Ein Lexem ohne irgendwelche grammatischen Kategorien bedeutet einen Begriff. Ein Begriff ist immer etwas Allgemeines, d.h. er steht nicht für ein einzelnes Individuum bzw. einen einzelnen Gegenstand. Dazu wird er erst durch den Einsatz grammatischer Mittel befähigt. Unter Individuation verstehen wir die Aussonderung einzelner Gegenstände aus einem undifferenzierten Ganzen. Zwei Aspekte spielen hierbei eine Rolle, die Klassifikation und die Zählbarmachung.

Eine Klasse ist eine Menge mit einer Intension. Klassifikation von Gegenständen ist ihre Subsumption (Einordnung) unter eine Klasse. Die Merkmale, die die Intension der Klasse ausmachen, können mehr konkret-anschaulicher oder mehr abstrakt-grammatischer Natur sein. Die Klassifikation eines Gegenstandes trägt zu seiner Individuation bei immer dann, wenn der betreffende Begriff alternative Klassifikationen zuläßt. Z.B. kann man den Begriff 'Professor' zum Teil dadurch individuieren, daß man Schnittmengen aus der Menge der Professoren und der der Deutschen bildet, einen Professor also unter die Klasse der Deutschen subsumiert und das Nominal deutscher Professor bildet. Die diversen grammatischen Verfahren der Klassifikation unterscheiden sich hiervon nur dem Grade nach.

Zählbarmachung ist eine grammatische Operation, die aus einem undifferenzierten Ganzen einzelne Einheiten ausgliedert, die gezählt werden können. Wie wir in den folgenden Unterkapiteln sehen werden, wird hierzu auch oft Klassifikation eingesetzt.

Die grammatische Kategorie des Genus ist aus vielen europäischen Sprachen, etwa dem Deutschen, Lateinischen, den romanischen und slawischen Sprachen, geläufig. Sie muß im Zusammenhang der nominalen Klassifikation (i.w. S.), also der Klassifikation nominaler Begriffe, gesehen werden. Hierfür gibt es in den Sprachen der Welt eine Reihe von Verfahren wie:

Verbale Klassifikation ist die Klassifikation eines nominalen Begriffs durch das Verb, als dessen Aktant er fungiert. Das Verfahren ist bisher hauptsächlich aus einigen athapaskischen Sprachen (Nordamerika) bekannt. B1 bietet ein Beispiel aus dem Navaho.

B26. a. béésò sì-ʔą́

Geldstück ASP-dalieg.KLx

"eine Münze liegt da"

b. béésò sì-nìl

Geldstück ASP-dalieg.KLy

"ein Haufen Münzen liegt da"

c. béésò sì-ł-tsòòz

Geldstück ASP-dalieg.KLz

"ein Geldschein liegt da" (8)

Das Verfahren beruht darauf, daß es für die häufigsten Verben der Sprache eine Reihe (bis zu zwanzig) alternativer Stämme gibt, deren jeder eine andere Klasse des Nominalbegriffs, der als zentraler Aktant fungiert, bestimmt. Die Klassen beruhen i.a. auf physikalischen Merkmalen der Gegenstände. Für viele Substantive steht die Klasse fest, d.h. von einem gegebenen Verb wird immer nur éin Stamm in Kombination mit ihnen verwendet. Andere wie das in B1 gezeigte können die Klasse wechseln. Das Verfahren ist den Selektionsrestriktionen im Deutschen vergleichbar; durch die Kombination eines Substantivs als Subjekt mit essen vs. fressen wird dieses auch in die Klasse 'Mensch' bzw. 'Tier' eingeordnet. Der Unterschied besteht allerdings darin, daß die verbale Klassifikation ein grammatisches Verfahren ist; d.h. es gibt eine geschlossene Menge von Klassen, die für die wichtigsten Verben der Sprache dieselben sind und also ein morphologisches Paradigma bilden.

Artikelklassifikation ist die Klassifikation nominaler Begriffe durch den Artikel. In mehreren amerikanischen und australischen Sprachen bilden Determinantien ein Paradigma, das die determinierten Substantive in diverse Klassen einteilt. B? ist ein Beispiel aus dem Djirbal (Australien).

B27. a. ba-ngu-l yaɽa-ngu

D2-ERG-KL1 Mann-ERG

"der (im Gesichtskreis befindliche) Mann"

b. ba-ngu-n djugumbi-ɽu

D2-ERG-KL2 Frau-ERG

"die (im Gesichtskreis befindliche) Frau" (9)

Das Verfahren unterscheidet sich von den deutschen Artikeln (die ja in der Schulgrammatik auch Geschlechtswörter heißen) dadurch, daß die Klassifikation nur an den Artikeln auftritt und daß die Klassen etwas zahlreicher und also semantisch konkreter sind.

