Pidginsprachen

Es gibt Kommunikationssituationen, in denen die Kommunikationspartner keine gemeinsame Sprache haben. Sie müssen dann stärker als in ihrer Muttersprache auf nicht-sprachliche Mittel (Gestik, Mimik usw.) zurückgreifen. Die Wörter werden dann manchmal einer Sprache entnommen, die in der sozialen Situation dominant ist, d.h. die es gut wäre zu beherrschen. Da die Kommunikationspartner jedoch deren Grammatik ex hypothesi nicht beherrschen, haben sie bzgl. ihres Satzbaus nur die Alternative, entweder der Grammatik ihrer Muttersprache zu folgen oder sich auf solche sprachlichen Mittel zu verlassen, welche vom einzelnen Sprachsystem unabhängig sind. Auf den letzteren Punkt kommen wir später zurück.

Kommunikationssituationen wie die gerade skizzierte sind in der Kolonialzeit an vielen Orten der Welt von den Kolonialherren geschaffen worden. Menschen wurden zur Arbeit auf Plantagen oder zu sonstiger Gemeinschaftsarbeit aus verschiedenen Regionen, oft sogar aus Übersee (Afrika) zusammengekarrt. Daß sie verschiedene Muttersprache hatten und folglich nicht normal miteinander kommunizieren konnten, war Teil des kolonialistischen Kalküls.

In einer solchen Situation versuchen die Menschen sich zu verständigen, indem sie die Wörter der Kolonialsprache verwenden und sie sei es mit der Grammatik ihrer Muttersprache, sei es so weit wie möglich ohne jegliche Grammatik zu Sätzen zusammenfügen. Die so entstehende Sprache ist eine Pidginsprache.1 Es gab auf der Welt zahlreiche Pidginsprachen (wovon die meisten mittlerweile ausgestorben oder in Kreolsprachen übergegangen sein dürften; s.u.). Sie haben folgendes gemeinsam:

  1. Sie werden in einer mehrsprachigen Umgebung verwendet und sind niemandes Muttersprache.
  2. Sie sind aus mehreren Sprachen gemischt.
  3. Da sie nur zur Kommunikation unter eng umschriebenen Bedingungen dienen, füllen sie nicht alle funktionalen Domänen einer natürlichen Sprache aus.
  4. Sie haben eine sehr schlichte Grammatik und normalerweise keine Morphologie.

Für Pidginsprachen gibt es also jedenfalls eine Superstratsprache. Für Pidinsprachen, die in kolonialen Verhältnissen entstanden sind, ist dies die Sprache der Kolonialherren, also allermeist Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Niederländisch, Russisch oder Arabisch. Die Frage der Substratsprache dagegen ist sowohl fallweise als auch grundsätzlich umstritten. Fallweise deshalb, weil sich in vielen historischen Situationen nicht mehr feststellen läßt, welche die relevanten Muttersprachen der Menschen gewesen sind, die die betreffende Pidginsprache gemeinsam herausgebildet haben. Grundsätzlich deshalb, weil einige Forscher der Auffassung sind, die jeweiligen Muttersprachen der Pidginsprecher hätten bei der “Emergenz” des Pidgin keine Rolle gespielt.

Eine Pidginsprache ist eine Art ‘lingua franca’, denn auch für sie gilt, daß sie eine Hilfssprache zum Verkehr zwischen Leuten verschiedener Muttersprache ist. Eine Lingua franca ist aber typischerweise eine natürliche Sprache, die eben vielen Menschen als Zweitsprache dient, während eine Pidginsprache keine natürliche Sprache ist (weil sie niemandes Muttersprache ist). Zweitens wird eine Lingua franca typischerweise in einem weiten, oft diskontinuierlichen geographischen Raum verwendet, während eine Pidginsprache in einem relativ kleinen, oft isolierten Raum entsteht.

Beispiele für Pidginsprachen sind nicht leicht beizubringen, wegen ihrer Existenzform. Solange es Pidginsprachen sind, werden sie nicht geschrieben und sind normalerweise nirgendwo aktenkundig. Und wenn diese Bedingungen erfüllt sind, sind sie normalerweise schon Kreolsprachen geworden.

Kreolsprachen

Eine Pidginsprache dient als primäres Kommunikationsmittel zwischen Menschen, die sie lediglich als Zweitsprache sprechen. Sie “emergiert” in einer heterogenen Gemeinschaft und wird in der Generation, die sie geschaffen hat, nicht zur vollwertigen Sprache. Aber die Kinder dieser Generation wachsen in dieser Umgebung auf und erlernen das Pidgin als Muttersprache. Jeder gesunde Mensch lernt als Muttersprache eine vollwertige natürliche Sprache. Folglich wird die Pidginsprache dadurch, daß sie zur Muttersprache von Menschen wird, zu einer normalen Sprache. Eine so entstandene Sprache heißt Kreolsprache,2 und der Prozeß, der ein Pidgin in ein Kreol überführt, heißt Kreolisierung. Angaben über die Zahl der (2003) auf der Welt gesprochenen Kreolsprachen schwanken zwischen 80 und 174. Eine Kreolsprache weist mehrere der obigen Merkmale einer Pidginsprache nicht mehr oder nur noch in gemilderter Form auf:

  1. Eine Kreolsprache hat Muttersprachler.
  2. Sie ist aus mehreren Sprachen gemischt, aber die Strukturen und insbesondere das Vokabular ähneln am meisten der Superstratsprache.
  3. Eine Kreolsprache ist im Hinblick auf die funktionalen Domänen annähernd vollständig (wird allerdings normalerweise nicht zur schriftlichen Kommunikation verwendet und entbehrt insoweit aller Domänen, die davon abhängen).
  4. Die Grammatik ist einfach, aber Rudimente einer Morphologie sind bereits vorhanden.

Eine Kreolsprache ist folglich (ebenso wie eine Pidginsprache) eine Mischsprache. Unter diesen Begriff, der im 19. Jh. überwiegend mit pejorativer Konnotation verwendet wurde, fallen freilich auch mehrere sog. Zivilisationssprachen: Das Französische ist in gewissem Maße eine Mischsprache aus Volkslatein, Gallisch und Fränkisch; das Englische ist, noch erheblich deutlicher, eine Mischsprache aus Angelsächsisch und normannischem Französisch.

Kreolsprachen werden meist in Regionen gesprochen, wo die (ehemalige) Superstratsprache bis heute das meiste Prestige genießt und evtl. sogar Amtssprache ist. Dann ist sie die nächste Quelle für Entlehnung, ganz ähnlich wie das Lateinische bis heute die nächste Quelle von Lehnwörtern für die romanischen Sprachen ist. In dieser Funktion heißt die Superstratsprache auch Lexifikatorsprache.

Dazu kommt, daß die meisten Kreolsprachen ein niedriges Sozialprestige haben und daß es für den gesellschaftlichen Aufstieg oft nötig ist, die Superstratsprache zu lernen. Die Kreolsprachen befinden sich insofern in einem komplizierten Spannungsverhältnis; denn einerseits gehen sie auf ein Pidgin zurück, das mindestens teilweise auf der Superstratsprache basiert, und würden auf der Basis des Pidgins eine ganz eigene Entwicklung nehmen können; aber andererseits gibt es einen sozialen Druck, sich zu eben dieser Superstratsprache (wieder) hinzuentwickeln. So geht manche Kreolsprache letzlich wieder in ihrer ehemaligen Superstratsprache auf.

Beispiele von Kreolsprachen
SuperstratKreolRegion
EnglischTok Pisin
Bislama
Neuguinea
Vanuatu
FranzösischSeychellenkreolSeychellen
PortugiesischSotavento-KreolKapverden
SpanischPalenqueroKolumbien

Zur Primitivität von Pidginsprachen

Pidginsprachen werden, wie gesagt, zur Erfüllung einiger Grundfunktionen der Kognition und Kommunikation von Menschen entwickelt, die sich auf andere Weise nicht verständigen können. Es stellt sich also die Frage, woher sie die Struktureigenschaften haben, die sie haben. Hier gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten:

  1. Alle ihre Struktureigenschaften leiten sich aus ihren Super- und Substratsprachen ab.
  2. Sie haben mindestens einige Struktureigenschaften, die auf diese Weise nicht herleitbar sind.

Der erste Fall ist ohne besonderes theoretisches Interesse. Hier wäre für die Erklärung der Struktur einer Pidginsprache die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft mit ihren Methoden zuständig, wenn auch die Abstammungsverhältnisse ungleich komplizierter sein mögen, als die Stammbaumtheorie sie vorsieht. Theoretisch brisant ist die zweite Möglichkeit. Angenommen folgende zwei Bedingungen:

  1. Pidginsprachen weisen Eigenschaften auf, für die nicht nur keine Herleitung aus ihren Super- und Substratsprachen gefunden werden kann, sondern die mit deren Eigenschaften geradezu unvereinbar sind.
  2. Diese Eigenschaften sind über alle Pidginsprachen hinweg die gleichen.

Dann müßte man annehmen, daß Pidginsprachen insoweit diejenigen Eigenschaften haben, die die menschliche Sprache bei ihrer Erfindung annimmt. Die Primitivität von Pidginsprachen wäre insoweit die Primitivität der Ursprache der Menschheit. Diese Position ist in der Literatur (Bickerton 1981) vertreten worden. Sie läßt sich allerdings nicht halten:

Tatsächlich ist die Situation, in der eine Pidginsprache entsteht, der Situation, in der die menschliche Sprache entstanden ist, in einer wesentlichen Hinsicht nicht vergleichbar: Die Bauleute der Pidginsprache haben alle schon eine vollwertige Sprache. Sie wissen, was es heißt, die mit menschlicher Sprache verbundenen kommunikativen und kognitiven Funktionen vollwertig zu erfüllen, und verfügen dafür auch über eine Technik (eben ihre Muttersprache). Das ist nicht die Situation von Adam und Eva, die alles neu erfinden mußten. Folglich gibt die Erforschung von Pidginsprachen keine Methode ab, der Ursprache der Menschheit auf die Spur zu kommen.


1 Herkunft und Etymologie des Wortes Pidgin sind ungewiß.

2 Das Wort Kreol geht auf das portugiesische crioulo zurück, welches seinerseits aus port. criado “Domestike” verballhornt ist.


Bibliographische Angabe

Bickerton, Derek 1981, Roots of language. Ann Arbor, Mich.: Karoma (Paperback ed.: 1985).