Verlust

Allgemeines

Der Verlust lexikalischer Einheiten ist z.T. ein trivialer Vorgang: Wörter werden nicht mehr benötigt, also nicht mehr benutzt und geraten in Vergessenheit. So kennt kaum ein heutiger Deutschsprecher die Wörter Brünne und Kemenate, weil man mit ihren Designata kaum noch zu tun bekommt.

Daß ein Ausdruck ersatzlos verschwindet, kann tatsächlich nur passieren, wenn das Designatum nicht mehr benötigt wird. Häufiger dürfte der Fall sein, daß - bei durchaus fortbestehendem Designatum - die Bezeichnung ausgetauscht wird. Z.B. hatte man im Altenglischen (ebenso wie im Althochdeutschen; s.o.) zunächst eine Lehnübersetzung von lat. conscientia in Form von ae. inwit eingeführt. Diese hielt sich jedoch nicht und wurde durch das Fremdwort conscience verdrängt. Ähnliches läßt sich für dt. Fernsprecher feststellen, das heute wohl vollständig von Telefon verdrängt worden ist. In solchen Fällen bleibt das Designatum völlig unverändert bestehen, und ausgetauscht wird nur die Bezeichung. Das Feld der Lexikoneinträge bleibt zwar nicht identisch, aber es findet im Ergebnis eigentlich kein Strukturwandel im Lexikon statt,

Die Gründe für die Verdrängung eines Ausdrucks durch einen anderen sind oft nicht nachvollziehbar. Viel Sprachwandel - im Lexikon und anderswo - ist einfach Wandel um des Wandels willen. Auf einen Mechanismus der Ersetzung bestehender Ausdrücke ist jedoch hinzuweisen, dessen Motivation völlig durchsichtig ist:

Tabu und Euphemismus

Designata, die man nicht bezeichnen darf, sind tabu; und Wörter mit solchen Designata sind ebenfalls tabu (Tabuwörter). Z.B. sind die Bezeichnungen gefährlicher Tiere in Gemeinschaften, die sich von ihnen bedroht fühlen, oft tabu. Im Russischen z.B. wird das idg. Wort für “Bär” nicht verwendet; stattdessen heißt es medved' “Honigschlecker”. Im Schwedischen war das germanische Wort für “Wolf”, ulv, tabu; man umschrieb es zunächst mit varg "Geächteter" und dann mit gråben "Graufuß". In dem Maße, in dem die Mitglieder der Sprachgemeinschaft sich an ein Tabu halten, müssen sie, um den tabuisierten Begriff zu bezeichnen, eine Umschreibung zuhilfe nehmen. Die Umschreibung eines Tabus heißt Euphemismus (wörtl. “Wohlrednerei”). Im Sprachwandel kann der Euphemismus das Tabuwort verdrängen.

Bestimmte Bereiche des menschlichen Lebens sind in vielen Gemeinschaften dauerhaft tabuisiert. Es folgen ein paar Beispiele:

Ein etwas komplexeres Beispiel ist die Tabuisierung des Ausdrucks sex und seine Ersetzung durch gender im Englischen. Sex bedeutete ursprünglich “Geschlecht”, und in diesem Sinne sprach man z.B. von persons of male or female sex. Mitte des 20. Jh. jedoch wurde der Ausdruck sexual intercourse “Geschlechtsverkehr” zu sex gekürzt. Somit wurde das Wort sex – auch in der Bedeutung “Geschlecht” – im letzten Drittel des 20. Jh. tabu und durch das Wort gender ersetzt, das bis dahin lediglich “Genus” bedeutet hatte. Im 21. Jh. läuft man Gefahr, Anstoß zu erregen, wenn man den Beispielausdruck nicht als persons of male or female gender umformuliert.

Wie man sieht, sind die Ausdrücke selber eigentlich völlig harmlos. Der Mechanismus der Ersetzung eines Tabuwortes durch einen Euphemismus beruht darauf, daß das Designatum anstößig ist. Dieses wiederum hat mit Sprache wenig zu tun, sondern beruht auf moralischen Konventionen einer Gemeinschaft (oder von Teilen davon). Die Ersetzung des Ausdrucks kann deshalb nichts an einem Tabu ändern. So wird das, was ein Euphemismus war, sofort seinerseits wieder tabu und muß durch einen wieder neuen Euphemismus ersetzt werden. Der Mechanismus von Tabu und Euphemismus (man nennt ihn auch die “Euphemismus-Tretmühle”) ist ein Fall des allgemeineren Phänomens, daß man ein soziales Problem als sprachliches Problem konzipiert und sodann, anstatt das soziale Problem zu lösen (oder sich, wie im Falle der Toilette, damit abzufinden), die Sprache ändert.