Vorwort

Ich habe im folgenden jede einzelne Mode mit einem Anfangsdatum versehen. Das ist in fast allen Fällen lediglich geschätzt, bei den älteren Moden zudem aus dem Gedächtnis. Um es genauer zu wissen, müsste man in den verfügbaren Corpora des Deutschen recherchieren.

Chronologische Liste

Ableitung auf be-

Die Ableitung transitiver Verben mit dem Präfix be- ist schon seit Jahrhunderten produktiv. Seit dem letzten Drittel des 20. Jh. hat es aber einen neuen Schub gegeben. Zum einen werden neue Verben so gebildet. Z.B. wird ein Behälter seitdem nicht mehr einfach gefüllt, sondern er wird befüllt. Zum anderen werden vorhandene be-Verben umgedeutet. Seit langem bestand bewerben als reflexives Verb, nämlich sich bewerben. Nun aber ist es auch gewöhnlich transitiv; man kann Objekte bewerben, für die man bis dahin nur werben konnte.
Im 20. Jh. bedeutete beauftragen “einen Auftrag erteilen”, so dass man etwa einen Dienstleister mit etwas beauftragte. Seit dem 21. Jh. bedeutet es auch “in Auftrag geben”. Z.B. kann man bei der Bank eine Überweisung beauftragen.
Jemanden oder eine Einrichtung bevorraten bedeutete zunächst, sie mit Vorrat zu versehen. Im Dezember 2022 höre ich erstmals, man solle Medikamente bevorraten. Allerdings kennt auch der Online-Duden schon die Verwendung, wo etwas bevorraten bedeutet, davon einen Vorrat anzulegen.
Beladen konnte man seit langem ein Vehikel mit einer Sache; aber am 10.12.22 erfahre ich: “Ihr DHL Paket wurde beladen und wird Ihnen heute ... zugestellt.” Beladen klingt professioneller als laden. Diese Verwendung von beladen kennt auch der Duden noch nicht.
Und am 28.01.23 wird im Sender Arte ein Cenote in Yucatán systematisch betaucht.

Diese [E-Schicht] bedämpft kurzwellige Funksignale nicht, sondern reflektiert sie. (c't 2023/5: 150)

Und auch hier hätte es noch im 20. Jh. einfach dämpft geheißen.

Neuere Redensarten

Spätestens seit 1960 grassiert die Redensart “da steckste nich drin”, um zu bestätigen, dass man etwas nicht durchschaut oder (vorher) wissen konnte. Sie ist auch 2023 noch nicht tot.

Seit den 1970er Jahren behauptet man von etwas, was man dem Gesprächspartner zusichert, es sei “kein Thema”. Diese Mode wurde von im Kommerz tätigen jungen Männern aufgebracht.

Seit den 1980er Jahren wird mehr als zur Intensifikation verwendet, wie in mehr als deutlich (Lehmann 1991, §4.1). Als Intensifikator war mehr als zunächst auf Adjektive beschränkt. Selbstverständlich ging der Ausdruck auch immer schon Substantiven voran, wo mehr als X ursprünglich bedeutete “noch andere Objekte neben X”. Diese Konstruktion erscheint seit Ende des 20. Jh. in der Sprache der Werbung, wenn für X geworben wird. Eine Website, die Angebote zum Lernen macht, nennt sich Mehr als Lernen (https://mehralslernen.org/initiative/jobs). Ein Podcast, der die Fußballweltmeisterschaft 2022 zum Thema hat, nennt sich Mehr als eine WM (https://carpo-bonn.org/carpo-podcast-katar-2022-mehr-als-eine-wm/).

Schätzungsweise seit 1990 ist ein Ort oder eine Veranstaltung nicht mehr en vogue (was natürlich seinerseits ein modischer Ausdruck war), sondern angesagt.

Seit etwa derselben Zeit behauptet man etwas nicht mehr fälschlich, sondern stattdessen fälschlicherweise. S. dazu Lehmann 2005.

Seit etwa 2002 findet man etwas nicht mehr interessant, sondern spannend.

Seit etwa 2010 signalisiert man Zustimmung zu Äußerungen mit genau. Diese Mode wurde von jungen Frauen initiiert und vorangetrieben, in wenigen Jahren dann von anderen Sprechern übernommen. Junge Frauen begannen auch damit, eigene Äußerungen mit genau zu validieren. Diese Gewohnheit wurde bis 2022 kaum von Männern übernommen.

Die Sprache der Werbung behauptet seit ca. 2015, dass das Beworbene von Herzen, mit Liebe o.ä. hergestellt bzw. gepflegt werde. Gleichzeitig erscheint in visueller Werbung das Symbol ♥ anstelle von Formen der Wörter Herz und lieben.

