Begriff der Pragmatik
Der Ausdruck Pragmatik kommt von griech. pragma “Handlung”, pragmatikós “auf Handeln bezogen” und würde insofern eine jegliche Disziplin bezeichnen, die sich mit menschlichem Handeln befaßt. Eine solche Disziplin ist auch verschiedentlich konzipiert worden und heißt auf Deutsch ‘Handlungstheorie’. In der Linguistik wird der Terminus Pragmatik in einem engeren Sinne gebraucht (und deswegen wird manchmal der Präzision halber auch linguistische Pragmatik gesagt). Pragmatik ist, als Disziplin der Linguistik, die Lehre vom Platz der Sprachtätigkeit im Handeln des Menschen. Ihr Gegenstand sind Sprechakte, das sind Akte der Verständigung (der Redeerzeugung und des Redeverstehens), insoweit sie von Menschen in Situationen sozialer Interaktion ausgeführt werden.
Innerhalb der Linguistik steht die Pragmatik neben der Systemlinguistik. Denn das, was ein Sprecher meint und was ein Hörer versteht – der Sinn einer Nachricht –, ist nur zum Teil vom Sprachsystem, das sie verwenden, bedingt. Das folgende Diagramm zeigt neben dem Sprachsystem die anderen Bereiche, auf die in der Rede zurückgegriffen wird und die den Sinn einer Nachricht speisen.
Language system and discourse
Dies sind zwei Bereiche, die neben dem Sprachsystem als virtuelle Basen der Rede fungieren, nämlich enzyklopädisches Wissen und soziale Konventionen, sowie ein Bereich, der nur während der Aktualisierung zur Verfügung steht, nämlich die Sprechsituation mit allen ihren Komponenten und Aspekten, vor allem den Intentionen der Teilnehmer. Diese drei Bereiche sind Gegenstand der Pragmatik.
Die Pragmatik setzt also die Systemlinguistik, insbesondere die Semantik, voraus, und kombiniert diese mit Disziplinen, deren Gegenstand (auch) kognitive und kommunikative Akte des Menschen sind, darunter Semiotik, Anthropologie, Handlungstheorie und Kommunikationstheorie. Einige dieser Disziplinen betreiben ihrerseits Pragmatik, also ggf. nicht-linguistische Pragmatik.
Abgrenzung des Feldes
Pragmatik ist nicht klar gegen Semantik abgegrenzt. Die Idee der Unterscheidung ist jedenfalls die folgende:
- Die Semantik als Teil der Systemlinguistik untersucht die Beziehung zwischen der Bedeutung eines Sprachzeichens und seiner Ausdrucksstruktur; d.h. sie untersucht Aspekte der Bedeutung, die kodiert sind.
- Die Pragmatik befaßt sich mit dem Sinn von Äußerungen und folglich mit all dem, was kommuniziert wird, ohne sich aus den Regeln des Sprachsystems zu ergeben. Stattdessen ergibt es sich durch Kombination der Bedeutung mit dem Wissen über die Komponenten der Sprechsituation, über die Welt und über soziale Konventionen.
Diese Abgrenzung nimmt also auf die Unterscheidung von Bedeutung und Sinn Bezug und sagt, auf zwei kurze Begriffe gebracht, nichts anderes als:
- Bedeutung ist der Gegenstand von Semantik.
- Sinn ist der Gegenstand von Pragmatik.
Die Abgrenzung ist dennoch nicht ganz trennscharf, denn sie setzt einen sauber abgegrenzten Begriff des Sprachsystems voraus. Tatsächlich sind daran aber einige Aspekte nicht hundertprozentig klar:
- Unter Sprachsystem versteht man das System einer bestimmten Sprache. Können dann – wenigstens einige – universale Eigenschaften menschlicher Sprache zum Sprachsystem gehören?
- Wo verläuft, innerhalb der Gesamtheit der in einer Sprachgemeinschaft geltenden Kommunikationskonventionen, die Grenze zwischen den sprachlichen und den nicht-sprachlichen Konventionen?
