Das folgende Schaubild veranschaulicht die Stellung der Sprachwissenschaft (SW) im Kreise ihrer unmittelbaren Nachbarwissenschaften, interdisziplinäre Beziehungen sowie die Untergliederung der Sprachwissenschaft in Disziplinen, die sich z.T. nach rein internen Gesichtspunkten, z.T. eben durch die Interdisziplinarität ergibt. Die angezeigten Verknüpfungen sind ganz schematisch; weder ist ihre Menge vollständig, noch sagen sie etwas über die Natur der Verbindung aus. Auch die im folgenden vorgenommenen Abgrenzungen zwischen den Disziplinen sind schematisch. Sie dienen nicht dazu, bestehende Gemeinsamkeiten und Überlappungen herunterzuspielen, sondern sollen lediglich Unterschiede im Erkenntnisinteresse und in der Methodologie aufzeigen. Schließlich ist auch die Granularität der Untergliederung unausgewogen.

Stellung und Untergliederung der Sprachwissenschaft

Gegeben die Definition von Sprache als das unbeschränkte Schaffen von interpersonal verfügbaren Bedeutungen, also Bedeutungen von Zeichen, so ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft eine Art von Zeichen. Somit ist Sprachwissenschaft eine Subdisziplin der Wissenschaft von den Zeichen, also der Semiotik. Tatsächlich ist Linguistik der zentrale Teil der Semiotik; andere Subdisziplinen der Semiotik existieren in erster Linie als Teile anderer Disziplinen, so etwa die Zoosemiotik als Teil der Biologie.

Außerhalb der Semiotik stehen unmittelbar neben der Linguistik die Sprachphilosophie einerseits und die Phonetik andererseits. Dies ergibt sich aus der bilateralen Natur des Sprachzeichens: Die Sprachphilosophie befaßt sich mit der inhaltlichen, die Phonetik mit der lautlichen Seite des Sprachzeichens. Da die Phonetik mit der Bedeutung nichts zu tun hat, kann sie als Naturwissenschaft betrieben werden. Die Philosophie andererseits nimmt einen logischen, keinen empirischen Zugang zu Sprachzeichen.

Zwei andere Subdisziplinen der Philosophie sind ebenfalls für die Sprachwissenschaft relevant: Die Wissenschaftstheorie hat die Sprachwissenschaft ebenso zum Gegenstand wie überhaupt alle Wissenschaften, und aus dieser besonderen Kombination resultiert die Epistemologie der Sprachwissenschaft als eine der Subdisziplinen der letzteren. Alles, was diese Webseite sagt, gehört zu dieser Subdisziplin.

Die Logik hat das Denken, nicht die Sprache zum Gegenstand. Aber weil sich Denken, zumal in der Wissenschaft, vorzüglich in Sprache manifestiert, schafft die Logik formale Repräsentationen von Bedeutungen. Grob gesagt, konzentriert sich die Logik auf die kognitive Funktion der Sprache, während die Sprachphilosophie die kommunikative Funktion einbezieht (s. Funktionen der Sprache).

Die Philologie hat auch Sprachliches zum Gegenstand, aber nicht das System, sondern den Text (s. System vs. Text). Und dieser letztere interessiert auch nicht, wie in der Linguistik, in erster Linie wegen seiner Struktur, sondern wegen der Inhalte, die er transportiert, und insbesondere der Kultur, die er repräsentiert.

Schließlich stehen neben der Sprachwissenschaft andere Disziplinen, die verschiedene Aspekte des Menschen und seines Lebens zum Gegenstand haben. Die Psychologie befaßt sich mit den seelischen – geistigen und emotiven – Vorgängen im Menschen, die Soziologie dagegen mit der Struktur menschlicher Gemeinschaften. Da die Sprache eine kognitive Funktion hat, ist sie im Kopf des Individuums repräsentiert und somit auch Gegenstand der Psychologie (Sprachpsychologie); und da sie eine kommunikative Funktion hat, ist sie gesellschaftliche Praxis und somit auch Gegenstand der Soziologie (Sprachsoziologie). Die Ethnologie unterscheidet sich von der Soziologie vor allem dadurch, daß letztere ihren Gegenstand vor allem auf diejenigen Gesellschaften beschränkt, von denen sie betrieben wird, während die Ethnologie alle Gesellschaften der Welt untersucht und vergleicht. Selbstverständlich könnte man noch weitere Wissenschaften wie die Biologie, die Neurologie und die Geschichtswissenschaft in die Reihe der Wissenschaften stellen, deren interdisziplinäre Beziehungen zur Linguistik Subdisziplinen der letzteren schaffen. Dabei ist im Auge zu behalten, daß diese interdisziplinären Beziehungen sich in erster Linie aus der wissenschaftstheoretischen Systematik ergeben. Ob sie in der akademischen Praxis tatsächlich gelebt werden, ist eine andere Frage.

Die Linguistik nun läßt sich auf allgemeinster Ebene in fünf Subdisziplinen untergliedern: Die Epistemologie und die Geschichte der Sprachwissenschaft haben nicht die Sprache, sondern die Sprachwissenschaft zum Gegenstand. Die erstere behandelt die Frage, was für eine Wissenschaft die Linguistik überhaupt ist und wie sie betrieben werden kann. Die letztere zeichnet die Entwicklung dieser Disziplin im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte nach. Es folgen die deskriptive Linguistik und die allgemeine Sprachwissenschaft als die beiden zentralen Disziplinen des Fachs. Beide haben die Sprache zum Gegenstand, und zwar die erstere die ‘langue’, die letztere den ‘langage’ (s. ‘langue vs. langage’). Die deskriptive Linguistik befaßt sich mit der Beschreibung je einer Sprache; unter sie fallen also solche akademischen Disziplinen wie anglistische und russistische Linguistik. (Die meiste Linguistik, die faktisch betrieben wird, ist daher deskriptive Linguistik.) Die allgemeine Sprachwissenschaft dagegen hat die menschliche Sprache zum Gegenstand und muß, da diese nicht selbst unmittelbar in Erscheinung tritt, methodische Ansätze zu diesem Gegenstand finden. In deduktiver Hinsicht bietet sich da die Sprachphilosophie, in induktiver der Sprachvergleich an. Die Paralinguistik schließlich befaßt sich mit Kommunikation zwischen Menschen, die nicht auf dem lautsprachlichen System beruht.

Literatur

Jakobson, Roman 1969, "Linguistics in its relation to other sciences." Proceedings of the International Congress of Linguists 10(1):75-122 (Revised: Jakobson 1971:655-696).