Identität als elementarer Begriff läßt sich nicht definieren. D.h. man kann den Begriff nicht an der Identität von bestimmten Merkmalen des identifizierten Objekts festmachen. Wenn ich einen Menschen von der Wiege bis zur Bahre kenne, dann ist es immer das identische Individuum, unabhängig davon, welche seiner Teile oder Eigenschaften sich im Laufe der Jahrzehnte wie verändern. Dasselbe gilt im Prinzip auch für Sprachen und sprachliche Einheiten. Diese können allerdings ein Menschenleben oder eine Sprachgemeinschaft überdauern, und dann kann die Identitätskette abreißen, d.h. nachfolgende Menschen können die Sprache oder die sprachliche Einheit als etwas anderes auffassen.

Identität einer Sprache

Die wichtigste theoretische Voraussetzung der Beschreibung und Geschichte einer Sprache ist ihre Identität. Für deren Konzeption müßte es im Prinzip rein linguistische Kriterien geben. Immer angeführt wird das pragmalinguistische Kriterium wechselseitiger Verständlichkeit:

Zwei Idiome sind – synchrone oder diachrone – Varietäten – also Stadien oder Dialekte/Soziolekte – einer Sprache, wenn sie wechselseitig verständlich sind.

Das Kriterium ist theoretisch wohlbegründet, aber in der Praxis sehr schwer zu operationalisieren, weil es von einer Fülle für das Problem irrelevanter Faktoren abhängt, ob zwei Personen sich verstehen. Das Kriterium ist auch in der Empirie häufig nicht ausschlaggebend. Z.B. sind mehrere deutsche Dialekte wie Hochdeutsch und Niederdeutsch nicht wechselseitig verständlich und gehören doch zu einer Sprache; und andererseits sind einige romanische Sprachen, wie etwa Katalanisch und Provenzalisch, ganz gut wechselseitig verständlich, aber eben verschiedene Sprachen.

Das in der Praxis ausschlaggebende Kriterium der Identität einer Sprache ist das kulturell-politisch motivierte, geschichtlich gewachsene Bewußtsein ihrer Sprachgemeinschaft.

Die Tatsache, daß die Identität einer Sprache sich in praxi nicht nach linguistischen, sondern nach kulturellen und politischen Kriterien bestimmt, ist ein Aspekt der Tatsache, daß eine Sprache (eine langue) ein historisches Objekt ist.

Identität einer sprachlichen Einheit

Auch die Frage der Identität einer sprachlichen Einheit stellt sich in der Synchronie und in der Diachronie. In beiden Fällen geht es um sprachliche Variation. Als Beispiel kann die Unterscheidung von Polysemie und Homonymie dienen: Zwei Sinne eines polysemen Sprachzeichens, also etwa berühren “anfassen” und berühren “betreffen”, gehören per Definitionem zum selben Sprachzeichen; die beiden angeführten Sinne sind also Aspekte einer identischen sprachlichen Einheit. Homonyme dagegen wie Schirm1 “tragbares Schutzdach” und Schirm2 “Bildfläche” sind nicht identisch. In beiden Fällen allerdings hat sich die jeweils zweite angegebene Bedeutung diachron aus der ersten entwickelt. Im Falle von Schirm ist also offenbar eine diachron feststellbare Identitätskette abgerissen, so daß in der resultierenden Synchronie keine Identität mehr besteht.

In einer funktional-strukturalen Sprachwissenschaft ist das wichtigste Kriterium für Identität sprachlicher Einheiten die Identität ihrer Funktion: Zwei sprachliche Einheiten, die dieselbe Funktion erfüllen, sind identisch. Hiervon bildet Synonymie eine begründbare Ausnahme, die bereits bei Allomorphie nicht mehr gemacht wird: Allomorphe sind funktional identisch, also Erscheinungsformen desselben Morphems.

Bei bedeutungstragenden Einheiten führt dieses Kriterium eben zur Identifikation der beiden berühren lautenden Zeichen und zur Unterscheidung der beiden Schirm lautenden Zeichen. Freilich können Linguisten in der Diachronie eines Zeichens die Kette von Identität feststellen, die de facto besteht, auch wenn die nachfolgende Sprachgemeinschaft sie nicht mehr erkennt. Und sie tun dies unabhängig von der Identität des Significans und von der Identität des Significatums, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Diachrone Identität
Zeit
Einheit
LateinFrz.
'alten' tenere tenir
Diachrone Identität
trotz Unterschied im Significatum
Zeit
Einheit
LateinFrz.
'stand' stabat
'war' erat était

Lat. erat ≠ Frz. était trotz Identität im Significatum
Lat. stabat = Frz. était trotz Unterschied im Significatum

⇒ Identität des Significatums ist keine notwendige Bedingung für diachrone Identität.

Diachrone Identität
trotz Unterschied im Significans
Zeit
Einheit
LateinFrz.
/korpus/ ‘Körper’
/kor/ ‘Herz’‘Körper’

Lat. /kor/ ≠ Fr. /kor/ trotz Identität im Significans
Lat. /korpus/ = Fr. /kor/ trotz Unterschied im Significans

⇒ Identität des Significans ist keine notwendige Bedingung für diachrone Identität.

Das Beispiel zeigt zwei Dinge: