Die Vorgeschichte Europas umfasst den Zeitraum von der ersten Besiedlung Europas, d.i. ca. -40.000, bis zu den ersten europäischen Schriftdokumenten, d.s. kretische Texte in Linear A ab -2.500.1 Mit den ersten Dokumenten beginnt die Geschichte und damit größere Sicherheit über die Entwicklung der Sprachen. Die Methoden, mit denen man über die Vorgeschichte der Sprachen etwas erfahren kann, gehören verschiedenen Disziplinen an:
Von den Möglichkeiten linguistischer Rekonstruktion handelt ein vorangehender Abschnitt. Sie reichen in Europa bestenfalls bis -4.000 zurück, decken also nur das letzte Zehntel des in Rede stehenden Zeitraums ab. Die Gewässernamenforschung erweist häufig, daß auf einem bestimmten Areal bestehende Gewässer- (meist Fluß-)namen älter sein müssen als die Sprache, die dort zu historischer Zeit gesprochen wird. Aber sie einer anderen Sprache zuzuordnen gelingt naturgemäß nur dann, wenn diese unabhängig bekannt ist und Basis für die Etymologie jener prähistorischen Hydronyme sein kann.
Ur- und Frühgeschichte geben Aufschluss über Kultur und Lebensweise der ersten Menschen, darunter von ihnen hinterlassene Felsmalereien. Sie haben aber kaum Zugang zur ethnischen Zugehörigkeit der verschiedenen Gesellschaften und erst recht keinen zu deren Sprache. Die Humangenetik vergleicht das Erbgut heutiger Europäer mit demjenigen europäischer Skelettfunde und kann somit mindestens etwas über vorgeschichtliche Ethnien herausfinden. Hypothesen über die von diesen gesprochenen Sprachen bleiben freilich Extrapolationen aus den Sprachen, die die fraglichen Ethnien zu geschichtlicher Zeit sprechen.
Nach allem bis hierhin Gesagten ist das folgende hypothetisch; d.h., nach dem Kenntnisstand von 2014 kann es wahr sein.
Die letzte Eiszeit, genauer: die Würm-Kaltzeit, endete in Europa ca. -8.700. Nordeuropa war währenddessen äußerst dünn von nomadischen Jägern und Sammlern besiedelt. Diese gehörten zwei Ethnien an, einer in Westeuropa zentrierten Gruppe und einer im Nordosten aufzufindenden Gruppe, die aber bis nach Asien reicht und auch Verwandtschaft mit den ersten Amerikanern aufweist. Im Süden Europas hingegen, somit auch im Mittelmeerraum bis in den Nahen Osten, herrschte dichtere und permanentere Besiedlung durch eine dritte Gruppe, die von der Eiszeit weniger tangiert war.
Im Nahen Osten entsteht am Ende der Würm-Kaltzeit die Landwirtschaft. Sie breitet sich nach Westen aus, über den Balkan nach Südeuropa, und langt ca. -5.500 in Mitteleuropa an. Mit ihr breiten sich ihre Träger aus. Grob gesprochen und abgesehen von zunehmender Durchmischung, sind Südeuropäer in stärkerem Maße mit Levantinern verwandt, während Nordeuropäer im Westen und im Osten zwei Gruppen für sich sind.
Die Nordosteuropäer dürften uralische Sprachen gesprochen haben. Die in geschichtlicher Zeit in Europa belegten finnisch-ugrischen Sprachen gehören dieser Gruppe an. U.a. sind also die heutigen Finnen, Samen und Ungarn samt ihren Sprachen Nachfahren dieser Gruppe, wiewohl die letzteren natürlich erst zu historischer Zeit nach Pannonien gewandert sind. Von den steinzeitlichen nordwesteuropäischen Sprachen – deren Sprecher u.a. Stonehenge erbaut haben – hat keine einzige historische Spuren hinterlassen. Man kann bestenfalls vermuten, daß einige aus der Antike bekannte Völker, etwa die in Schottland beheimateten Pikten, noch solche Sprachen sprachen. Sie können aber auch nach dem Ende der Eiszeit dorthin gewanderte Südeuropäer sein. Von den vorindogermanischen südeuropäischen Sprachen werden zahlreiche in antiken Quellen erwähnt. Zu den besser bekannten und durch Texte bezeugten gehören Iberisch, Tartessisch, Kretisch und Etruskisch. Die sind alle nicht nachweislich miteinander verwandt. Es kann auch sein, daß mindestens einige Mitglieder dieser Sprachengruppe entfernte genetische Beziehungen zu afroasiatischen Sprachen haben. Jedenfalls besiedelten die steinzeitlichen Südeuropäer nach der letzten Eiszeit als Bauern West- und Mitteleuropa und drängten damit die nomadischen Nordeuropäer weiter nach Norden ab.
