Verwandtschaftstermini sind Wörter – in den meisten Sprachen Substantive –, die Verwandte bezeichnen, also Wörter wie Mutter, Bruder, Tochter, Schwager. Verwandtschaft hat nicht nur eine biologische Basis, sondern ist darüber hinaus in allen menschlichen Gesellschaften durch mehr oder weniger strikte soziale Konventionen organisiert. Entsprechend bilden die Verwandtschaftstermini in allen Sprachen ein relativ regelmäßig strukturiertes Feld.
In vielen Sprachen wie Deutsch ist das Wortfeld sehr umfangreich und kann daher hier nicht vollständig analysiert werden. Zur Illustration genügt folgender Ausschnitt.
Das erste und Wichtigste, was hier zu beachten ist, ist, daß Begriffe für Verwandte relationale Begriffe sind. Semantische Merkmale, welche für Eigenschaften solcher Verwandter stehen, wie [ ± weiblich ], reichen also zur Analyse nicht aus. Vielmehr muß die Analyse Bezug nehmen auf die Person, um deren Verwandte es sich handelt. Diese wird in der (anthropologischen und linguistischen) Behandlung der Verwandtschaftsterminologie traditionell Ego genannt. Damit ist nicht gemeint, daß die betreffende Person notwendigerweise der Sprecher ist; Ego ist lediglich ein Name für den Bezugspunkt.
Nun kann man Verwandtschaftstermini wie folgt analysieren:
x ist Schwester von y : | weiblich (x) & Elter (z, x) & Elter (z, y) & x ≠ y |
x ist Onkel von y : | ¬ weiblich (x) & Elter (z1, y) & Elter (z2, z1) & ( (Elter (z2, x) & x ≠ z1) v (Elter (z2, z3) & verheiratet (x, z3) & z1 ≠ z3 ) ) |
Quantifikation wurde hier übergangen, und auf die Unterscheidung von Geschwistern und Halbgeschwistern wurde ebenfalls verzichtet. Alle für die deutsche Verwandtschaftsterminologie benötigten Merkmale bzw. primitiven Prädikate sind hier bereits illustriert. Interessant ist, daß in der semantischen Repräsentation nicht nur die beiden Personen figurieren, von deren Verwandtschaft beim Gebrauch von Verwandtschaftstermini notwendig die Rede ist, sondern noch weitere Personen zi
, die im natursprachlichen Ausdruck gar nicht vorkommen. Die Anzahl der zusätzlich benötigten Individuenvariablen entspricht dem graduellen Unterschied zwischen nahen und fernen Verwandten.
Da Schwester – als Verwandtschaftsterm – eindeutig ist, sind alle elementaren Propositionen der semantischen Repräsentation konjunktiv verbunden. Onkel dagegen ist zweideutig. Die alternativen Bedeutungsanteile sind disjunktiv verbunden:
z1
).z3
) eines Elternteils verheiratet.Wenn man auf diese Weise die gesamte Verwandtschaftsterminologie einer Sprache analysiert hat, kann man Generalisierungen machen. Im Deutschen z.B. gilt, daß das Geschlecht ausschließlich für x
(den Referenten des Verwandtschaftsterms) relevant ist. In keiner semantischen Repräsentation muß man das Geschlecht einer anderen in die Beziehung involvierten Person angeben. (In einigen Fällen kann man es deduzieren; z.B. muß z3
oben weiblich sein. In anderen Fällen ist es gleichgültig, z.B. bei z1
.) Dies ist in anderen Sprachen anders. Dem deutschen Onkel entsprechen z.B. im Lateinischen die beiden Wörter patruus und avunculus. Für avunculus hätte man der o.a. Repräsentation die Proposition weiblich (z1)
hinzuzufügen, für patruus dagegen die Zeile ¬ weiblich (z1)
. Die verschiedene Umsetzung derselben biosozialen Relationen in den Lexika der beiden Sprachen kann man sich wie folgt veranschaulichen (die Variablen stimmen mit den vorigen nicht überein):
x4 ♂ | ∞ | x5 ♀ | y4 ♂ | ∞ | y5 ♀ | |
---|---|---|---|---|---|---|
↙↓↘ | ↙↓↘ | |||||
x2 ♂ | x3 ♀ | x1 ♂ | ∞ | y1 ♀ | y2 ♂ | y3 ♀ |
↓ | ||||||
EGO |
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