Sprachlich ist das, was mit Sprache zu tun hat; linguistisch ist das, was mit Linguistik zu tun hat. Z.B. gibt es sprachliche Zeichen, Einheiten, Regeln usw.; das sind Zeichen, Einheiten und Regeln einer Sprache. Und es gibt linguistische Vorlesungen, Publikationen und Theorien; das sind Vorlesungen, Publikationen und Theorien über bzw. der Linguistik.
Der Unterschied ist an sich klar. Nichtsdestoweniger geraten die beiden Adjektive häufig durcheinander, und zwar immer so, daß linguistisch anstelle von sprachlich gesagt wird. Studentische Hausarbeiten sind voll von “linguistischen Strukturen”, “linguistischer Kompetenz” und “extralinguistischen Faktoren” der Sprechsituation. Das müßten dann Strukturen in der Linguistik (vielleicht die Verteilung von linguistischen Seminaren über die Universitäten eines Landes), Kompetenz in Linguistik (das wenigstens gibt es ja) und Faktoren der Sprechsituation, die nicht zur Linguistik gehören (aber kein Faktor der Sprechsituation gehört zur Linguistik) sein. Alle diese Bedeutungen sind aber gar nicht gemeint; gemeint sind immer “Strukturen der Sprache”, “Sprachkompetenz” und “außersprachliche Faktoren der Sprechsituation”.
Aber beileibe nicht nur Studenten kriegen den Unterschied nicht klar. Auch in professionellen Publikationen führt die Verwendung von linguistisch statt sprachlich zu teilweise grotesken Verzerrungen:
"Wir gelangen daher zu einem neuen Relativitätsprinzip, das besagt, daß nicht alle Beobachter durch die gleichen physikalischen Sachverhalte zu einem gleichen Weltbild geführt werden, es sei denn, ihre linguistischen Hintergründe sind ähnlich" (Whorf 1963:12).
Das Zitat ist die zentrale Stelle von Whorfs Theorie der sprachlichen Relativität; aber die deutsche Übersetzung reduziert sie auf die linguistische Vorbildung der Sprecher.
Eine populärwissenschaftliche Zeitschrift redet in ihrem Dossier “Die Evolution der Sprachen” von “linguistischen Innovationen” (Spektrum der Wissenschaft 1/2004: 61), wo sprachliche Innovationen gemeint sind (eine linguistische Innovation ist eine Neuerung im Fach Linguistik).
Eine sich wissenschaftliche gebende Website definiert wie folgt:
Paralinguistische Signale: Umfassen alle nichtverbalen stimmlichen Reize (karteikarte.com/card/2242414/paralinguistische-signale, 16.03.2020)
Da sind parasprachliche Signale gemeint; paralinguistische Signale gibt es z.B. in Vorwörtern linguistischer Publikationen.1 (Das Zitat liefert dann auch gleich noch nichtverbal anstelle von nicht-sprachlich.)
Die Verwechslung scheint komplexe Ursachen zu haben. Sie kommt auch bei anderen Adjektivpaaren dieser Struktur vor, z.B. bei psychisch und psychologisch, wenn die Leute von “psychologischen Problemen” einer Person reden, die sich nie mit Psychologie befaßt hat. Andererseits wissen die Leute i.a. sehr wohl zwischen romanisch und romanistisch zu unterscheiden und reden nicht von “romanistischen Sprachen”.
Im Falle von linguistisch (und vielleicht auch von psychologisch) scheinen mindestens zwei Faktoren eine Rolle zu spielen:
In Wahrheit freilich outet sich jemand, der linguistisch statt sprachlich sagt, als Laie.
Whorf, Benjamin L. 1963, Sprache - Denken - Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Reinbek: Rowohlt (Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, 174).
1 Griech. para bedeutet “neben”.