Die beiden elementaren Operationen der strukturalen Analyse sind Segmentierung und Klassifikation. Bei der Segmentierung signifikativer Einheiten legt man Schnitte in die Kette derart, daß sich wieder signifikative Einheiten ergeben. Dazu nimmt man Ersatz- und Verschiebeproben vor. (Auf Wortebene – d.h. angewandt auf Bestandteile von Wortformen – geben Verschiebeproben allerdings fast nie grammatische Resultate.) Z.B. kann man in Leitung den Abschnitt leit durch andere wie führ ersetzen, und dito kann man das Segment ung durch er ersetzen, wobei der Kontext (d.i. hier der Rest der Wortform) jeweils unberührt bleibt. Entsprechende Tests für andere Abschnitte, z.B. für Lei und tung, scheitern. Folglich segmentiert man Leit-ung. Der Bindestrich ist das allgemeinste Symbol für die Morphemgrenze.
Eine kleinste signifikative Einheit (also eine, die sich nicht in signifikative Einheiten segmentieren läßt) ist ein Morph.
Als weiteres Beispiel segmentiere man folgende deutsche Ketten in Morphe:
Die Beispiele zeigen, daß morphologische Struktur von phonologischer Struktur und insbesondere von Silbenstruktur unabhängig ist.
1. | Wieso zeigen die Beispiele das? |
Komplexe Zeichen weisen eine hierarchische Struktur auf. Z.B. besteht das Wort Regelmäßigkeit aus folgenden vier Morphen: Regel-mäß-ig-keit. Es ist jedoch nicht der Fall, daß wir das Wort bilden, indem wir zunächst an Regel das Morph -mäß anfügen, daran das Morph -ig und schließlich das Morph -keit. Vielmehr bilden wir aus dem Substantiv Regel zunächst das Adjektiv regelmäßig, und zwar mit einem suffixartigen Element, das seinerseits mit dem adjektivierenden Suffix -ig von dem Substantiv Maß abgeleitet ist. Das so gewonnene Adjektiv substantivieren wir schließlich mit dem Suffix -keit. Eine angemessenere Darstellung der Struktur dieses Worts könnte daher wie folgt aussehen:
[ [ Regel [ mäß ig ] ] keit ]
Die komplexe Wortform wird also schrittweise durch Anfügung von Affixen und Kombination mit weiteren Stämmen, die ihrerseits bereits Affixe tragen können, aufgebaut. Sie ist das Produkt der Anwendung mehrerer der in Kap. 2.1 eingeführten binären Operationen.
Daher versucht der Linguist in der Segmentierung, binäre Schnitte zu legen, also eine gegebene Einheit in zwei aufeinanderfolgende Einheiten zu zerlegen, wo immer es geht. Im folgenden Beispiel wird die Wortform verunmöglicht schrittweise so zerlegt, daß jeder Schnitt eine (noch verbliebene) komplexe Einheit in zwei aufeinanderfolgende Einheiten zerlegt:
0. | ver | un | mög | lich | t |
---|---|---|---|---|---|
1. | ver | un | mög | lich | t |
2. | ver | un | mög | lich | t |
3. | ver | un | mög | lich | t |
4. | ver | un | mög | lich | t |
Die Analyse läßt sich durch folgende Substitutionen rechtfertigen:
links des Schnitts | rechts des Schnitts | |
---|---|---|
1. | lieb-t | verunmöglich-en |
2. | - | ver-zier(-t) |
3. | - | (ver-)un-klar(-t) |
4. | (ver-un-)deut-lich(-t) |
Die Analysemethode besteht darin, jeden einzelnen Schnitt so zu legen, daß auf jeder der beiden Seiten die Substitutionsmöglichkeiten, unter Wahrung der syntagmatischen Relation, maximiert werden. Das wichtigste Kriterium für die Korrektheit einer binären Segmentierung ist also, daß man auf jeder Seite der Grenze eine Kategorie von Elementen erhält, die mit der Kategorie der anderen Seite möglichst regelmäßig kombinierbar ist. M.a.W., der Schnitt soll einem Bildungsmuster (engl. pattern) entsprechen. Schnitt Nr. 3 z.B. entspricht der Tatsache, daß man viele Adjektivstämme regelmäßig mit dem Präfix un- kombinieren kann. Näheres dazu anderswo.
Die durch diese Analyse aufgewiesene morphologische Struktur läßt sich wie folgt durch Klammerung darstellen:
[[ ver [ un [mög lich ]]] t ]
Diese Analyse verfolgt gleichsam die vorerwähnten binären Operationen rückwärts, denn sie beginnt bei den kleinsten durch die Segmentierung gewonnenen Einheiten und kombiniert, in der Klammerstruktur von innen nach außen arbeitend, in jedem Schritt eine bisher bearbeitete Einheit mit einer weiteren zu einer komplexeren Einheit.
Segmentierung ist also nicht ein sukzessives Abschneiden von Segmenten in Links-Rechts-Richtung; und entsprechend wird eine komplexe Form nicht von links nach rechts aus einfacheren Bestandteilen aufgebaut. Vielmehr vollzieht die Segmentierung die hierarchische Struktur nach, die einer komplexen Einheit innewohnt. Ein grammatischer Aufbau so wie in dem Schichtendiagramm und in dem Klammerausdruck dieses Abschnitts dargestellt heißt Konstituenz oder Konstituentenstruktur. Er wird hier für die morphologische Struktur dargestellt, hat aber sein Gegenstück in der Syntax (↴).
Abschließend ist zu bemerken, daß die Segmentierung logischerweise voraussetzt, daß die zu identifizierenden signifikativen Einheiten Segmente sind, d.h. daß sie im Syntagma als Abschnitte aufeinanderfolgen. Wir sehen in einem der nächsten Abschnitte, daß dies nicht immer so ist; auch suprasegmentale und interne Modifikationen segmentaler Einheiten können signifikativ sein. Sie können mit der hier eingeführten Methode nicht identifiziert werden.
1. | Morphologische Segmentierung |
2. | Syntagmatische morphologische Struktur 1 |
3. | Syntagmatische morphologische Struktur 2 |
4. | Syntagmatische morphologische Struktur 3 |
Bei der obigen Segmentierung ergaben sich die Analysen Pate-n und Tat-en. Die Morphe -n und -en bedeuten dasselbe (Plural). Sie sind nicht durcheinander ersetzbar. Sie stehen, nach der obigen Definition, in komplementärer Verteilung.
Zwei Morphe, die in komplementärer Verteilung oder in freier Variation stehen, sind Allomorphe voneinander. Ein Morphem1 ist eine Menge von Allomorphen, die zu anderen ebensolchen Mengen von Allomorphen in Opposition steht. Allomorphie spielt nur auf Wortebene eine Rolle. Auf syntaktischer Ebene ist sie nicht von Belang; d.h. keine syntaktische Regel nimmt darauf Bezug, als welches Allomorph ein Morphem erscheint. Z.B. muß eine Kongruenzregel wissen, ob ein Substantiv im Plural steht; aber sie braucht nicht zu wissen, ob es den Plural durch -en oder -n markiert.
Ähnlich wie das Phonem kann das Morphem auf zwei Weisen konzipiert werden:
Allomorphe sind miteinander synonym. Allerdings ist Synonymie keine hinreichende Bedingung für Allomorphie. Z.B. sind -ung (wie in Leitung) und -t (wie in Ankunft) synonym, aber keine Allomorphe. Obwohl sonst alle Bedingungen erfüllt sind, spricht man in solchen Fällen nicht von Allomorphie, weil es keine synchrone Regel gibt, nach welcher man das Abstraktum einmal auf -t, einmal auf -ung bildet.
