Vorlateinischer Anfangsakzent führt zu Vokalreduktion in unbetonten, leichten (i.e. offenen) Mittelsilben (Allen 56f.). Dieser Wandel ist auf der Stufe des archaischen Latein abgeschlossen. Es gibt in historischer Zeit keine phonetische Reduktion/Zentralisierung von Vokalen in unbetonten Silben mehr.
Das lateinische Vokalsystem basiert auf dem Fünfvokalsystem, wie die Tabelle zeigt.
Vokallänge ist distinktiv. Die Opposition hat eine relativ hohe funktionelle Belastung:
Lange Vokale sind mehr an der Peripherie des Artikulationsraumes als kurze. Letztere werden (wie im Deutschen) etwas zentraler und offener gesprochen.1 Nur für das /a/ gibt es außer der Länge keinen Unterschied.
Fast alle Diphthonge werden im Laufe der Zeit monophthongiert. Schon zu altlateinischer Zeit waren monophthongiert worden:
[ej] | > | [i:] | ei → ê/î im 3.Jh.; ê/î → î inschriftl. seit 160 v.Ch. |
[oj] | > | [u:] | |
[ow] | > | [u:] |
Bereits zu klassischer Zeit werden - im Vulgärlatein - fast alle verbliebenen Diphthonge monophthongiert:
[aw] | > | [ɔ] | 1. Jh. v. Ch. |
[aj] | > | [ɛ] | 1. Jh. n. Ch. |
[oj] | > | [ɛ] |
Die folgende Tabelle zeigt einige Beispiele:
Sehr früh diente die Schreibung <AE> zur Wiedergabe des Lautes /ɛ:/, wie folgende Entlehnungen aus dem Griechischen zeigen:
griech. | lat. | Bedeutung |
Kúmɛ̄ | Cumae | Cumae (Stadt) |
skɛ̄nɛ̄́ | scaena | Bühne |
skɛ̄͂ptron | scaeptrum | Szepter |
Es bleibt also von den Diphthongen nur /ew/, das aber eine marginale Stellung im System hat.
Zum Schicksal der Nasalvokale im Vulgärlatein
Wenn man die tatsächliche Aussprache der Vokalphoneme in die Trapeze der obigen Tabelle einträgt, ergibt sich folgendes Bild:
Auf dem Weg zum Vulgärlatein wird dieses System umgedeutet. Die Vokallänge wird irrelevant ("dephonologisiert"). Der Verlust der Vokallänge als distinktives Merkmal hängt evtl. auch mit deren Fehlen in den Substraten zusammen.2
Statt nach Vokallänge wird weitgehend nach Vokalöffnung differenziert. Wenn man nunmehr die kurzen und langen Vokale (inkl. ehemalige Diphthonge) auf eine Dimension projiziert, bekommt man für Vokale in betonter Silbe das folgende System:
Der genaue Öffnungsgrad von /e/ variierte je nach Folgelaut, z.B. etwas offener vor /r/, aber etwas geschlossener vor Vokal. Dies ist das rekonstruierte und leicht idealisierte System, das den meisten romanischen Sprachen zugrundeliegt und also weitgehend urromanisch ist..
Auf dem Weg zu den romanischen Sprachen, und zwar, nach den Inschriften zu urteilen, vor 200 n.Ch., werden diese fünf Öffnungsgrade in den meisten romanischen Sprachen wieder reduziert. Folgende Fusionen finden statt:
Dies alles wird nicht mitgemacht von Sardisch und Südkorsisch. Balkanromanisch macht die (offenbar später einsetzende) Fusion der hinteren Vokale nicht mit.
Hieraus resultiert in betonten Silben ein System mit vier Öffnungsgraden:
Evidenz für diese Öffnungsgrade:
/i/ → <e>: | menus | /u/ → <o>: | colomnas | |
/ē/ → <i>: | minsis | /ō/ → <u>: | punere |
Der Wandel /u/ → /o/ (vgl. Lloyd 1987:27f) ist Bestandteil der geschilderten Neuordnung des Vokalismus. Er erfaßt im Italienischen und Französischen alle Wörter der Volkssprache. Im Iberoromanischen werden ebenfalls die meisten Wörter erfaßt. Daneben bleiben zahlreiche Ausnahmen von Wörtern, die doch in der Volkssprache gewesen sein müssen. Sie sind in der folgenden Tabelle sortiert nach den Sprachen, die das /u/ bewahrt haben.
Wie man sieht, gilt tendentiell, wenn auch nicht ausnahmslos: Wenn der Wandel im Portugiesischen stattfindet, findet er auch im Spanischen statt; wenn er im Spanischen stattfindet, findet er auch im Italienischen statt; wenn er im Italienischen stattfindet, findet er auch im Französischen statt. Anders ausgedrückt, das Französische ist der Herd des Wandels, und er erreicht das Portugiesische nur in wenigen Fällen. Dies ist noch im Sinne der Wellentheorie.
Für das Ausbleiben eines derartigen Wandels wird meist der Einfluß einer "gebildeten" kirchenlateinischen Aussprache geltend gemacht. Für die meisten der obigen Wörter ist ein solcher Einfluß jedoch völlig unwahrscheinlich, zumal die Italiener ihm anscheinend kaum ausgesetzt waren. Hier hat man bis auf weiteres unvollständige lexikalische Ausbreitung eines Lautwandels zu konstatieren.
Die lateinischen Halbvokale entwickeln sich im 1. Jh. n.Ch. zu Frikativen. Dabei bewahrt das Portugiesische (ebenso wie andere romanische Sprachen) heute einen ursprünglicheren Zustand als das Kastilische, welches das [ʒ] weitergewandelt hat (s.u.).
