In einem Wort mit mehr als zwei Morphemen sind mehr als zwei verschiedene binäre Konstituentenstrukturen möglich. Ein Wort wie unterscheidbar kann theoretisch als [ unter [ scheid bar ]] oder als [[ unter scheid ] bar ] zu analysieren sein. Von den alternativen Konstituenzen ist normalerweise genau eine richtig.

  1. Das erste Kriterium ist, ob die Bestandteile in der Sprachnorm existieren. Im gegebenen Beispiel entsteht bei der ersten Analyse ein Stamm scheidbar, welcher nicht existiert, während die zweite Analyse nur Stämme ergibt, die auch existieren.
  2. In anderen Fällen wie [ Ver [ besser ung ]] vs. [[ Ver besser ] ung ] führt das erste Kriterium zu keiner Entscheidung. Hier muß man für beide denkbaren Ableitungsrichtungen die Operationen formulieren und deren allgemeine Anwendbarkeit, insbesondere auch auf einfache Basen, untersuchen. Man könnte versuchen, die erste Analyse zu retten, indem man den Operator so formuliert: [ ver- [ X-ung ]N ]N. Das verletzt aber das Prinzip, daß ein Operator nicht in die Struktur seines Operanden hineinsieht, welches eine Ausprägung des Prinzips der syntaktischen Irrelevanz der Wortbildung ist.1
  3. Schließlich bleiben Fälle wie Unsauberkeit. Die Formulierung der Derivationsoperationen ergibt folgendes: Dies führt also zu keiner Entscheidung. Hier ist (in scheinbarem Gegensatz zum zweiten Kriterium) die Produktivität ausschlaggebend: Auch komplexe und entlehnte Adjektive lassen sich jederzeit mit un- präfigieren (unentwirrbar, unaggressiv), während (scheinbare) komplexe nominale Basen wie in [ Un [ sauber keit ] ] nur möglich sind, wenn auch das entsprechende deadjektivische Adjektiv (eben unsauber) existiert, also z.B. nicht Unheiterkeit, Unpersistenz usw. Das heißt, wie immer Unart usw. zustandegekommen sein mögen, im untersuchten synchronen Stadium gibt es jedenfalls keine Wortbildungsoperation [ un- [ X ]N ]N.

1 Das gilt jedenfalls auf der funktionalen Ebene. Auf der Ebene der Allomorphie kommt es natürlich vor, daß die Auswahl von Varianten eines Operators sich nach der inneren Struktur des Operanden bestimmt.