1. | Segmentierung und Klassifikation |
Stehen zwei Allomorphe in komplementärer Verteilung, so ist der Kontext die Bedingung für das Auftreten des einen gegenüber dem anderen. Er konditioniert die Allomorphie.
Eine Allomorphie kann phonologisch konditioniert sein. Das gilt z.B. für die in Pate-n vs. Tat-en auftretenden Allomorphe des Pluralmorphems: das Allomorph -n tritt auf, wenn der Stamm auf /e/ auslautet; sonst tritt -en auf.
Oder sie kann morphologisch konditioniert sein. Das gilt z.B. für die in Taten vs. Nähte auftretenden Allomorphe des Pluralmorphems: das Allomorph -(e)n tritt auf, wenn der Stamm der schwachen Deklination angehört; das Allomorph -e (mit Umlaut) tritt auf, wenn der Stamm der starken Deklination angehört.
Das folgende Beispiel stammt aus dem yukatekischen Maya. Es illustriert an den Wörtern für “Vater” und “Essen” eine Alternation des Substantivstamms, welcher mit vorangestellten Possessivklitika kombiniert wird (“mein Vater”, “dein Vater” usw.). Hier ist das Auftreten eines Halbvokals (geschrieben <y> bzw. <w>) am Anfang eines Substantivs teils phonologisch (Anlaut des Substantivs), teils morphologisch (Person und Numerus des Possessivklitikums) bedingt.
tàatah "Vater" | o'ch "Essen" | ||||
Numerus Person ╲ |
Sg. | Pl. | Sg. | Pl. | |
1. | in tàatah | k tàatah | in wo'ch | k o'ch | |
---|---|---|---|---|---|
2. | a tàatah | a tàatah-e'x | a wo'ch | a wo'ch-e'x | |
3. | u tàatah | u tàatah-o'b | u yo'ch | u yo'ch-o'b |
Ein Morphem ist ein Konstrukt, welches dasjenige verkörpert, was den Varianten gemeinsam ist. Es ist, da die Allomorphe phonologisch nichts gemeinsam haben müssen, wesentlich durch sein Signifikatum bestimmt. Insofern steht es auf einer höheren Abstraktionsebene als ein Morph. Näheres anderswo.
1. | Personalpronomina des Maori |
Grammatische Bedeutungen können i.S.v. Kap. 2.1 morphologischen, nämlich flexivischen oder derivativen Ausdruck haben. Die Bildung eines solchen Ausdrucks ist ein morphologischer Prozeß. Der Prozeß verändert oder montiert Ausdruckselemente an einem Stamm oder einer Wurzel, die als Basis des Prozesses, Operand der Operation und Träger (engl. host) dieser Elemente fungieren. Z.B. ist die Wurzel trink Träger des Ablauts, welcher darauf als morphologischer Prozeß operiert und daraus den abgeleiteten Stamm trank erzeugt.
Die morphologischen Prozesse werden nach strukturellen Kriterien wie folgt klassifiziert:
Die folgenden Abschnitte geben Beispiele für diese Arten von Prozessen. Der oberste Einteilungsgrund ist die Art des Significans, nämlich ob es segmentaler oder suprasegmentaler Natur ist. In einer gegebenen Wortform können mehrere morphologische Prozesse syntagmatisch kombiniert werden.
Bei der Hinzufügung von Segmenten ist eine erste Unterscheidung zu machen nach dem Kriterium, ob die hinzugefügten Segmente das unabhängig von dem Träger bestimmte Significans eines Morphems sind oder ob sie aus dem jeweiligen Träger stammen.2
Ein Affix ist ein gebundenes segmentales Morphem, das zur Bildung einer derivierten oder flektierten Form einer Wurzel oder einem Stamm hinzugefügt wird. Die Affixe werden nach ihrer Stellung relativ zur Basis wie folgt eingeteilt:
Bedeutung | Mann | Haus | Tafel |
Wurzel | rɟl | bjt | lwħ |
---|---|---|---|
Singular | raɟul | bajt | lawħ |
Plural | riɟāl | bujūt | ʔa-lwāħ |
Muster | K1iK2āK3 | K1uK2ūK3 | ʔa-K1K2āK3 |
Die drei Transfixe sind hier morphologisch konditionierte Allomorphe eines Pluralmorphems.
Reduplikation (wörtl. “Verdoppelung”) ist ein morphologischer Prozeß, in welchem eine Wurzel oder ein Stamm oder ein Teil davon kopiert und wo die Kopie (wie ein peripheres Affix) an das Original gefügt wird, wobei entweder die Kopie oder das Original lautlich verändert werden können. Die wichtigste Einteilung ist nach dem Kriterium, ob die Basis ganz oder nur teilweise kopiert wird. Beispiele:
Vollreduplikation: sumerisch kur “Land” - kurkur “Länder”. Ital. bianco “weiß” - bianco-bianco “schneeweiß”.
Teilreduplikation: yukatekisch tusah “log” - tu'tusah “log unverschämt”; xupah “verschwendete” - xu'xupah “verschwendete sinnlos”; k'as “schlecht” - k'a'k'as “abgrundtief schlecht”.
Altgriech. paideuo “erziehe” - pepaideuka “habe erzogen”. Lat. tundo “stoße” - tutudi “stieß”,5 pello “treibe” - pepuli “trieb”.
Während in den ersten Beispielen die Reduplikation ikonisch ist (sie gibt eine Art von Mehrheit oder Intensität wieder), ist sie in den altgriechischen und lateinischen Beispielen grammatikalisiert.
Innere Modifikation liegt vor, wenn ein segmentaler Abschnitt der Basis durch einen anderen – normalerweise gleichartigen – ersetzt wird. Das Standardbeispiel für innere Modifikation ist der Ablaut. Qualitativer Ablaut liegt vor in dt. singe - sang - gesungen. Die altindische Grammatik unterscheidet drei Stufen des quantitativen Ablauts, für den die folgenden Tabellen die Systematik und einige Beispiele darstellen.
Stufe | Sonant | ||||
---|---|---|---|---|---|
Schwund- | ∅ | i | u | ṛ | ḷ |
Voll- | a | e | o | ar | al |
Dehn- | ā | ai | au | ār | āl |
Beispiel
Stufe ╲ |
Vater | Fuß | trag- | |||
---|---|---|---|---|---|---|
Schwund- | pit r-a | (Dat.) | upa-b d-a | "Aufstampfen" | bh ṛ-tá | "getragen" |
Voll- | pitar-am | (Akk.) | pad-e | (Dat.) | bhár-ati | "trägt" |
Dehn- | pitā | (Nom.) | pāt | (Nom.) | bhār-a | "Bürde" |
Die innere Modifikation wird auch Substitution genannt. (Das ist dann aber eine zum Sprachsystem gehörige Substitution, nicht wie die anderswo besprochene eine Operation des Linguisten.)
In Flexionsformen wie bin – war wird die gesamte Wurzel durch ein anderes Allomorph substituiert, und dies drückt eben einen bestimmten Wert einer Flexionskategorie (im Beispiel: Präteritum) aus. Dies ist eine Art von Suppletion. Man kann sie als eine extreme (nämlich total unregelmäßige) Form von innerer Modifikation auffassen. Im Unterschied zu der anderen Art von Suppletion kann man diese signifikative Suppletion nennen.
Permutation von Segmenten ist häufig, aber nur als phonologischer Prozeß. Als morphologischer Prozeß ist sie ausgesprochen selten. Fälle werden aus dem Miwok und dem Straits Salish gemeldet.
Subtraktion hat so viel mit der partiellen Reduplikation gemeinsam, daß sie sich auf einen segmentalen Abschnitt der Basis richtet. Im Unterschied zur Reduplikation wird dieser bei der Subtraktion getilgt. Im Französischen wird maskulines Genus durch Tilgung des auslautenden Stammkonsonanten ausgedrückt:
maskulinum | femininum | ||
Schrift | Laut | Schrift | Laut |
grand | [gʁã] | grande | [gʁãd] |
petit | [pti] | petite | [ptit] |
gris | [gʁi] | grise | [gʁiz] |
gentil | [ʒãti] | gentille | [ʒãtij] |
Die Subtraktion bezieht sich auf einen Teil eines Morphems (normalerweise eines Stamms). Sie kann sich nicht auf ein Morphem (oder gar ein komplexeres Zeichen) beziehen, denn dann wäre sie Affigierung, nur falsch herum betrachtet. Z.B. könnte man angesichts des Paares dt. lenkte – lenke wähnen, das deutsche Präsens werde durch Subtraktion eines -t vom Präteritalstamm gebildet. Das ist aus einer ganzen Reihe von Gründen Unsinn. Hier interessiert der begriffliche Grund: -t ist ein Morphem, sein Significatum ist Präteritum. Seine Affigierung an die Basis ist semantisch und meist auch formal völlig regelmäßig additiv. M.a.W., ein solches Paar illustriert, wie das Präteritum gebildet wird, nicht wie das Präsens gebildet wird.
Es gibt sehr wenige sichere Beispiele von Subtraktion. Dies liegt offensichtlich daran, daß es ein kontraikonischer Prozeß ist: es soll eine grammatische Bedeutung kodiert werden, aber anstatt daß dieser ein Zeichen entspräche, wird im Gegenteil etwas weggelassen.
Die Subtraktion als Verfahren im Sprachsystem ist nicht zu verwechseln mit der Substitution durch Null bzw. der Weglaßprobe, die der Linguist als Methode anwendet. Sie unterscheiden sich nicht nur im methodologischen Status, sondern auch noch in ihrem Gegenstand: während die Subtraktion sich per definitionem auf eine submorphemische Einheit bezieht, kann sich die Weglaßprobe auf Beliebiges beziehen. Was weggelassen werden kann bzw. was die Weglassung lehrt, soll ja gerade herausgefunden werden. Z.B. kann man, um das letzte Beispiel aufzugreifen, auf das -t in lenkte mit Gewinn die Weglaßprobe anwenden.
Die zweite Hauptkategorie morphologischer Prozesse ist diejenige, wo das Significans suprasegmentaler Natur ist. Als Significantia kommen Akzent und Ton in Betracht:
Akzentwechsel: engl. prodúce (v.) vs. próduce (n.), contáct (v.) vs. cóntact (n.).
Tonwechsel: yuk. k'áx "binden (tr.)" vs. k'áax "sich verbinden" vs. k'àax "binden (intr.)".
1. | Morphologische Prozesse |
2. | Der deutsche Konjunktiv II |
3. | Das deutsche Partizip Perfekt |
Das Ziel linguistischer Analyse ist es, jegliche Regelmäßigkeit, die der Bildung sprachlicher Formen zugrundeliegt, herauszufinden und so allgemein wie möglich (d.h. wie mit den Daten verträglich) zu beschreiben. In diesem Sinne ist eine Feststellung der Art “wenn produce ein Substantiv ist, liegt der Akzent auf dem o; ist es dagegen ein Verb, liegt er auf dem u” nur ein allererster Schritt; denn sie umfaßt nicht einmal das zweite im vorigen Abschnitt gegebene Beispiel, für welches man folglich eine zweite solche “Regel” aufstellen müßte. Die allgemeinste Formulierung wäre dagegen: “eine Teilmenge englischer Verbstämme wird in Substantive überführt durch Verlagerung des Akzents auf die erste Silbe” (wobei diese Teilmenge u.a. produce und contact einschlösse, im übrigen aber zu bestimmen bliebe und wobei vorausgesetzt wäre, daß der Akzent von Verbstämmen sich nach einer unabhängigen Regel bestimmt). Das Ziel ist, die Beschreibung so einfach wie möglich zu machen.
Morphologische Formen sind allerdings verschieden regelmäßig aufgebaut; und jeder Art des Aufbaus ist eine Form der Beschreibung angemessen. Im einfachsten Falle wird eine Form schrittweise additiv aufgebaut derart, daß für jede zu kodierende morphologische Kategorie an der Basis eine Veränderung vorgenommen wird; und diese Veränderung besteht hinwiederum im einfachsten Falle in der Hinzufügung eines Significans im Sinne der obigen Klassifikation morphologischer Prozesse. Dieser Aufbau hat im Sprachsystem Vorrang, weil er ikonisch ist, und hat deshalb auch in der Analyse Vorrang. Methodisch betrachtet, versucht man also zunächst, eine Form als nach diesem Prinzip aufgebaut zu beschreiben. Ein Paradigma wie lenke – lenkst – lenkt beschreibt man also so: In der morphologischen Position unmittelbar hinter dem (präsentischen) Verbstamm erscheint eines der Suffixe, welche Person und Numerus des Subjekts kodieren, nämlich -e 1.Sg., -st 2.Sg., -t 3.Sg. Hier wäre es z.B. ein methodischer Fehler, einen Substitutionsprozeß ‘für die 2. Person, ersetze e durch st; für die 3. Person, ersetze e durch t’ o.ä. zu diagnostizieren.22 Denn die Analyse jeder einzelnen Person durch Suffigierung an den Stamm ist in jeder Hinsicht einfacher.
Wie unten noch näher diskutiert wird, ist ein morphologischer Prozeß desto allgemeiner anwendbar, an je mehr Basen er mit demselben Significans und demselben Significatum auftritt, ohne daß sonst etwas mit der Basis passiert. In dem Maße, in dem das nicht der Fall ist, verliert das Formativ seine Identität und geht in seinem Träger auf. Im folgenden Beispiel geht es um die innere Modifikation, die im englischen Präteritum zusätzlich zur Suffigierung auftritt:
Solche Fälle sind sprachsystematisch komplexer und auch komplizierter zu beschreiben. Sie sind also, methodisch betrachtet, immer die zweite Wahl. Der Fall, welcher der eingangs illustrierten Regelmäßigkeit polar entgegengesetzt ist, liegt in einem signifikativ-suppletiven Paradigma wie bin - bist - ist vor. Hier könnte man zwar versuchen, die verborgenen Reste von Regelmäßigkeit zu formulieren (z.B.: die dritte Person Singular endet, wie bei allen nicht-modalen Verben, auf -t). Einfacher aber ist es, auf die Zusammensetzung solcher Formen überhaupt zu verzichten und ihr Paradigma stattdessen in einer Tabelle aufzuführen.
Wird im syntaktischen Zusammenhang von einem bestimmten Lexem eine nach bestimmten Kategorien spezifizierte morphologische Form benötigt, so kann man sie also auf zwei entgegengesetzte Weisen beschaffen:
Die Beschreibungsmethode #a funktioniert offensichtlich gut für lenke - lenkst - lenkt. Und angesichts der zahlreichen Fälle, die ebenso funktionieren, ist diese Beschreibung auch ökonomischer als die mögliche Alternative, für jedes so flektierende Verb das ausspezifizierte Paradigma seiner Formen in der Beschreibung zu hinterlegen.
