Urindogermanisch ist die Ursprache, aus der sich alle indogermanischen Einzelsprachen entwickelt haben. Ihr Sprecher kannten die Schrift nicht; sie wurde mit den Methoden der historischen Vergleichung rekonstruiert. Sie muß zuletzt um 3.000 v.Ch. gesprochen worden sein, bevor sie sich in die einzelnen indogermanischen Sprachen, wie Urgriechisch, Uritalisch, Urkeltisch, Urgermanisch usw. aufspaltete. Folgende Karte zeigt die geographische Verbreitung:
Linguisten und Historiker versuchen, die Indogermanen mit einem archäologisch greifbaren Volk zu identifizieren. Die Methode dazu wurde 1877 von Pictet unter dem Namen linguistische Paläontologie eingeführt. Sie besteht darin, vom lexikalischen Bestand und evtl. von Textfetzen, die sich in gleicher Weise in allen altindogermanischen Sprachen erhalten haben, auf die Kultur der Sprecher zu schließen. So versucht man, von der Verwendung des Wortes für Vater, *pə2tḗr, auf eine patriarchalische Gesellschaft und eine Religion mit einem obersten Vatergott und aus dem Vorhandensein von Wörtern für Haustiere und Getreide auf eine landwirtschaftlich geprägte Kultur zu schließen. In ähnlicher Weise argumentiert aus dem Vorhandensein von Wörtern für Begriffe, die an bestimmte geographische Räume gebunden sind, für eine bestimmte Urheimat der Indogermanen. Zwar haben solche Argumentationen eine gewisse Plausibilität. Beweisen können sie aber leider nur, daß den Indogermanen die betreffenden Begriffe und Verhältnisse bekannt waren, nicht, daß sie deren Kultur geprägt haben. Die Beweissituation ist ähnlich wie bei der angeblichen Korrelation von Sprachfamilien mit menschlichen Genen: Gedanken reisen unabhängig von Personen.
Da keine der historischen indogermanischen Sprachen als direkter Fortsetzer des Ur-Indogermanischen bezeichnet werden kann, ist auch die Urheimat der Indogermanen nicht mit Sicherheit lokalisierbar. Die wahrscheinlichste Hypothese ist 1995 die Assoziation der Ur-Indogermanen mit der Sredny-Stog-Kultur, die von -4.500 - -3.500 in der südrussischen Steppe nördlich des Schwarzen Meeres herrschte. Andere verlegen die Urheimat nach Polen oder Ostanatolien.
Sicher ist, daß die Indogermanen am Ende der Jungsteinzeit und dann in der Bronzezeit ganz Europa sowie weite Teile West- und Südasiens besiedelten. In keinem dieser Gebiete sind sie autochthon; überall trafen sie auf eine ältere Bevölkerung. Z.B. wohnten in Schottland die vorkeltischen Pikten; im Mittelmeerraum, z.B. auf Malta nachweisbar, gab es mediterrane Kulturen, in Iberien saßen die Iberer, in Kleinasien die Hattier, in Indien die Draviden. Die Urbewohner Germaniens sind für den blonden, blauäugigen Typ verantwortlich; er ist wohl nicht indogermanisch. Die Indogermanen setzten in den besiedelten Gebieten indogermanische Sprachen gegenüber den Substraten durch. Nach Mitteleuropa abgewanderte Indogermanen (z.B. Ur-Kelten, -Germanen und -Italiker) können die Träger der Kultur sein, die die vorindogermanische Trichterbecherkultur ablöste und dort -3.000 - -2.000 bestand. Vom Beginn des 2. Jt. v.Ch. an werden indogermanische Sprachen in Anatolien und Griechenland historisch faßbar. Die Indogermanen hatten bereits (mündlich überlieferte) metrische Dichtung, von der sich Spuren in einzelnen Tochtersprachen finden.
Der folgende Stammbaum stellt die wichtigsten indogermanischen Sprachen dar:
Die Anordnung der Äste und Zweige des Baums folgt teilweise dem Konzept des Dialektkontinuums. Das betrifft insbesondere die Abteilungen ‘Arisch - Balkanisch’ einerseits sowie ‘Italisch - Keltisch - Baltisch - Slavisch’ andererseits. Anatolisch dagegen ist von der übrigen Familie relativ deutlich getrennt.
Die folgende Tafel illustriert an einigen Beispielen, wie man anhand regelmäßiger Entsprechungen Teile des indogermanischen Lexikons rekonstruiert.
