Begriff der Norm

Eine Norm ist eine Menge von Propositionen, die für eine bestimmte Domäne menschlichen Handelns in einer Gesellschaft einen Sollzustand definiert, d.i. eine Ausprägung des Handelns, welche der Handelnde anzustreben hat, soweit keine höherwertigen Prinzipien dem entgegenstehen.

Für den Begriff der Norm ist es gleichgültig, ob diese Menge von Propositionen explizit formuliert ist oder als implizite Konvention in einer sozialen Gemeinschaft gilt.

Eine Norm hat einen sozialen und zeitlichen Geltungsbereich; sie ist gebunden an eine menschliche Gemeinschaft. Es gibt Normen auf allen Ebenen von der Familie bis hinauf zu internationalen Organisationen.

Der Ausdruck ‘höherwertiges Prinzip’, der in der Definition auftritt, verweist darauf, daß eine Norm nicht absolut gilt, sondern Bestandteil eines Wertesystems ist. Ob in einem bestimmten Bereich überhaupt eine Norm bestehen sollte, welche Ausprägungen sie genau umfassen sollte und unter welchen Bedingungen sie einzuhalten ist bzw. von ihr abgewichen werden kann, das alles sind Fragen, die die Norm selbst nicht beantwortet, sondern die nur im Rahmen des übergeordneten Wertesystems beantwortet werden können.

Rolle der Norm im Verhalten des Einzelnen

Ein zentraler Gegenstand jeglicher Erziehung und Bildung ist eine rationale Einstellung zur Norm. In allen Lebensbereichen bestehen Normen, und jeder hat jeweils die Entscheidung zu fällen, ob er sich daran hält oder nicht. Aus dem Begriff der Norm ist folgende Maxime ableitbar:

  1. Willst du von der Norm abweichen, bist du an folgende Bedingungen gebunden:
    1. Du beherrschst die Norm.
    2. Du kennst die Bedingungen und die Konsequenzen, welche mit der Einhaltung der Norm und welche mit einer Abweichung davon verbunden sind.
    3. Du trägst die Verantwortung für dein Handeln.
  2. Andernfalls halte dich an die Norm.

Satz 2 ist der allgemeinere Satz, der den Default bezeichnet, welcher Ausnahmen nicht ausschließt, sondern lediglich als solche kennzeichnet.

Satz 1c gilt sowieso immer im menschlichen Leben; er gilt aber bei Abweichungen von der Norm in besonderer Schärfe, weil man sich hier nicht auf etablierten und gesellschaftlich legitimierten Brauch berufen kann.

Normerziehung

Die Maxime impliziert, recht verstanden, die Vermeidung zweier entgegengesetzter und gleichermaßen falscher pädagogischer Strategien:

  1. Konformismus: Das Ziel besteht nicht darin, daß die Schüler das mitgebrachte Verhalten durch normgerechtes Verhalten ersetzen, womöglich noch unter Einsatz von Sanktionen im Falle der Abweichung. Stattdessen besteht das Ziel darin, daß die Schüler die drei Voraussetzungen des ersten Teils der Maxime erfüllen lernen.
  2. Anarchismus: Das Ziel besteht auch nicht darin, die herrschende Variation zu liberalisieren und jegliches Verhalten für gleich gut zu erklären. In vielen Lebensbereichen ist es sinnvoll, daß eine Norm besteht, und oft sind auch die bestehenden Normen sinnvoll. Statt dessen besteht das Ziel darin, daß die Schüler die eigenen Entscheidungen und das Verhalten reflektieren und die Verantwortung dafür übernehmen.

Bildung in der sprachlichen Norm

Die Maxime ist u.a. auf kommunikatives Verhalten anwendbar, einschließlich der Befolgung grammatischer und orthographischer Regeln. Die sprachliche Ausbildung hat ganz wesentlich zum Gegenstand, die Schüler an die Einhaltung der Norm zu gewöhnen. Das wird immer wieder unter der Überschrift ‘richtig vs. falsch’ gemacht. Die Schüler stellen aber fest, daß tatsächlich jeder einschließlich des Lehrers sich ständig in diesem Sinne ‘falsch’ verhält und daß man diese Lehre daher am besten als irrelevant betrachtet. Daraus resultiert eine unsachgemäße Einstellung zur sprachlichen Norm, mit schädlichen Konsequenzen für das Individuum und für die Gemeinschaft.

Man betrachte die Regel ‘wegen regiert den Genitiv’ als Beispiel. Die Regel ist Bestandteil der hochsprachlichen deutschen Norm. Somit ist die Formulierung wegen des Standards normgerecht (“hochdeutsch”), die Formulierung wegen dem Standard dagegen nicht. Das Ziel der sprachlichen Erziehung in diesem Punkte wäre völlig mißverstanden, wenn der Lehrer es darauf anlegen wollte, den Schülern Formulierungen wie wegen dem Standard auszutreiben. Das kann er erstens nicht schaffen, da er selbst auch so redet; und zweitens ist das ein ganz unsinniges Ziel, das aus der Rolle der Norm in der Gesellschaft überhaupt nicht ableitbar ist.

Statt dessen ist anhand eines solchen Beispiels zu erklären,

  1. allgemein: daß in der deutschen Sprache Variation herrscht, daß ein Großteil der Varianten grosso modo1 über den mündlichen vs. schriftlichen Sprachgebrauch verteilt sind, daß für den schriftlichen Sprachgebrauch eine Norm definiert ist, die für den mündlichen Gebrauch irrelevant sein kann, usw.
  2. insbesondere: daß die Konstruktion ‘wegen mit dem Genitiv’ Bestandteil der schriftlichen Norm ist.

Anders gesagt: Schreibe tunlichst wegen des Standards, sonst weichst du von der Norm ab. Die Konsequenz davon kann sein, daß dein Leser dich nicht versteht, oder daß er schließt, daß du die Norm nicht beherrschst. Beide Konsequenzen sind negativ für dich und evtl. auch noch für andere. Beim Reden dagegen gelten andere Bedingungen und ggf. sogar andere Normen. Hier wird wegen dem Standard i.a. unauffällig sein; und mit wegen des Standards könntest du sogar auffallen.


1 In Wahrheit ist es komplizierter, weil man u.U. in mündlicher Rede schriftliche Standards befolgen und andererseits in Umgangssprache schreiben kann. Diese Problematik ist unter der Überschrift ‘ Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit’ bekannt.