In der bisher zugrundegelegten Semantikkonzeption hatten wir angenommen, die Bedeutung eines Wortes lasse sich als eine Menge semantischer Merkmale angeben. Die genaue Form dieser Merkmale hatten wir offengelassen. Allerdings impliziert die in Kap.2.2.1.1 eingeführte Darstellung der Verbindung von Merkmalen durch Konjunktion und Disjunktion, daß sie als Aussagen bzw. Propositionen aufgefaßt werden können. Nehmen wir etwa eine geläufige Merkmalanalyse:
Hengst: EQUIN
MÄNNLICH
Im aussagenlogischen Sinne ist damit folgendes gemeint:
x ist ein Hengst = x ist EQUIN
& x ist MÄNNLICH.
Nun hatten wir in Kap.2.2.1.2 gesehen, daß Ausdrücke natürlicher Sprachen i.a. vage sind, d.h. daß ihre Extension nicht genau abgegrenzt ist. Z.B. ist für den nicht hippophilen Durchschnittsdeutschen vermutlich nicht klar, ob ein Wallach ein Hengst ist oder nicht. Wenn wir eine Farbskala, etwa die Regenbogenfarben, vor uns haben, werden wir nicht sicher sein, wo die Grenze zwischen rot und gelb zu ziehen ist. Wenn wir die Gefäße in F12 vorgeführt bekommen, werden wir bei mehreren von ihnen nicht sicher sein, ob es sich um eine Tasse handelt.
F12. (aus Löbner 2003:262)
In all diesen Fällen tun wir uns bei einigen Kandidaten leicht mit der Entscheidung; z.B. finden alle, daß das Objekt 3 eine Tasse ist, das Objekt 1 dagegen nicht, sondern am ehesten ein Krug (oder eine Vase). Bei anderen Kandidaten zögern wir, kommen zu abweichenden Entscheidungen, entscheiden vielleicht auch morgen anders als heute; z.B. ist es nicht sehr klar, ob das Objekt 5 eine Tasse ist. Offensichtlich haben wir eine Vorstellung von einer typischen Tasse (der das Objekt 3 ziemlich nahe kommt) und beurteilen andere Kandidaten nach dem Grad ihrer Ähnlichkeit zu diesem typischen Vertreter. Objekt 3 ist also der Prototyp einer Tasse. Ein Prototyp ist ja im üblichen Sprachgebrauch ein Urbild, also ein Muster, nach dem weitere Exemplare hergestellt werden können. In der Semantik ist ein Prototyp ein vollkommenes Exemplar, also ein Phänomen, das seinen Begriff in idealer Weise verkörpert. Terminologische Alternativen sind Stereotyp' und fokale Instanz'. Der letztere Terminus weist darauf hin, daß der Prototyp gleichsam im Zentrum der Extension seines Begriffs steht und daß es vom Zentrum zu den Rändern eine Gradienz (Abstufung) oder ein Kontinuum (Abfolge von Elementen mit gleichsinniger, stufenloser Veränderung) gibt. Die am Rand der Extension stehenden Elemente sind keine guten Beispiele für den Begriff und sind teilweise schon Beispiele für einen benachbarten Begriff (in F12 z.B. für Krug oder Becher).
Auf einem Kontinuum kann es mehrere fokale Instanzen geben. Ein klares Beispiel hierfür ist die Regenbogenfarbskala. Auch in dem Wortfeld Gewässer' sind Strom, Fluß, Bach und Rinnsal als fokale Instanzen auf einem Kontinuum vorstellbar, und ebenso Meer, See, Teich und Tümpel.
Wenn die Zugehörigkeit eines gegebenen Elements zu der von einem Begriff denotierten Menge nicht klar entscheidbar ist, bedeutet dies, daß dessen Intension nicht aus aussagenlogisch verknüpften und binär entscheidbaren Merkmalen bzw. Propositionen zusammengesetzt ist. Im Falle der Farbwörter bedeutet dies, daß wir für diese Begriffe überhaupt keine als binäre Merkmale formulierbaren Kriterien haben. Im Falle der Tassen bedeutet es, daß wir zwar Kriterien für das Fallen unter den Begriff Tasse' haben, daß diese jedoch nicht binär und nicht konjunktiv verknüpft sind. Das Merkmal MIT HENKEL/GRIFF VERSEHEN z.B. dürfte unabdingbar sein, wenn nämlich das Objekt g, das sich von a nur in der Abwesenheit eines Henkels unterscheidet, ein Becher und keine Tasse ist. Dasselbe gilt wohl für das Merkmal TRINKGEFÄSS (i.S.v. "zum unmittelbar daraus Trinken bestimmt"), wenn man Objekt f mit a vergleicht. Andere Merkmale wie etwa Form und Größe (Objekte b bis e) sind dagegen nicht ebenso entscheidend. Z.B. ist das Merkmal ETWA EBENSO HOCH WIE BREIT zwar mit der prototypischen Tasse assoziiert, genügt aber nicht, um ein ihm nicht entsprechendes Objekt wie etwa b und d auszuschließen. Die Merkmale sind also offenbar nicht einfach konjunktiv verknüpft, sondern nach ihrer Wichtigkeit geordnet.
Diese Art der Analyse kann man im Prinzip auf alle Lexeme ausweiten. In B? geht es um den Begriff der Lüge.
B. a. x lügt (vor y)/x belügt y.
b. Fritzchen hat seine Hausaufgaben nicht gemacht. Die Mutter fragt Fritzchen: "Hast du deine Hausaufgaben gemacht?" Fritzchen antwortet: "Ja."
c. Erika fragt Fridolin: "Wo warst du?" Fridolin antwortet: "Bei Heinz." Er war in der Tat bei Heinz, aber danach noch zwei Stunden bei Erna.
Auch hier gibt es klare Fälle wie B?.b und weniger klare wie B?.c. Indem wir entscheiden, ob Fridolin gelogen hat, prüfen wir offenbar, ob eine Reihe von Bedingungen erfüllt sind, die unseren Begriff von lügen ausmachen, die aber nicht alle in jedem Fall erfüllt sein müssen.1
(1)Ein prototypischer Begriff ist ein Begriff, für den es einen Prototypen gibt. Sehr viele, vielleicht alle Begriffe natürlicher Sprachen sind prototypisch. Ein prototypischer Begriff kann durch eine Menge von Merkmalen definiert sein. Seine interne Struktur ist jedoch so, daß ein Phänomen auch dann unter ihn fallen kann, wenn es nicht allen Merkmalen entspricht. Nur der Prototyp vereinigt alle Merkmale auf sich. Die anderen Phänomene entsprechen vielleicht wechselnden Teilmengen der Gesamtmerkmalmenge und weisen somit untereinander eine Familienähnlichkeit auf.2
(2)1. 1 Hierzu gibt es einen anregenden Aufsatz: Coleman, Linda & Kay, Paul 1981, "Prototype semantics: the English word lie". Language 57:26-44.
2. 2 Vgl. hierzu Wittgenstein, Ludwig 1953, Philosophische Untersuchungen, S.67, und Bücher über die Philosophie der Psychologie.