Nr. | Spr. | Wort | Bedeutung | idg. Wort | Bedeutung |
---|---|---|---|---|---|
a) | ahd. | sehs | sechs | ||
lat. | sex | sechs | |||
gr. | hex | sechs | |||
ai. | śaś- | sechs | sek̑s | sechs | |
b) | ahd. | ahto | acht | ||
lat. | octō | acht | |||
gr. | oktō | acht | |||
ai. | aśtau | acht | ok̑tō(w) | acht | |
c) | ahd. | loh | Kahlschlag | ||
lat. | loucos | Hain | |||
ai. | lōkah | (freier) Raum | louk-o-s | heller Platz | |
d) | got. | fadar | Vater | ||
lat. | pater | Vater | |||
gr. | patḗr | Vater | |||
ai. | pitā (Dat. pitré) | Vater | pətḗr | Vater | |
e) | ahd. | swestar | Schwester | ||
lat. | soror | Schwester | |||
ai. | svasā (Dat. svasré) | Schwester | swesor | Schwester | |
f) | lat. | it | er geht | ||
gr. | eîsi | er geht | |||
ai. | éti | er geht | eî-ti | er geht | |
g) | got. | wait | ich weiß | ||
lat. | vīdī | ich habe gesehen | |||
gr. | oida | ich weiß | |||
ai. | véda | ich weiß | woid-a(i) | ich habe gesehen → weiß |
Ebenso rekonstruiert man auch die Morphologie, wie die folgende Tafel illustriert:
Form | Funktion | vgl. vorige Tafel | |
a) | -ti | 3.Sg.Prs.Ind.Akt. | f) |
---|---|---|---|
b) | -a(i) + Wurzelablaut | 1.Sg.Perf.Ind.Akt. | g) |
c) | ∅ | Nom.Sg.m. konsonant. Deklination | d), e) |
d) | -s | Nom.Sg.m. o-Deklination | c) |
Gleichzeitig wird dabei die Phonologie rekonstruiert. Z.B. enthält das indogermanische Phonemsystem:
Lateinisch gehört zum italischen Zweig der indogermanischen Sprachfamilie, stammt also vom Uritalischen ab. Dieses sowie die Zweige ‘Latino-Faliskisch’ und ‘Sabellisch’ (= Oskisch-Umbrisch) sind selbst nicht belegt. Abgesehen von den romanischen Sprachen, sind alle italischen Sprachen in der Antike ausgestorben.
In Italien wurden im 1. Jt. v.Ch. eine Reihe von Sprachen gesprochen, die genetisch ganz heterogen waren. Die Karte gibt die Sprachgebiete etwa im 3. Jh. v.Ch. (also lange bevor die Römer ganz Italien unterworfen hatten) an.
In Italien wurden seit Beginn der historischen Zeit verschiedene Sprachen gesprochen. Im Zuge der politischen Entwicklung kam Latein mit allen in Kontakt und hat daher auch von allen Lehnwörter, besonders aus dem Griechischen.
Die antiken Sprachen Italiens lassen sich genetisch wie folgt klassifizieren:
Etruskisch ist vom 7.Jh. v.Ch. bis zum 2.Jh. n.Ch. belegt. Die Etrusker sind vermutlich Anfang des 1. Jt. v.Ch. aus der Ägäis nach Italien eingewandert. Sie wohnten in Mittelitalien (Etrurien, heute Toskana). Sie beherrschten die römische Geschichte mindestens vom 7. Jh. bis ca. 400 v.Ch. Sie hatten Literatur. Sie schrieben in einem westgriechischen Alphabet, das sie von den Griechen gelernt hatten. Man kann die Texte daher lesen, aber nur bruchstückweise verstehen.
Punisch ist die Sprache der Punier, ein phönizischer Dialekt. Die Punier stammen aus dem Libanon und haben in Nordafrika eine Kolonie gegründet. Von dort breitet sich das punische Reich über Kalabrien, Sizilien, Korsika, Sardinien und Spanien aus. Die Hauptstadt ist Karthago. Das Reich wird -146 von den Römern zerstört.
Keltisch wird spätestens seit 400 v.Ch. in Oberitalien gesprochen. Zu Beginn des 2. Jh.v.Ch. werden die Kelten von Rom unterworfen und romanisiert. Es gibt nur Inschriften und fremdsprachliche Quellen.
Messapisch wird in Apulien (antikes Kalabrien) gesprochen. Die Inschriften sind nur teilweise verständlich.
