |
Das letzte Beispiel zeigt, daß die Etymologien auf der schriftlichen Repräsentation beruhen; in dieser erscheint das anlautende /h/ des Artikels nicht.
Da die extremen Positionen
- Zeichen sind in jeder Hinsicht vollkommen arbiträr
- Zeichen sind in jeder Hinsicht vollkommen motiviert
sich beide nicht halten lassen, gelangt Sokrates am Schluß zu einer Aporie bzw., bei wohlwollender Interpretation, zu einem Kompromiß zwischen den beiden Positionen.
Seiten | Abschnitt | Inhalt |
383a-385a | 0. Einleitung | Kratylos vertritt die Position phısei, Hermogenes vertritt die Position nómo. Sie können sich nicht einigen und bitten Sokrates um Klärung. |
385b-427c | 1. Gespräch des Sokrates mit Hermogenes: Einschränkung der Arbitrarietät | |
385b-390e | 1.1. Arbitrarietät | Zunächst klärt Sokrates, daß Hermogenes' Konvention nicht völlige Beliebigkeit besagen kann. Alles an einem Ding entspricht seinem Wesen, also auch sein Name. |
391a-427d | 1.2. Etymologien | Sokrates lotet die Möglichkeit aus, die Richtigkeit der Wörter durch Etymologie zu erweisen. Zunächst legt er für eine Reihe wichtiger Wörter Etymologien vor. Diese führen Wörter wieder auf Wörter zurück. Die letzteren sind Stammwörter, die ihrerseits onomatopoetisch motiviert sein müßten. Der Beweis setzt eine Klassifikation der Laute und eine Klassifikation der Dinge voraus. Erstere wird ansatzweise geliefert. Für die letztere wird Heraklits Lehre der Bewegung herangezogen. |
427e-440e | 2. Gespräch des Sokrates mit Kratylos: Einschränkung der Ikonizität | |
427e-435d | 2.1. Konvention | Sokrates ist sich der etymologischen Erklärungen nicht sicher und will feststellen, ob Kratylos diese Sicht erhärten kann. Das kann er nicht, und so schränkt Sokrates sie selber ein. Der erste Namengeber hat teils bessere, teils schlechtere Namen gegeben. Zur natürlichen Richtigkeit muß also die Konvention treten. |
435d-440e | 2.2. Erkenntnistheorie | Kratylos meint, a) daß man Erkenntnis des Wesens der Dinge aus den Namen gewinnt und b) daß der erste Namengeber die Dinge ihrem Wesen gemäß benannt hat. Woher hatte aber der erste Namengeber Kenntnis des Wesens der Dinge? Ferner gibt es für die (onomatopoetische) Motivation widerstreitende Prinzipien, nämlich gegenüber Bewegung auch Stillstand. Folglich ist Erkenntnis nicht aus den Namen, sondern aus der [platonischen] Wesensschau zu gewinnen. |
Ob bzw. wie weit die Assoziation eines Sprachzeichens mit seiner Bedeutung arbiträr oder motiviert ist, ist eines der fundamentalen Probleme der Linguistik (vgl. den Titel von Jakobsons diesbezüglichem Traktat “Quest for the essence of language”). Seit de Saussure die Position des platonischen Hermogenes, also die grundsätzliche Arbitrarietät des Sprachzeichens, vertreten hatte, entspann sich in der modernen Linguistik eine bis heute nicht beendete Debatte. Seit etwa 1985 wird sie, terminologisch an Ch.S. Peirce anschließend, überwiegend unter dem Stichwort ‘Ikonizität’ (des Sprachzeichens) geführt.
Die Frage des Kratylos ist, mindestens in der Ikonizitätsdiskussion seit Ende des 20. Jh., eine empirische. Um sie als solche zu behandeln, muß man
Platon hat von den drei Voraussetzungen nur Rudimente:
Etymologie ist nach modernem wissenschaftlichen Verständnis eine historische Disziplin. Zu ihrer Methodik s. anderswo. Platon hat – mit einer Ausnahme in §418, wo er sich auf Wortformen beruft, die von “den Alten” gebraucht worden seien [ohne daß er wiederum dafür historische Evidenz hätte] – keinen Begriff von Sprachwandel. Folglich fehlen ihm die Voraussetzungen, um wissenschaftliche Etymologie zu machen. Etymologie ist für ihn eine Art Assoziationslehre. Für die Stimmigkeit oder Relevanz der Assoziationen fehlen aber die Kriterien. Die Etymologie wurde erst zu einer wissenschaftlichen Disziplin, als die genannten Voraussetzungen erfüllt waren; das war mit Beginn der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft um 1800.
Aus heutiger Sicht angemessen ist die vorsichtige Haltung des Sokrates (/Platon) zur Themafrage. Selbst wenn sie gehörig präzisiert und in ihrem Skopus spezifiziert wird, handelt es sich offensichtlich nicht um eine Ja-Nein-Frage. An die Stelle der platonischen Aporie am Ende des Kratylos setzt man heute ein vorsichtiges “sowohl – als auch”.
In Platons Kratylos ist übrigens auch das Zweifunktionenmodell der Sprache angelegt.