Die Beschreibungsmethode #b funktioniert offensichtlich gut für bin - bist - ist. Die Methode #a dagegen scheitert überwiegend oder vollständig an solchen Fällen.
Fälle wie engl. keep – kept sind noch mit Methode #a erfaßbar. Fälle wie bring – brought dagegen tendieren schon stark zum unregelmäßigen Pol, und es scheint einfacher, sie mit Methode #b zu beschreiben.
So wie die beiden Beschreibungsmethoden für verschiedene Flexionsformen einer Sprache unterschiedlich angemessen sein können, kann auch die eine Methode (überwiegend) der einen Sprache, die andere Methode dagegen (überwiegend) der anderen Sprache angemessen sein.
Morphologische Prozesse werden, wie wir soeben gesehen haben, nach rein strukturellen Kriterien identifiziert und klassifiziert. Nach solchen Kriterien sind mindestens einige von ihnen, etwa die innere Modifikation und die Metathese, kaum von rein phonologischen Prozessen zu unterscheiden. Das Unterscheidungskriterium ist, daß ein morphologischer Prozeß signifikativ, ein phonologischer jedoch für die Bedeutung irrelevant ist. Ein gegebener Prozeß kann in dieser Hinsicht seine Natur im Sprachwandel wechseln. Der Vorgang, in dem ein ehemals rein phonologischer Prozeß morphologische Funktion erlangt, heißt Morphologisierung.21
Da morphologische Prozesse signifikativ sind, sind sie die Significantia von Sprachzeichen, deren Significata grammatische Kategorien und deren Werte sind. Bestimmte morphologische Prozesse können also Allomorphe eines bestimmten grammatischen Morphems sein. Z.B. zählen diverse Suffixe (-e, -er, -en usw.) ebenso wie der Umlaut - also ein Prozeß der inneren Modifikation - zu den Allomorphen des deutschen nominalen Pluralmorphems. Ferner können auch mehrere verschiedene Prozesse gemeinsam das komplexe Significans eines Morphems bilden. Z.B. wird die Pluralform Männer durch eine Kombination von Suffigierung von -er mit Umlaut gebildet.
1. | Pluralallomorphe |
2. | Morphologische Prozesse im deutschen Präteritum |
Grundlegend für die Morphologie ist der Begriff des Worts; grundlegend für ihre Untergliederung ist seine Struktur. Zunächst ist also dieser Begriff zu klären. Der Ausdruck Wort wird in der Linguistik mindestens in zwei (und außerhalb der Linguistik in noch mehr) Bedeutungen verwendet:
Wortformen ergeben sich durch die Anwendung von Flexionskategorien auf ein Lexem. Sie weichen im Ausdruck durch die entsprechenden morphologischen Modifikationen voneinander ab. In einem Wörterbuch konstituieren sie keinen eigenen Eintrag; bestenfalls findet man einen Verweis der Art “fiel: s. fallen”.
Ein Lexem ist eine Abstraktion über der Menge der zugehörigen Wortformen. Es kommt daher im laufenden Text nicht vor. Es ist also z.B. korrekt zu sagen, daß Menge (so wie im vorangehenden Satz vorgekommen) eine Wortform des Lexems Menge ist.
Zum Begriff des Wortes gehört seine Position in der Komplexitätshierarchie grammatischer Einheiten. Die Ebenen grammatischer Einheiten unterscheiden sich im Freiheitsgrad der auf ihnen angesiedelten Einheiten, wie wir in Kap. 2.4.2 noch näher sehen werden. Hier kann man nur vorwegnehmen, daß das Wort als eine grammatische Einheit relativ geringen Freiheitsgrades zu konzipieren ist. Wegen dieser Relativität des Konzepts ist es in der Linguistik bisher kaum zu definieren gewesen.
Die Flexionsformen eines Wortes basieren auf dem Stamm und sind Abwandlungen von diesem. Der Stamm ist der morphologische Repräsentant des Lexems. In einer ersten Annäherung kann man den Stamm eines Wortes als den Rest bestimmen, der verbleibt, wenn man die Flexionsmorpheme abzieht. Zieht man etwa von liebt das Flexionssuffix -t ab, verbleibt lieb- als Stamm des Verbs lieben. Freilich bestehen, wie oben zu sehen war, längst nicht alle morphologischen Modifikationen von Stämmen in konstanten Ketten von Segmenten, die dem Stamm einfach hinzugefügt werden; so sind fiel und fällt beides Formen des Stamms fall. Unter dieser Voraussetzung gilt die Kurzformel:
Wortform minus Flexion = Stamm.
Und natürlich ist auch – analog dem soeben erwähnten Fall von Menge – lauf (Imperativ) eine Flexionsform, die auf dem Stamm lauf basiert.
Jeder Eintrag eines Wörterbuchs repräsentiert ein Lexem. Er wird eingeleitet durch ein Lemma (~ Schlagwort), welches die Funktion eines Identifikators des Eintrags hat. Lemmata werden in der Zitierform des Lexems angegeben. Für diese gibt es sprachspezifische Konventionen (s. Beispiele).
Der Stamm ist dasjenige, was den Flexionsformen eines Lexems gemeinsam ist und was daher das Lexem am unmittelbarsten repräsentiert. In linguistischem Kontext - also außerhalb einzelsprachlicher lexikographischer Traditionen - werden Lexeme daher oft in Form ihres Stamms zitiert.
Ein Stamm kann seinerseits komplex sein. überleit-, verleit-, leitung sind Beispiele für komplexe Stämme. Sie haben ein Morphem gemeinsam, auf dem sie basieren, nämlich leit-. Dies ist die Wurzel dieser Stämme (und der von ihnen gebildeten Wortformen). Die Wurzel ist der zentrale lexikalische und semantische Bestandteil eines Worts. Sie besteht per definitionem aus nur einem Morphem.6 Für die morphologische Struktur gilt die Kurzformel:
Stamm minus Wortbildung = Wurzel.
Stämme werden gebildet auf der Basis von Wurzeln oder von (bereits komplexen) Stämmen; und ebenso werden Flexionsformen gebildet auf der Basis von Stämmen oder von (bereits komplexen) Flexionsformen. In diesem Sinne ist folgende Formel für die Bildung von Wortformen zu verstehen:
[ [ [ X ]Wurzel ] Wortbildungsoperator ]Stamm Flexionsoperator ]Wortform
Wie bereits oben, symbolisiert die Klammerung die syntagmatische Struktur. Eine Klammer eines Paars indiziert man mit einem Subskript, welches die Kategorie des Syntagmas angibt. In der hier gegebenen Formel ist nur die Nähe der Operatoren zur Wurzel relevant. Es soll nicht ausgesagt sein, daß der Operator dem Operanden folgt, und nicht einmal, daß er überhaupt segmental repräsentiert ist. Wichtig ist nur, daß eine komplexe Wortform im Normalfall den Aufbau einer Zwiebel hat. Abweichungen davon erfordern erhöhten theoretischen Aufwand.
Aus dem Gesagten ergeben sich die beiden Hauptabteilungen der Morphologie, nämlich Wortbildung(smorphologie) und Flexion(smorphologie). Sie werden in den folgenden beiden Abschnitten behandelt.