Wenn ein relativ enger Begriff von Sprachsystem gebildet wird, kann auch die Semantik einigermaßen sauber eingegrenzt werden. Der Effekt eines solchen Verfahrens ist, daß Pragmatik negativ definiert wird als zuständig für alle Aspekte des in der Kommunikation Übermittelten, die nicht im Sprachsystem niedergelegt sind.1 Das ergibt einen ziemlich heterogenen Begriff von Pragmatik, denn Wissen (über die Welt und Kommunikationskonventionen) ist eben virtuell, aber die Sprechsituation ist aktuell.
Daher ist für ein paar Gebiete der Linguistik die Zuordnung in diesem Sinne zweifelhaft:
Informationsstruktur und Pragmatik
Die Informationsstruktur von Sätzen und Texten wird gelegentlich2 zur Pragmatik gerechnet. Sie fällt aus folgendem Grunde nicht unter die obige Definition: Die Informationsstruktur ist eine Eigenschaft eines – allerdings für Prosodie spezifizierten – Satzes, nicht eine Eigenschaft einer Äußerung (s. Satz vs. Äußerung).
Referenz und Pragmatik
Die Referenz eines sprachlichen Ausdrucks wird unter Zuhilfenahme einer heterogenen Menge von Feldern konstruiert, nämlich
- der sprachlichen Bedeutung
- des Redeuniversums
- enzyklopädischen Wissens
- gemeinsamer Erfahrung der Sprechaktteilnehmer
- der Sprechsituation.
Zur Semantik gehören die Aspekte #1 und #2 der Referenz, einschließlich der Regeln der Anapher. Wenn z.B. ein neutrales Substantiv wie Model anaphorisch mit sie aufgenommen wird, hat das nichts mit Pragmatik zu tun; denn eine linguistische Erklärung des Phänomens braucht über die Felder #3 - 5 nichts zu wissen.
Dasselbe gilt für Operationen über das Redeuniversum: Operationen der Determination, die Referenten in Bezug zum Redeuniversum setzen, und interpropositionale Operationen, die Propositionen in Bezug zum Redeuniversum setzen, gehören zur Semantik, soweit sie eben im Sprachsystem geregelt und folglich in Nachrichten in regelmäßiger Weise kodiert sind.
Das Feld #3 gehört per definitionem nicht zur Semantik, wiewohl die Grenze zwischen semantischem und enzyklopädischen Wissen fließend ist. Es gehört nach dem eingangs Gesagten zur Pragmatik.
Das Feld #4 gehört i.w.S. zur Sprechsituation, insofern es sich um mentale Repräsentationen von Menschen in ihrer Eigenschaft als Sprechaktteilnehmer handelt. Auch hierfür ist also die Pragmatik zuständig.
Wenn schließlich ein referentielles Pronomen, wie in das ist schön, sich auf einen Gegenstand der Sprechsituation bezieht, so muss man diese kennen, um seinen Referenten zu kennen. Das Feld #5 der Referenz gehört folglich ebenfalls zur Pragmatik.
Folglich ist sprachliche Referenz sowohl Gegenstand der Semantik als auch Gegenstand der Pragmatik.
Deixis und Pragmatik
Deixis ist eine Art von Referenz. Sie wird oft zur Pragmatik gerechnet. Es gilt jedoch dasselbe wie für Referenz im allgemeinen: Insofern deiktische Ausdrücke Bestandteile des Sprachsystems sind, fällt ihre Bedeutung in die Semantik. Aber die Frage, worauf sich ein Deiktikum im aktuellen Diskurs bezieht, ist nur unter Rückgriff auf die Sprechsituation zu klären und gehört insofern in die Pragmatik.
Am Beispiel gesprochen: Die gelegentlich zu lesende Behauptung, was der Ausdruck ich bedeute, könne man nur sagen, wenn man die Sprechsituation kenne, ist Unsinn. Ich bedeutet ‘der aktuelle Sprecher’; und das reicht vollständig aus, um im aktuellen Fall seine Referenz zu konstruieren. Wer das nun freilich im aktuellen Falle ist, das erfährt man nur, wenn man die Sprechsituation kennt.
1 In Levinson 1983:29 et pass. wird Pragmatik ganz anders zugeordnet, nämlich nicht nur dem Sprachsystem, sondern sogar der Grammatik. Hier ist ‘Grammatik’ anscheinend koextensiv mit der Sprachbeherrschung einer Person.
2 z.B. in der Amsterdamer Functional Grammar bzw. Functional Discourse Grammar; dagegen u.a. Lambrecht 1994