Numeralklassifikation ist ein in den Sprachen der Welt relativ häufiges Verfahren, einen Nominalbegriff dann zu klassifizieren, wenn er gezählt, also mit Zahlwörtern kombiniert werden soll. B1 ist aus dem Palauischen (Philippinen), B1 aus dem Chinesischen.

B28. a. te-im él sensi

KL.HUM-fünf KONN Lehrer

"fünf Lehrer"

b. klé-im él kluk

KL.NONHUM-fünf KONN Dollar

"fünf Dollars" (10)

B29. a. yi kwî shǒu-jin

ein KL.Stück Hand-Tuch

"ein Taschentuch"

b. yi tyû shǒu-jin

ein KL.Streifen Hand-Tuch

"ein Handtuch"

Ein Zahlwort (und in mehreren Sprachen auch ein Determinator) wird obligatorisch mit einem klassifikatorischen Morphem, eben dem Zahlklassifikator (oder Numeralklassifikator) kombiniert, welches den gezählten Begriff klassifiziert. B1 zeigt die feste, B1 die wählbare Zuordnung von Substantiven zu Klassen. Die semantische Funktion der Zahlklassifikation ist die Individuation. Insofern sind die Zahlklassifikatoren den in Kap.3.2.3.2 zu besprechenden Mensurativen vergleichbar. Solche gibt es allerdings in den betreffenden Sprachen außerdem. Die syntaktische Funktion der Zahlklassifikatoren ist es, die Zahlwörter (und evtl. die Determinantien) zu substantivieren, so wie man etwa auch im Deutschen den indefiniten Artikel ein substantivieren muß, wenn er mit einem Relativsatz kombiniert werden soll (einer, der studiert). Zahlwörter sind häufig Substantive; vgl. dt. Tausend, Million usw.

Possessivklassifikation ist ein Verfahren, in dem ein Nominalbegriff dann klassifiziert wird, wenn er als Possessum (besessenes Objekt) in alienabler possession auftritt. B1 ist ein Beispiel aus dem Lenakel (Pazifik).

B30. a. nìite nìik uus-suaas uk

Taro POSS.KL.ess Mann-klein D1

"der Taro (zum Essen) dieses Jungen"

b. nuw miin nìik-k

Yams PL POSS.KL.ess-1.SG

"mein Yams (zum Essen)"

c. nu nìimw kuri

Wasser POSS.KL.trink Hund

"das Trinkwasser des Hundes"

d. nìikava ituga nìimw-m

Kava ausländisch POSS.KL.trink-2.SG

"dein Schnaps" (11)

Die semantische Funktion der Possessivklassifikation ist die Spezifikation der Relation, die der Possessor zum Possessum hat. Die syntaktische Funktion ist, an dem alienablen Possessum eine Leerstelle zu eröffnen und so den Anschluß eines Possessors (Besitzers, "Genitivattributs") zu ermöglichen.

Nominalklassifikation ist ein besonders aus afrikanischen Sprachen bekanntes Verfahren, bei dem die Substantive in bis zu 21 grammatisch relevante lexikalische Klassen eingeteilt werden. B1 zeigt Beispiele aus dem Swahili.

B31. a. Ma-yai ma-dogo ni ma-bovu.

KL6-Ei KL6-klein KOP KL6-verdorben

"Die kleinen Eier sind verdorben."

b. n-guo z-a-ke n-yekundu m-bili

KL10-Kleid KL10-AT-POSS.3.SG KL10-rot KL10-zwei (12)

"ihre zwei roten Kleider"

Anders als die bisherigen klassifikatorischen Verfahren wird die Nominalklasse häufig am Substantiv selbst morphologisch bezeichnet und erscheint außerdem durch Kongruenz an mehreren anderen Satzgliedern. Die Klassen haben teilweise einen konkreten lexikalischen Gehalt; z.B. enthält Klasse 3 die unpersönlichen Lebewesen. Substantive können durch Derivation relativ leicht in andere Klassen versetzt werden.

Kongruenz ist wie folgt zu definieren: Syntagma B kongruiert mit Syntagma A (in der Kategorie K) genau dann, wenn gilt:

- es besteht eine direkte grammatische oder semantische syntagmatische Relation zwischen A und B;

- es gibt eine grammatische Kategorie K mit einem Formparadigma von Subkategorien;

- A gehört einer Subkategorie k von K an, und As Zugehörigkeit zu k ist unabhängig vom Vorhandensein oder Charakter von B;

- k ist an B ausgedrückt und bildet ein Syntagma mit B.

Diese Definition soll hier nicht in den Einzelheiten gerechtfertigt werden. Hervorzuheben ist lediglich, daß zur Kongruenz ein Element gehört, von dem sie ausgeht, und ein darauf bezogenes Element, an welchem die betreffende grammatische Kategorie nur durch Kongruenz erscheint.