In dem Ausdruck Wortbildung wird der Bestandteil Wort i.S.v. “Lexem” verwendet. Deshalb könnte sie auch Lexembildung heißen. Und da der morphologische Repräsentant des Lexems der Stamm ist, nennt man die Wortbildung präziser auch Stammbildung, um sie von der Bildung von Wortformen (das wäre Flexion) zu unterscheiden. Wortbildung schafft also Wortstämme, die Einträge des Lexikons werden können.
In Kap.1.3 hatten wir gesehen, daß ein Teil der Morphologie in die Grammatik und der andere Teil ins Lexikon gehört. Sprachzeichen, die durch Regeln gebildet werden können, brauchen nicht inventarisiert, also nicht im Lexikon gespeichert zu werden. Die Entscheidung, ob ein bestimmtes Phänomen in der Grammatik oder im Lexikon zu behandeln ist, richtet sich insoweit danach, wie regelmäßig es ist (vgl. Kap. 1.3). Wortbildung ist nie völlig regelmäßig und ist deshalb nicht einfach eine Komponente der Grammatik. Sie ist andererseits auch nicht völlig unregelmäßig. Das bedeutet, daß das Lexikon nicht lediglich ein Inventar ist, sondern auch Subregularitäten in den Beziehungen der Wörter zueinander, also Wortbildungsregeln und Wortfamilien enthält. Diese Regeln sind der grammatische Aspekt der Wortbildung.
Es gibt mehrere Verfahren der Stammbildung, die hier nicht alle systematisch beschrieben werden. Sie haben gemeinsam, daß ein Stamm - der ggf. bloß in einer Wurzel besteht - in einen anderen, normalerweise komplexeren Stamm überführt wird, und unterscheiden sich in den Strukturmitteln, durch die das geschieht:
Komposition (Zusammensetzung) ist die Bildung eines Stammes durch Verbindung zweier Stämme. Beide können bereits komplex sein. Das Ergebnis heißt Kompositum.
Komposita sind zweigliedrig. Das gilt auch für Donaudampfschiffahrtsgesellschaftsdirektor; s.o. zur binären Segmentierung. Zusammenrückungen vom Typ Vergißmeinnicht sind nicht unbedingt zweigliedrig, aber sie zählen auch nicht unbedingt zu den Komposita.
Für das grammatische oder semantische Verhältnis zwischen den beiden Bestandteilen eines Kompositums gibt es eine Reihe von Konzeptionen. Die aus der altindischen Grammatik (seit Mitte des 1. Jt. v.Ch.) stammende lohnt sich immer noch zu kennen. Die Tabelle bietet die wichtigsten Typen und ihre zugehörigen Termini.
altind. Terminus |
moderner Terminus | Beispiel | Bedeutung |
tatpuruṣa | Determinativkompositum | tat-puruṣa | dessen Diener |
der-Diener | |||
karmadhāraya | Attributivkompositum | mahā-rāja | Großkönig |
groß-König | |||
dvandva | Kopulativkompositum | mātā-pitar-au | Mutter und Vater |
Mutter-Vater-DU | |||
bahuvrīhi | exozentrisches oder Possessivkompositum | bahu-vrīhi | viel-Reis-Besitzer |
viel-Reis |
Dem Determinativ- und dem Attributivkompositum ist die endozentrische Konstruktion gemeinsam. Sie spielen in vielen Sprachen eine zentrale Rolle. Die folgende Tabelle zeigt deutsche endozentrische Komposita.
Determinatum Determinans ╲ |
Substantiv | Adjektiv | Verb | Adverb |
Substantiv | Fehlersuche | grasgrün | radfahren | kopfüber |
---|---|---|---|---|
Adjektiv | Rotbarsch | hellblau | totschlagen | hellauf |
Verb | Waschmaschine | quietschvergnügt | schlagbohren | ? |
Adverb | Jetztzeit | überreif | überarbeiten | übermorgen |
Man nennt diese Komposita auch Determinativkomposita (i.w.S.), weil sie einen Kern, genannt Determinatum (Schulgrammatik: “Grundwort” [vgl. Fn. 3]), und ein diesen näher bestimmendes Element, genannt Determinans (“Bestimmungswort”), haben. Wie die Tabelle zeigt, bestimmt beim Determinativkompositum das Determinatum die Kategorie (Wortart) des Resultats.
Die meisten Komposita sind Determinativkomposita.20 Im Deutschen und vielen (aber nicht allen) anderen Sprachen geht das Determinans dem Determinatum voran. Das bei Donaudampfschiffahrtsgesellschaftsdirektor geübte Verfahren, das Kompositum durch Rechtsanstücken zu verlängern, ist daher Laienlinguistik.
1. | Kompositionstypen |
Die obigen Kompositionstypen lassen sich rein formal - eben als endozentrisch, exozentrisch usw. - definieren. Innerhalb jedes dieser Typen läßt sich noch differenzieren nach der semantischen Relation, welche zwischen den beiden Kompositionsgliedern besteht. Ein geläufiges Verfahren, um diese explizit zu machen, ist die Entwicklung von Standardparaphrasen oder Paraphrasenschemata wie z.B. den beiden folgenden:
1 | Ein Holztisch ist ein Tisch aus Holz. |
Ein Marmortisch ist ein Tisch aus Marmor. | |
2 | Ein Schreibtisch ist ein Tisch, an dem man schreibt. |
Ein Arbeitstisch ist ein Tisch, an dem man arbeitet. |
Die Paraphrase enthält zusätzliche Elemente - in den Beispielen unterstrichen -, welche die semantische Relation explizit machen. Das Kompositum unterscheidet sich von der Paraphrase (die ja auf syntaktischer Ebene stattfindet) dadurch, daß die spezifische semantische Relation gerade nicht bezeichnet wird. Sie wird z.T. aus den paradigmatischen Relationen der Kompositionsglieder erschlossen. Z.B. sind die Determinantia in Holztisch und Marmortisch beides Massensubstantive, welche feste Materialien bezeichnen. Zum Teil wird sie mithilfe von Weltwissen inferiert. Dazu gehört z.B., daß Artefakte wie Möbel aus festen Materialien hergestellt werden.
1. | Semantische Relationen in der Komposition |
Derivation (Ableitung) ist die Bildung eines Stamms durch morphologische Modifikation eines Stamms. Die Basis kann bereits komplex sein. Das Ergebnis heißt Derivatum (manchmal auch Ableitung).
Derivata sind zweigliedrig, wie bereits oben gesehen. Ähnlich wie bei Komposition können Basis und Resultat jeglicher Wortart angehören:
Resultat
Basis ╲ |
Substantiv | Adjektiv | Verb |
Substantiv | Kindheit, Unruhe, Schüler, Schülerin | kindlich, freudig, freudlos | telefonieren |
---|---|---|---|
Adjektiv | Dummheit, Reichtum, Schludrigkeit | bläulich | kriminalisieren, verlängern |
Verb | Erhaltung | schludrig, tragbar | erhalten, lächeln |
Zur Bezeichnung der Wortart von Basis und Resultat von Derivata dienen solche Termini wie ‘desubstantivisches Verb’ (z.B. telefonieren) oder ‘deadjektivisches Substantiv’ (z.B. Blindheit).
Es ist daran zu erinnern, daß auch in der Derivation im Prinzip alle oben aufgeführten morphologischen Prozesse eingesetzt werden. Im Deutschen kommen nur einige davon vor, wie die Tabelle zeigt.
