In einem ersten Schritt stellt man folgende Variation fest (der in der Orthographie vorgesehene Apostroph ist weggelassen):
mit /e/ | ohne /e/ |
ich gehe | ich geh |
ich leihe | ich leih |
ich schaue | ich schau |
ich komme | ich komm |
ich renne | ich renn |
ich feile | ich feil |
ich scharre | ich scharr |
ich kaufe | ich kauf |
ich rauche | ich rauch |
ich breche | ich brech |
ich erlaube | ich erlaub |
ich merke | ich merk |
ich lüge | ich lüg |
Jetzt besteht die Versuchung, zur Erklärung der Variation sogleich auf eine höhere Analyseebene – Bedeutung, Stil, Sprachgebrauch o.ä. – zu springen. Z.B. findet der Zweifelsfälle-Duden (Aufl. 2001:449) ohne weiteres, daß die Formen der rechten Spalte “sich vor allem in der Mundart, in der Umgangssprache und in literarischen Texten” finden. So geht man methodisch nicht vor. Statt dessen analysiert man die Variation zunächst auf derselben Ebene, welcher die in Frage stehenden Einheiten angehören. Daher:
In einem zweiten Schritt stellt man fest, daß nicht alle Verben solche Variation aufweisen:
mit /e/ | ohne /e/ |
ich arbeite | - |
ich meide | - |
ich sende | - |
ich schwärze | ?ich schwärz |
ich reife | ?ich reif |
Man analysiert die betreffenden Verbstämme und stellt fest, daß wenn der Stamm auf dentalen Okklusiv endet, das /e/ obligatorisch ist, und wenn er auf dentalen Frikativ oder Affrikat endet, man es auch lieber beläßt. Hier könnte man nun einen lautlichen Zusammenhang vermuten.
In einem dritten Schritt konjugiert man dieselben Verben durch die anderen Personalformen, also z.B.:
1. Sg. | 2. Sg. | 3. Sg. |
ich geh(-e) | du geh-st | er geh-t |
ich komm(-e) | du komm-st | er komm-t |
ich kauf(-e) | du kauf-st | er kauf-t |
ich arbeit-e | du arbeit-est | er arbeit-et |
ich meid-e | du meid-(e)st | er meid-et |
ich schwärz-e | du schwärz-(es)t | er schwärz-t |
Hier sieht man nun, daß das /e/ der 1. Ps. Sg. genau bei den Verben nicht weglaßbar ist, die auch in der 2. und 3. Ps. Sg. ein /e/ erfordern, und daß es bei den Verben weniger leicht weglaßbar ist, die auch in der 2. Ps. gelegentlich noch ein /e/ haben. In diesen Personen hinwiederum ist das /e/ leicht phonologisch motivierbar, nämlich als Vokal, der zwei Dentale voneinander trennt.
Daß in diesen Verben auch die 1. Ps. Sg. ein /e/ erfordert, ist nicht auf diese (oder eine andere) Weise phonologisch motivierbar. Vielmehr wird offensichtlich die Regel, welche für die 2. und 3. Person gilt, auf alle Personen des Konjugationsparadigmas verallgemeinert. Die Beschränkung der Weglassung des /e/ in der 1. Ps. Sg. ist also ein Fall von paradigmatischem Ausgleich.
Nun erst ist der Moment gekommen, wo man prüfen kann, unter welchen Bedingungen dieser – immer noch optionale – paradigmatische Ausgleich vorgenommen bzw. unterlassen wird. Da kann es nun sein, daß literarische Sprache auf den paradigmatischen Ausgleich verzichtet, z.B. um Unterscheidungen aufrechtzuerhalten.