Nichtsdestoweniger gibt es auch von der südeuropäischen Gruppe nur einen einzigen Überlebenden, das Baskische. Die ihm zugrundeliegende Sprache, Vaskonisch genannt, war in vorgeschichtlicher Zeit viel weiter verbreitet. Einige west- und mitteleuropäische Hydronyme haben vaskonische Etymologien. Es ist also möglich, daß die Vaskonen ein Teil der nach West- und Mitteleuropa vorgedrungenen Südeuropäer waren. Sie wurden in der Bronzezeit ihrerseits von den sogleich zu besprechenden Indogermanen zurückgedrängt. Zu Cäsars Zeiten wurde Vaskonisch (außer natürlich im Baskenland) mindestens noch in Aquitanien gesprochen.
Die sprachliche Landschaft in Europa war also vor Ankunft der Indogermanen bunt; zweifellos gab es nicht so etwas wie eine (alt-)europäische Sprache oder Sprachfamilie. Die Indogermanen ihrerseits sind ursprünglich ein kleines Nomadenvolk, das am Ostrand Europas nördlich des Schwarzen Meers siedelte. Es hat sich aufgrund militärischer Überlegenheit über West- und Mitteleuropa sowie über Vorder- und Südasien verbreitet und in diesem Raum die Töchter der urindogermanischen Sprache verbreitet, allerdings nur wenige genetische Spuren hinterlassen. Wiewohl also heute fast ganz Westeuropa (wie auch große Teile der übrigen Welt) indogermanische Sprachen spricht, sind die betreffenden Völker doch ethnisch sehr heterogen, da genetisch keine Indogermanen.
Seit dem 3. Jt. v.Ch. wanderten immer wieder Gruppen von Indogermanen in verschiedene Himmelsrichtungen ab. Die ersten historisch greifbaren Indogermanen sind die nach Süden, nämlich nach Kleinasien, abgewanderten Anatolier und die nach Südosten abgewanderten Arier. Im zweiten vorchristlichen Jahrtausend wandern in mehreren Schüben Gruppen nach Griechenland, später nach Italien. Die ersten nach Westeuropa eingewanderten Indogermanen waren in der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends die Kelten. Im Norden folgten dann die Germanen. Die Germanen im Norden und die Römer im Süden nahmen in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten die Kelten in die Zange und drängten sie nach Nordwesten ab. Die letzten, die sich aus der Urheimat verabschiedeten, waren die Balten. Sie bewahrten relativ viele Gemeinsamkeiten mit den Slaven, die i.w. in der Urheimat sitzenblieben und sich erst in den nachchristlichen Jahrhunderten in westliche Richtungen ausdehnten.
Die Schrift wurde nicht in Europa erfunden.1 Die ersten Europäer, die die Erfindung aufnahmen, waren ca. -2.500 die Kreter. Ab ca. -1.000 verbreiteten die Phönizier im Mittelmeerraum das Alphabet. Die Indogermanen waren nicht schriftkundig; sie lernten von den unterworfenen Völkern lesen und schreiben. Vorindogermanische Schriftdenkmäler in Europa sind aber, wie gesagt, rar und zum größten Teil unentziffert. Daher wird die europäische Geschichte einschließlich der Geschichte der Sprachen Europas erst mit der Verschriftlichung der indogermanischen Sprachen kontinuierlich greifbar.
1 Drei Tontafeln aus Tărtăria (Rumänien) werden verschiedentlich auf bis zu -5.300 datiert; aber über die Schrift ist so gut wie nichts bekannt. Außerhalb Europas gibt es ältere Schriftdokumente.
Literaturhinweise
Bammesberger, Alfred & Vennemann, Theo (eds.) 2003, Languages in prehistoric Europe. Heidelberg: C. Winter.
P. Skoglund, M. Jakobsson, B. H. Northoff, S. Pääbo, J. Krause, M. V. Shunkov, A. P. Derevianko (Jan 2014), “Ancient human genomes suggest three ancestral populations for present-day Europeans. Separating endogenous ancient DNA from modern day contamination in a Siberian Neandertal”. PNAS 111, 2229–2234.