1. | Morphologische Prozesse in der Derivation |
Wie wir sahen, kann bei Derivation die Wortart wechseln. Daher bestimmt nicht die Basis die grammatischen Kategorien, insbes. die Wortart, des Resultats der Operation. Dasselbe erweist sich, wenn man andere grammatische Kategorien wie das Genus betrachtet. B1 zeigt derivierte Substantive.
B1. | a. | Türmchen, Gäbelchen, Kindchen |
b. | Löwin, Chefin, Schriftstellerin | |
c. | Blindheit, Einheit, Sicherheit |
Die Wörter in B1.a sind durch das Suffix -chen deriviert. Die Basen unterscheiden sich im Genus. Die Resultate haben alle dasselbe Genus, nämlich Neutrum. Die desubstantivischen Substantive in B1.b haben das Derivationssuffix -in und ihr feminines Genus gemeinsam, während die Basis maskulin ist. Ähnlich haben die deadjektivischen Substantive in B1.c das Derivationssuffix -heit und ihr feminines Genus gemeinsam, obwohl die Basis genuslos ist. Grammatische Kategorien von Derivata werden also offensichtlich vom Derivationsoperator bestimmt.
Derivationsaffixe entstehen diachron häufig aus Kompositionsstämmen:
B2. | a. | wunder-bar |
b. | Schön-heit | |
c. | mords-mäßig |
Das Suffix -bar, wie in B2.a, geht etymologisch auf ein aktives Partizip des althochdeutschen Verbs beran “tragen” (vgl. engl. bear) zurück, war also ein Adjektiv der Bedeutung “tragend”. Das Suffix -heit, wie in B2.b, geht auf ein althochdeutsches feminines Substantiv heit “Gestalt, Art und Weise” zurück. Das Element -mäßig in B2.c ist klärlich aus dem Adjektiv mäßig hervorgegangen, hat aber nicht mehr dessen Bedeutung, sondern nur noch die Funktion der adjektivischen Derivation und wird daher auch Suffixoid genannt. In allen diesen Fällen vererben sich Wortart und ggf. Genus des Determinatums eines ehemaligen Kompositums auf den daraus entstandenen Derivationsoperator.
Wir können also Derivationsoperationen nach dem Modell der Komposition analysieren. Ebenso wie in einem Determinativkompositum das Determinatum der Kopf und folglich dasjenige Element ist, welches die Kategorie des Resultats bestimmt, so ist in einem Derivatum der Derivationsoperator der Kopf und bestimmt daher die Kategorie des Resultats.19
Formal können wir diese Zusammenhänge in einer kategorialen Morphologie wieder durch indizierte Klammerung zum Ausdruck bringen. B3.a - d führen schrittweise zu der Repräsentation von -chen als einem Operator, welcher jegliche substantivische Basis in ein neutrales Substantiv wandelt.
B3. | a. | [Tisch]N.Mask |
b. | [Tischchen]N.Neutr | |
c. | [ [ Tisch ]N.Mask -chen ]N.Neutr | |
d. | [ [X]N-chen]N.Neutr |
Komplexeres Beispiel anderswo.
Dasselbe gilt natürlich für Derivationsoperatoren ohne segmentalen Ausdruck. Z.B. sind die kausativen Verben in B4.a (vgl. unten) durch eine Vokalalternation abgeleitet, die auf komplexe Weise Ablaut und Umlaut kombiniert (und längst nicht mehr produktiv ist). Dies kann man wie in B4.b repräsentieren.
B4. | a. | sprengen, senken, tränken |
b. | [ [ X ]V [Vokalalternation in X] ]Vtr |
Dies führt auf die Idee, in Fällen wie leiden - Leiden, Antwort - antworten Derivationsoperatoren überhaupt ohne Ausdruck anzusetzen. S. dazu Abschnitt 2.2.3.2.5.
1. | Kategoriale Analyse von Komposita und Derivata |
2. | Attenuation |
Die Derivation überführt eine Basis in ein Derivatum. Gegeben zwei in Derivationsbeziehung stehende Stämme A und B, so betrifft die Ableitungsrichtung die Frage, ob A oder B das Derivatum ist. In den meisten Fällen wie grün - grünlich, ableiten - Ableitung7 ist die Ableitungsrichtung unproblematisch: Wenn B eine zusätzliche morphologische Modifikation gegenüber A aufweist, ist B das Derivatum. Danach ist in dem Paar Frage - fragen klärlich das Substantiv vom Verb abgeleitet. Auch innere Modifikation wirft normalerweise noch kein Problem auf: Sprung ist von springen abgeleitet und nicht umgekehrt. In solchen Fällen bestimmt sich die Ableitungsrichtung nach der Möglichkeit, den morphologischen Prozeß in eine Regel zu fassen. Weiterführendes dazu anderswo.
Unter den morphologischen Prozessen ist auch die Subtraktion. Hier ist das Problem der Ableitungsrichtung notorisch. Es bleiben sehr wenige Beispiele, die überzeugend nur als Subtraktion analysiert werden können; und damit bestimmt sich auch die Ableitungsrichtung.
Auf synchroner Ebene wird die Frage der Ableitungsrichtung nach systematischen Kriterien wie den erwähnten angegangen. Auf der diachronen Achse bestimmt sich die Ableitungsrichtung zwischen zwei Stämmen natürlich dadurch, welcher von beiden zeitlich später als der andere ist. Dazu kann man, wenn vorhanden, historische Evidenz heranziehen. In einer synchronen Perspektive muß man solche Gesichtspunkte allerdings draußen halten. Dazu mehr im nächsten Abschnitt.
Konversion1 (auch: Umkategorisierung, Transposition, Translation)8 ist der Wechsel der Wortart eines Stamms ohne morphologische Modifikation, so wie in Antwort - antworten, grün - Grün. Der häufigste Fall ist die Substantivierung, vor allem eines Adjektivs wie grün oder eines Infinitivs wie leiden, aber auch eines Verbstamms, wie in Versuch, Erhalt. Daneben steht die Verbalisierung eines Nominalstamms, wie in grünen. Wir besprechen die Umkategorisierung hier innerhalb der Morphologie; sie tritt aber, wie wir z.B. in Kap. 2.3 sehen werden, auch in der Syntax auf.
Zur formalen Analyse von Konversion bestehen i.w. die beiden folgenden Alternativen. Man kann mit Nullmorphemen rechnen, d.h. mit Morphemen, die zwar ein Significatum (mindestens eine grammatische Funktion), aber kein Significans haben. Ein solches Morphem kann wie jedes andere Derivationsoperator sein; und dann kann man Konversion als Dependenz eines Stamms von einem Null-Derivationsmorphem analysieren,9 wie in B5 gezeigt.
B5. | a. | [ [antwort]V [0]N.fem ]N.fem |
b. | [ [leiden]V.inf [0]N.neutr ]N.neutr |
Dies führt zu einer Reihe theoretischer Unzuträglichkeiten, wovon die Existenz zahlreicher homonymer Derivationsoperatoren nur eine ist. Schlimmer ist eigentlich, daß diese Analyse das Problem der Ableitungsrichtung aufwirft. Es ist nämlich nicht klar, wieso nicht statt B5 B5' zu schreiben ist:
B5'. | a. | [ [antwort]N.fem [0]V ]V |
b. | [ [leiden]N.neutr [0]V.inf ]V.inf |
Während man für B5.b ein Argument auf der Basis von Beschränkungen der Distribution machen kann, bleibt die Wahl zwischen B5.a und B5'.a offen.