Latein | Portugiesisch | Spanisch | Deutsch |
[j] | [ʒ] | [χ] | |
IVLIO5 | julho | julio | Juli |
[w] | [v] | [β] | |
VALLE | vale | valle | Tal |
Im Iberoromanischen entstehen [ʒ] und [β] auch noch aus anderen Quellen.
Synkope gewisser nachtoniger kurzer Vokale war im gesprochenen Latein verbreitet. Zeugnis dafür sind Inschriften, aber auch zeitgenössische Grammatiker:
Aus der Appendix Probi:3
In vielen Wörtern hat sich die synkopierte Version in den romanischen Sprachen durchgesetzt:
Im ursprünglichen phonologischen System ist der Wortakzent nicht distinktiv, denn er ergibt sich regelmäßig aus der Länge der Silben.
Nachdem die Vokallänge verlorengegangen war, ohne daß der Sitz des Wortakzents berührt worden wäre, ergibt sich dieser nun nicht mehr aus der Vokallänge und wird folglich zum distinktiven Merkmal einer Wortform. Es resultiert der in Kap. 14.2 behandelte freie Wortakzent des Spanischen.
Die folgende Tabelle enthält die konsonantischen und halbvokalischen Phoneme des klassischen Lateins.
Das System enthält relativ wenige Einheiten, indem es ökonomischen Gebrauch von den Artikulationsarten macht. Dafür macht es unökonomischen Gebrauch von den Artikulationsstellen, da es nur einen Palatal und einen Glottal gibt.4
Inschriften des 2. Jh. n.Ch. haben:
CRESCENTSIANVS statt Crescentianus, VINCENTZA statt Vincentia.
Im 4. Jh. liest man MARSALIS statt Martialis.
Item: AIECTVS statt adiectus, AZVTORIBVS statt adiutoribus
Der Prozess ist ungefähr so abgelaufen:
/lj/ > /ʎ/. Dies findet in allen romanischen Sprachen statt. Die spanischen Beispielen weisen eine darüber hinausgehende Sonderentwicklung auf.
Latein | Portugiesisch | Spanisch | Bedeutung |
folia | folha | hoja | Blatt |
filio | filho | hijo | Sohn |
/nj/ > /ɲ/
Latein | Portugiesisch | Spanisch | Bedeutung |
vīnea | vinha | viña | Weinberg |
extraneus | estranho | extraño | fremd |
Alle lingualen Konsonanten werden also zu [+ hoch] assimiliert.
Die Palatalisierung der Velare findet in zwei historischen Stufen statt. Die erste betrifft Velare vor /j/ und ist noch vulgärlateinisch und also gemeinromanisch. Die zweite betrifft Velare vor vorderen Vokalen und wird erst bei der Ausgliederung der romanischen Sprachen erreicht.
1) Inschriften des 2. [sic Castro lt. Lloyd 1987] Jh. haben:
FATIO statt facio
MVNDICIEI statt munditiei [?]
TERCIAE statt tertiae
DEFINICIO statt definitio
Das erste Beispiel zeigt, daß das /k/ vor /j/ nach vorne verlagert worden sein muß. Die folgenden Beispiele zeigen, daß <c> vor <i> bereits als Schreibung eines anterioren Konsonanten benutzt wurde, woraus man ebenfalls schließen kann, daß der bisher so geschriebene Konsonant in diesem Kontext nach vorne verlagert worden sein muß.
2) Die Palatalisierung der Velare vor vorderen Vokalen erscheint massenhaft in den Inschriften erst seit dem 5. Jh. Sie passiert nicht im Sardischen und Dalmatischen.
Lat. cella /'kel:a/] > port. cela [/'sɛla/]
Lat. gente /'gente// > port. gente /'ʒẽtə/.
Der Prozess ist ungefähr so abgelaufen:
Also abgesehen vom Ausgangspunkt dieselbe Entwicklung wie bei der Assibilierung. /dj/ und /gj/ fallen zu /ʤ/ > /ʒ/ zusammen, und somit mit dem Fortsetzer von lat. /j/ (s. oben). Daher findet man in Inschriften:
MADIAS statt Maias (364 n.Ch.)
AIVTOR statt adiutor
ZEBUS statt diebus
Entsprechendes gilt für die stimmlosen Pendants. Konvergenz zu zwei neuen Phonemen /č/ und /ʒ/.
Dieser Lautwandel und seine Konsequenzen für die Orthographie sind auf einer anderen Webseite allgemeinverständlich dargestellt.
Die genannten Wandel führen zu einem bereicherten Konsonantensystem, das in den vulgärlateinisch-romanischen Dialekten variiert, welches sich aber wie folgt als Diasystem darstellen läßt:
Alle Konsonanten konnten geminiert auftreten.
Allen 1965, ch. 2
Tagliavini 1972:236-243
Lloyd 1987, ch. 3.
1 Vgl. Servius: e quando producitur uicinum est ad sonum i litterae, ut mēta; quando autem correptum, uicinum est ad sonum diphthongi, ut ĕquus.
2 Vgl. das zeitgenössische Zeugnis: Afrae aures de correptione uel productione non iudicant. (Aug. En. in Psalm. 138, 20)
3 Die Konstruktion 'A non B' der Anweisungen des Grammatikers ist so zu verstehen: 'A ist korrekt, B ist falsch'. Der Erkenntniswert solcher Anweisungen besteht natürlich darin, daß sie das Bestehen der für falsch erklärten Varianten voraussetzen.
4 Nach einigen Analysen gibt es außerdem einen labiovelaren Okklusiv /kʷ/. S. dagegen Lehmann 2003, § 3.3.5.3.
5 Lateinische Nomina werden im Ablativ angeführt.