Genus ist eine Kategorie der nominalen Klassifikation, die zwar auf der kognitiven Kategorie des Sexus basiert, dieser jedoch entfernt nicht entspricht. Da es in der Natur zwei Sexus gibt, eben ‘männlich’ und ‘weiblich’, sind Systeme mit zwei Genera, nämlich maskulinum und femininum, wie etwa im Französischen, häufig. Geschlechtslose Gegenstände werden dann im Prinzip arbiträr, innerhalb des bestehenden Systems nach Analogie, einem der beiden Genera zugewiesen. Oft gibt es, wie im Deutschen, Lateinischen und Russischen, neben den beiden sexusbasierten Genera ein Genus neutrum (sächlich), dessen funktionelle Berechtigung eben in der Nichtklassifikabilität unbelebter Dinge nach dem Sexus liegt. Die Zuordnung zu den drei Genera ist deshalb aber meist doch nicht systematischer als in den Zweigenussystemen. B1 zeigt Beispiele aus dem Lateinischen.

B32. a. vultur alb-us

Geier(NOM.SG.M) weiß-NOM.SG.M

"weißer Geier"

b. dom-us alb-a

Haus-NOM.SG.F weiß-NOM.SG.F

"weißes Haus" (13)

Auch hier spielt die Kongruenz anderer Satzglieder mit dem Substantiv eine große Rolle. Anders als die Nominalklasse ist das Genus häufig nicht morphologisch am Substantiv bezeichnet, sondern nur aus der Kongruenz ersichtlich. Für ein gegebenes Substantiv ist es i.a. unveränderlich. In den altindogermanischen Sprachen gibt es allerdings die Erscheinung der Motion (wörtl. "Bewegung"), bei der ein Substantiv, das ein belebtes Wesen bezeichnet, zwischen Genus maskulinum und femininum wechseln kann; z.B. lat. lupus "Wolf" vs. lupa "Wölfin". Dies ist eine Alternation in einer Flexionskategorie, nicht zu verwechseln mit der Überführung von Wolf in Wölfin, die eine Angelegenheit der Derivation ist.

Alle nominalen Klassifikationssysteme beruhen auf kognitiven Kategorien, mit deren Hilfe der Mensch die ihn umgebenden Lebewesen und Gegenstände erfaßt. Allerdings sind die Systeme verschieden stark grammatikalisiert. Sie wurden hier ungefähr in der Reihenfolge zunehmender Grammatikalisierung vorgeführt. Von all diesen Systemen ist also das Genus am wenigsten semantisch und am stärksten grammatischen Regeln unterworfen.

Die Funktion der stark grammatikalisierten Systeme nominaler Klassifikation liegt in der Kongruenz. Bei der syntagmatischen Wiederaufnahme eines Gegenstands wird die Identifikation des Gemeinten wesentlich durch das Genus geleistet. Dadurch wird dann auch ein Attribut auf sein Bezugsnomen und - z.B. im Russischen und Hebräischen - ein Verb auf sein Subjekt bezogen.

Die starke Grammatikalisierung des Genus ist die Voraussetzung für die häufige Diskrepanz zwischen Genus und Sexus (vgl. das Mädchen, die Wache). Diese wiederum bringt Diskordanz (fehlende Kongruenz) mit sich, derart daß ein normalerweise kongruierendes Satzglied statt des Genus den Sexus des bezogenen Substantivs aufnimmt, wie etwa in B1.

B33. Da war das Weib wieder. Sie war wirklich abscheulich.

Die Markiertheitsverhältnisse liegen in den meisten bekannten Genussystemen so, daß Maskulinum unmarkiert und Femininum markiert ist. (14) Beispiele wären etwa das schon angeführte morphologische Verhältnis vom Typ Wolf - Wölfin oder die Neutralisation der Opposition zugunsten des maskulinen Pols in Ausdrücken wie Studentenschaft (woneben es - noch - kein Studentinnenschaft gibt).

Der grammatische Locus der Kategorie 'Genus' ist das Personalpronomen. D.h. wenn eine Sprache überhaupt Genus hat, hat sie es dort; s. das Englische. Die Grundvoraussetzung hierfür ist die Empathiehierarchie, wonach an der Spitze der Hierarchie die meisten grammatischen Unterscheidungen gemacht werden. Im speziellen Falle des Genus kommt sekundär hinzu, daß im Personalpronomen die Kategorie 'Person' zentral ist und daß Sexus bei Personen am meisten Interesse hat.

Übungsaufgaben
1.Genus und Geschlecht



8. Die Abkürzungen in den Morphemübersetzungen besagen: ASP = Aspekt, KL = Klasse, x = runder Gegenstand, y = Menge Gegenstände, z = fabrizierter Gegenstand. Quelle: Davidson et al. 1963:30 apud Barron 1982:137.

9. KL1 = männlich; KL2 = weiblich.

10. HUM = menschlich, NONHUM = nicht-menschlich, KONN = Konnektiv.

11.

12.

13.

14. Dixon berichtet von einer Ausnahme bei den Amazonen.