In solchen Fällen liegt der Ausweg nahe, historische Evidenz zur Beantwortung der Frage ‘welches von beiden war zuerst da?’ anzuführen. Aber abgesehen davon, daß solche Evidenz in vielen Fällen nicht zu bekommen ist, wäre sie auch irrelevant. Derivation und Konversion sind Bestandteile eines synchron betrachteten Sprachsystems; diachrone oder historische Evidenz spielt für ihre synchrone Analyse keine Rolle.
Als alternative Analyse von Konversion bietet sich kategoriale Unbestimmtheit/Indeterminiertheit von Stämmen an: Wenn das Vorkommen eines Stamms in verschiedenen Wortarten symmetrisch ist, läßt sich die Konversionsrichtung nicht feststellen. Dann ist es theoretisch einfacher, anzunehmen, daß die Wortart eines solchen Stamms nicht festliegt. Als Beispiel betrachte man B6.
B6. | a. | Krach, krach, krachen |
Im Lexikoneintrag eines Lexems ist die Wortart angegeben, etwa in der Form ‘Rose: N’ oder ‘brechen: Vtr, intr’. Es kann auch Einträge der Form ‘krach: N, V, Adv’ geben. Es wäre auch denkbar, zusätzlich zu Wortarten wie ‘Nomen (⊃ Substantiv, Adjektiv, Zahlwort, Pronomen)’ weitere Superwortarten, z.B. ‘Nominoverboadverb (⊃ Substantiv, Verb, Adverb)’, anzusetzen und im Lexikoneintrag entsprechend zu schreiben: ‘krach: Nominoverboadverb’ [s.v.v.].
1. | Derivationsprozesse |
2 | Wortbildungsprozesse |
Durch Wortbildung kann man das Lexikon einer Sprache bereichern und insofern das Sprachsystem verändern. Sie wird deshalb gelegentlich als ein diachrones Phänomen gesehen und fehlt daher in mancher synchronen Grammatik. Eine solche Auffassung ist nicht haltbar. Zum ersten gibt es keine diachronen Phänomene; ein jedes sprachliche Phänomen hat einen synchronen und einen diachronen Aspekt. Zum zweiten gibt es in jedem gegebenen Sprachstadium Wortbildungsregeln, also synchrone Regeln, nach denen man Stämme bildet. Z.B. kann man B3.d oben auffassen als Regel: ‘Kombiniere einen Stamm der Kategorie N mit dem Suffix -chen, und du erhältst einen Stamm der Kategorie N mit neutralem Genus.’ Nach solchen Regeln sind in jeder Sprache (auf synchroner Ebene) sogenannte Augenblicksbildungen möglich, etwa Theoriechen. Insoweit ist auch das Lexikon der Sprache noch gar nicht verändert. Erst wenn eine solche Bildung lexikalisiert wird, also Lexikoneintrag wird, wird die Sprache verändert.
Stadien einer Sprache unterscheiden sich durch ihre Regeln. In einem Stadium des Deutschen hat man feminine Abstrakta auf der Basis von Verben durch Wurzelverändung plus Suffix -t gebildet, wie in Sicht, Ankunft, Flucht. Im zeitgenössischen Deutsch bildet man ebenfalls deverbale feminine Abstrakta, aber durch Suffigierung von -ung, wie in Störung, Begleitung, Sichtung. Die erstere Regel existiert im zeitgenössischen Deutschen nicht mehr. Sie war ehemals produktiv und ist es jetzt nicht mehr. Einige von den damaligen Bildungen wurden jedoch lexikalisiert und haben sich bis ins heutige Deutsch erhalten. Es gibt also in einem synchronen Zustand Wörter im Lexikon, deren Bildungsregel in diesem Zustand nicht mehr besteht. Daraus läßt sich jedoch kein Argument dafür gewinnen, daß Wortbildung “etwas Diachrones” sei. Dieser Punkt wird unten wieder aufgegriffen.
Flexion10 ist der syntaktisch relevante Teil der Morphologie. Auf die Bedeutung dieser Definition kommen wir unten zurück. Flexion bildet Wortformen von Stämmen, könnte daher auch Wortformenbildung heißen und hieß ehemals auch Formenlehre.11 Die Idee dieser Terminologie ist, daß die (durch den Satzbau bedingten) unterschiedlichen Flexionsformen bloß Erscheinungsformen ein und desselben Lexems sind.
Flexionsformen eines Lexems entstehen dadurch, daß sein Stamm gemäß bestimmten morphologischen Kategorien abgewandelt wird. Jede dieser Kategorien ist ein Parameter, der verschiedene Werte annehmen kann. Eine solche Kategorie ist z.B. der Numerus, und seine Werte sind im Deutschen Singular und Plural. Diejenigen morphologischen Kategorien, nach denen ein Lexem qua Mitglied einer bestimmten Wortart flektiert, sind seine Flexionskategorien. Eine Flexionsform eines Lexems ist eine Form, an der für alle seine Flexionskategorien ein Wert spezifiziert ist. Diese werden durch bestimmte morphologische Prozesse kodiert. Z.B. bildet man die 2. Pers. Sg. Präs. Konj. Akt. vom Stamme sing dadurch, daß man an den Stamm das Suffix -est anfügt; dann ergibt sich die Flexionsform singest.
Die Wortarten unterscheiden sich u.a. durch die Flexionskategorien, die an ihnen auftreten. In diesem Punkte unterscheiden sich die Sprachen stark. Im Deutschen, und ähnlich in einigen umliegenden Sprachen, gelten die waagerechten Zuordnungen der folgenden Tabelle:
Wortart | Flexion | Flexionskategorien |
---|---|---|
Nomen | Deklination | Genus, Numerus, Kasus (Komparation) |
Verb | Konjugation | Person, Numerus, Tempus, Aspekt, Modus, Genus verbi (verbalnominale Kategorien) |
Partikel i.w.S. | keine |
Wortarten kann man als Distributionsklassen definieren. Nun ist aber die Wortart eine Eigenschaft eines Lexems - Wortarten sind "Lexemklassen" - und folglich eines Stamms, nicht einer Flexionsform. Bei nicht-flektierenden Wortarten bieten folglich die syntaktischen Konstruktionen, in welchen die Wörter einer Wortart vorkommen, den für die Distribution relevanten Kontext (s. Kap. 2.3). Bei flektierenden Wortarten jedoch wird der unmittelbare Kontext eines Stamms eben durch die Flexionsmorphologie gestellt. Daher ist es durchaus sinnvoll, wie es seit über 2000 Jahren geschieht, die Wortarten durch die an ihnen auftretenden Flexionskategorien zu definieren. Da die letzteren, wie gesagt, von Sprache zu Sprache variieren, ist damit natürlich impliziert, daß in verschiedenen Sprachen verschiedene Wortarten vorkommen. Zum zweiten setzt dieses Verfahren voraus, daß man für die Definition der Flexionskategorien nicht die Wortarten benötigt, an denen sie auftreten; denn sonst wird das Verfahren zirkulär. Es kann hier vorweggenommen werden (vgl. Kap. 3.1), daß Flexionskategorien in der Tat nicht rein strukturell definiert sind.