Seit ca. 2020 preist die Werbeindustrie Orte und anderes, was sie dazu für geeignet hält, als magisch an. Damit hatten allerdings schon 20 Jahre früher die Mexikaner angefangen. Sie nennen ihre Stadt, wenn sie Touristen anlocken soll, ciudad mágica.

Seit etwa 2020 haben Dinge, insbesondere Abläufe, die eindrucksvoll erscheinen, einen Wumms.

Seit 2022 verwendet man zur positiven Bewertung der gleichen eindrucksvollen Dinge den Ausdruck spektakulär. Etwas weniger Bemerkenswertes ist entsprechend unspektakulär.

Bedeutsam scheinende Ereignisse werden 2022 historisch genannt. Diese Verwendung des Ausdrucks ist zwar schon 1971 (Michael Kohl) belegt. Im nahezu allgemeinen Sprachgebrauch ist sie allerdings erst seit 2018, nämlich seit der Verwendung durch den damaligen Präsidenten der U.S.A. Donald Trump.

Analyse

Verbreitung von Moden

Wie auch sonst in der Mode, sind viele sprachliche Moden gruppenspezifisch. Es sind nicht dieselben Sprecher, die eine Ware beauftragen und deren Äußerungen mit genau beginnen oder enden. Andererseits sind Personen unterschiedlich anfällig für Moden. Diejenigen, die mit der Mode gehen, schnappen im Prinzip jede Mode auf, so dass die Ausdrucksweisen, die zu Beginn eine Gruppe charakterisieren, dann doch Allgemeingut werden können.

Der erste, der einen der obigen Ausdrücke im gegebenen Zusammenhang verwendete, war damit mehr oder weniger kreativ. Diejenigen, die den Ausdruck aufgriffen, konvertierten ihn in ein Modewort oder eine Redensart. Einige der oben aufgeführten Redensarten sind schon ein halbes Jahrhundert alt. Sie verlieren durch kontextunabhängige Wiederholung an Bedeutung, werden hohl und dienen am Schluss nur noch der phatischen Kommunikation.

Evaluativa

Evaluativa sind Ausdrücke, die das Gemeinte – als gut, schlecht oder lediglich bemerkenswert – bewerten. Diese haben eine hohe Ersetzungsrate, vor allem in der Jugendsprache. Als die jetzt 50jährigen jugendlich waren, fanden sie Dinge geil. Spätestens 2005 werden Dinge positiv als cool bewertet. Derzeit (2023) sind bemerkenswerte Gesprächsgegenstände krass.

Sprachmode und Sprachwandel

Theoretisch ist eine sprachliche Mode schwer von einem Sprachwandel zu unterscheiden, weil das Kriterium nicht klar ist. Im allgemeinen nimmt man an, dass eine Mode kurzlebig ist, während ein Wandel dauerhaft ist. Aber wo ist die zeitliche Grenze? Und während Sprachmoden gerade grassieren, ist es schwer möglich zu sagen, ob sie sich in Form eines Sprachwandels dauerhaft festsetzen werden. Ein paar Anhaltspunkte aber gibt es.

Bestimmte Bereiche des Sprachsystems, z.B. Evaluativa und Intensiva (extrem, mehr als), sind stark modeanfällig; ältere Semester haben schon mehrfachen Austausch in diesen Bereichen erlebt. Andere Änderungen lassen sich als Aspekte einer allgemeineren Tendenz – gelegentlich engl. drift genannt – auffassen; als solche haben sie größere Chancen zu überleben. Wir sehen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts Ladenschilder von Augenoptikern, die zuvor als Optiker firmierten. 2022 sah ich zum ersten Mal einen Ohrenakustiker. Solche Art von Pleonasmus entspricht einer zunehmenden Unsicherheit bzgl. der Bedeutung bestimmter Fremdwörter und hat deshalb gute Aussichten, sich festzusetzen. Ähnliches gilt für fälschlicherweise. Wenn die Bildung von Adverbien auf -lich (so wie schwerlich, sicherlich) unproduktiv wird, ist fälschlich nicht mehr hinreichend als Adverb markiert; und dann wird es vielleicht dauerhaft durch das deutlich als Adverb markierte fälschlicherweise ersetzt.

Literatur

Lehmann, Christian 1991, “Grammaticalization and related changes in contemporary German”. Traugott, Elizabeth C. & Heine, Bernd (eds.), Approaches to grammaticalization. Vol. II: Focus on types of grammatical markers. Amsterdam & Philadelphia: J. Benjamins (Typological Studies in Language, 19:2); 2:493-535. [ download ]

Lehmann, Christian 2005, “Pleonasm and hypercharacterisation”. Booij, Geert & Marle, Jaap van (eds.), Yearbook of morphology 2005. Dordrecht: Springer; 119-154. [download ]