Griechisch wird seit der ionischen Kolonisation von Kampanien und Ostsizilien sowie der dorischen von Apulien und Südwestsizilien (ca. 750-550 v.Ch.) in Süditalien (“Magna Graecia”) gesprochen. Die überwiegend gesprochenen Dialekte sind dorisch. Der Sprachraum wird seit dem 3.Jh. v.Ch. zugunsten von Latein eingeschränkt. Allerdings setzt das Latein sich nur langsam durch. Noch Tacitus (Ende 1. Jh.) bezeichnet Neapel (griech. néa-pólis “Neu-stadt”) als urbs quasi Graeca “eine i.w. griechische Stadt”. Griechisch ist in einigen unteritalienischen Bergdörfern (Südkalabrien östl. von Reggio und südl. von Lecce) noch bis Ende des 20. Jh. gesprochen worden.
Umgekehrt hat Griechisch starken Einfluß auf das Latein. Zu den ältesten Lehnwörtern aus dem Griechischen zählen die folgenden:
Seit Mitte des 2. Jh.v.Ch. werden griech. θ, φ, χ durch <th ph ch> wiedergegeben.
Seit Mitte des 1. Jh.v.Ch. wird griech. υ nicht mehr durch <V>, sondern durch <Y> (neuer Buchstabe!) wiedergegeben.
Die anderen indogermanischen Völker (Griechen, Hethiter, Arier) gelangten durch Wanderungen in ihre in Südeuropa oder Südostasien gelegenenen Wohnsitze. Das gilt auch für die Italiker. Sie wanderten aus der italisch-keltisch-germanischen Dialektgemeinschaft ab nach Italien ein, vermutlich (wie die Griechen) in mehreren Schüben im 2. Jt.v.Ch. Die italischen Sprachen sind keine Vorstufen des Latein., sondern gleichzeitige Sprachen. Oskisch z.B. war vor den Bundesgenossenkriegen (91 - 88 v.Ch.) stärker vertreten als Latein. Zur Zeit des Augustus jedoch waren bereits alle außer Oskisch schon durch Latein verdrängt. Alle außer Oskisch und Umbrisch sind nur sehr fragmentarisch bezeugt.
Die Verwandtschaftsverhältnisse der italischen Sprachen und des Lateinischen im besonderen sind in folgendem Stammbaum dargestellt:
Ein unetikettierter Knoten im Baum bedeutet eine engere Zusammengehörigkeit der von ihm abhängigen Sprachen, ohne daß diese mit einer Sprache identifiziert werden könnte.
Venetisch ist eine indogermanische Sprache des italischen Zweigs, die in Venetien (heute Venetien und Slowenien) gesprochen wurde und auf etwa 200 Inschriften aus dem 6. bis 1. Jh. v.Ch. erhalten ist. Die Texte sind in einem nordetruskischen Alphabet abgefaßt, linksläufig geschrieben und nur bruchstückweise verständlich.
Oskisch ist eine italische Sprache, die von den Samniten in Zentral- und Süditalien (Samnium, Kampanien, schwach in Lukanien, Nordapulien) gesprochen wurde. Belegt vom 5. Jh. v. Ch. (Münzlegenden) bis Mitte des 1. Jh. n. Ch. (Pompei). Über 200 Inschriften; die meisten linksläufig in einem eigenen, aus dem westgriechischen abgeleiteten Alphabet; einige im lateinischen (Tabula Bantina) oder griechischen Alphabet.
Umbrisch ist eine italische Sprache, die in Umbrien (nördl. Zentralitalien, östlich der Toscana) gesprochen wurde. Ursprünglich wohnten die Umbrer auch in der Toscana, wurden von dort aber durch die einwandernden Etrusker vertrieben. Die Sprache ist vor allem durch die iguvinischen Tafeln (Ritualtext) bekannt.
Latein war mit den anderen italischen Sprachen zu verschiedenen Graden wechselseitig verständlich, mit einigen wie Umbrisch sicher überhaupt nicht. Es hat jedoch von ihnen wie auch von den größeren in Italien gesprochenen Sprachen Lehnwörter aufgenommen, die wegen der genetischen Nähe oft von echt lateinischen Wörtern nicht so leicht zu unterscheiden sind.
Wann die anderen Sprachen Italiens letztlich ausgestorben sind, ist nicht mehr feststellbar; feststellen kann man nur, bis wann sie geschrieben worden sind. Für alle außer Latein und Griechisch endet die schriftliche Verwendung spätestens 200 n.Ch. Bei Beginn des Mittelalters werden sicher nur noch Latein (bzw. Urromanisch) und Griechisch gesprochen.