Eine Flexionskategorie ist ein Parameter, dessen Werte die einzelnen Ausprägungen der Kategorie sind. Z.B. sind Singular und Plural die Werte des Parameters ‘Numerus’. In der Flexion nimmt ein Stamm also alternative Werte auf einem solchen Parameter an. Um zu zeigen, wie er zu diesem Zwecke morphologisch abgewandelt wird, bedient man sich im Sprachunterricht seit spätestens 2500 Jahren eines Beispielworts, dessen Flexionsformen in eine Matrix gesetzt werden, so wie das gleich im nächsten Abschnitt an ai. deva- gezeigt wird. Flektiert ein Stamm nach mehreren Kategorien, die im morphologischen Ausdruck miteinander verschmelzen, so können diese nicht isoliert vorgeführt werden; und dann wird die Matrix notwendigerweise mehrdimensional. Paradigma ist das griechische Wort für “Beispiel”. In der Linguistik bedeutet Paradigma die Menge der Werte einer oder mehrerer Flexionskategorien eines Wortes einer Wortart (also eines Stamms) nebst ihrem morphologischen Ausdruck (d.h. es unterscheidet sich von dem traditionellen Begriff i.w. dadurch, daß kein Beispielwort erfordert wird).
Morphologische Kategorien sind Flexions- oder Derivationskategorien. Grammatische Kategorien wie Definitheit sind in einigen Sprachen wie Litauisch und Ungarisch Flexionskategorien, in anderen wie Deutsch dagegen nicht. Im Deutschen wird Definitheit durch eigene grammatische Wörter, die Artikel, angezeigt. Litauisch und Deutsch haben aber gemeinsam, daß Definitheit eine nominale grammatische Kategorie ist.
Der Ausdruck ‘grammatische Kategorie’ ist vieldeutig. Man unterscheidet mindestens (mit Lyons 1968) zwischen primären und sekundären grammatischen Kategorien. Eine primäre grammatische Kategorie ist die Kategorie einer Klasse von syntaktischen Einheiten; eine sekundäre grammatische Kategorie ist eine grammatische Kategorie, die an den Mitgliedern einer primären grammatischen Kategorie auftritt / spezifiziert wird. Für den Hausgebrauch kann man ‘primäre grammatische Kategorie’ mit ‘Wortart’, ‘sekundäre grammatische Kategorie’ mit ‘Flexionskategorie’ identifizieren. Das soeben besprochene Beispiel der Definitheit zeigt allerdings, daß eine sekundäre grammatische Kategorie nicht unbedingt flexivisch ausgedrückt werden muß.
Deklination ist die Flexion von Nomina (i.w.S.!). Das folgende altindische Paradigma illustriert gleichzeitige Deklination nach Kasus und Numerus bei bemerkenswertem Formenreichtum.
Numerus Kasus ╲ |
Singular | Plural | Dual |
---|---|---|---|
Vokativ | deva | devās | devau |
Nominativ | devas | ||
Akkusativ | devam | devān | |
Instrumental | devena | devais | devābhyām |
Dativ | devāya | devebhyas | |
Ablativ | devāt | ||
Genitiv | devasya | devānām | devayos |
Lokativ | deve | deveṣu |
Die Verwendung derselben morphologischen Form zur Wiedergabe verschiedener Kategorienwerte, wie z.B. Vokativ und Nominativ Plural, heißt Synkretismus.
Konjugation ist die Flexion von Verben (inkl. Hilfsverben). Das folgende Beispiel zeigt ein weniger vertrautes Konjugationssystem, wo das Verb nach Numerus und im Präsens nach Person, im Präteritum stattdessen nach Genus flektiert.
Tempus Num.|Pers. ╲Genus |
Präsens | Präteritum | |||||
m | f | n | m | f | n | ||
Sg. | 1. | čitáju | čitál | čitála | čitálo | ||
---|---|---|---|---|---|---|---|
2. | čitáeš | ||||||
3. | čitáet | ||||||
Pl. | 1. | čitáem | čitáli | ||||
2. | čitáete | ||||||
3. | čitájut |
Wir sahen (↰), daß es in der Flexion morphologisch konditionierte Allomorphie gibt. Auf der niedrigsten Analyseebene stellt man fest, daß im Ausdruck eines gegebenen Wertes einer gegebenen morphologischen Kategorie eine Menge von Allomorphen alternieren und daß die Mitglieder der Wortart, welche nach dieser Kategorie flektiert, in Teilmengen fallen nach dem Kriterium, welches dieser Allomorphe sie nehmen. So kann man etwa die deutschen Substantive danach in Klassen einteilen, ob sie den Nominativ Plural auf -en, auf -er, auf -e, auf -s oder auf noch eine andere Weise bilden.
Solche Klassen einer Wortart kann man für jeden einzelnen Wert jeder Flexionskategorie aufstellen. Dabei stellt man glücklicherweise Abhängigkeiten fest in dem Sinne, daß z.B. diejenigen maskulinen, belebten Substantive, welche den Plural auf -en bilden, den Genitiv Singular ebenfalls auf -en bilden (z.B. Student gegenüber Kater). Folglich kann man die Klasseneinteilung auf die Flexion durch das gesamte Paradigma beziehen. Es fallen also diejenigen Substantive in eine Klasse, welche im Deklinationsparadigma eine bestimmte Gruppe von Allomorphen nehmen. Eine Klasse von Mitgliedern einer Wortart, die im Flexionsparadigma dieselben Allomorphe aufweisen, ist eine Flexionsklasse. Entsprechend redet man bei den Substantiven von Deklinationsklassen und bei den Verben von Konjugationsklassen.
1. | deutsche Konjugationsklassen 1 |
2. | deutsche Konjugationsklassen 2 |
3. | deutsche Konjugationsklassen 3 |
Flexion und Derivation unterscheiden sich gemeinsam von Komposition dadurch, daß beide morphologische Veränderungen an einem Stamm betreffen. An diesen Veränderungen sind grundsätzlich dieselben morphologischen Prozesse beteiligt,13 so daß sich hieraus kein Unterschied zwischen ihnen gewinnen läßt.
Die folgende Tabelle zeigt einige Unterschiede zwischen Flexion und Derivation auf:
Bereich
Kriterium | Flexion | Derivation | |
Kompositionalität | kompositionell | ja | nein |
---|---|---|---|
Produktivität | anwendbar auf | alle Mitglieder einer Kategorie | einige Mitglieder einer Kategorie |
strukturelle Position | Strukturposition | außen | innen |
syntaktische Relevanz | syntaktisch relevant | ja | nein |
Diese Unterschiede haben unterschiedlichen methodologischen Status. Nur der letzte ist ein Definitionskriterium. Die anderen sind kontingent und können nur ersatzweise zur Unterscheidung herangezogen werden. Sie werden im übernächsten Abschnitt besprochen.
Da Komposition ebenso wenig syntaktisch relevant ist wie Derivation, ist syntaktische Relevanz das Kriterium der Unterscheidung einer Flexionskategorie von einer Wortbildungskategorie. Eine morphologische Kategorie ist syntaktisch relevant genau dann, wenn es eine syntaktische Regel gibt, die sie erwähnt. Zwei Arten von "Erwähnung" sind hier wichtig:
Zum Vergleich: Substantivierung mithilfe von -heit ist nicht syntaktisch relevant, denn keine syntaktische Regel des Deutschen erfordert, daß ein Adjektiv so substantiviert werde, bzw. erfordert ein so gebildetes Substantiv oder hängt davon ab.
Die Definition läßt sich leicht operationalisieren, denn aus ihr folgt, daß man an einer in einem bestimmten Kontext gegebenen Wortform die lexikalische Struktur ändern kann, ohne daß ihre syntaktischen Relationen beeinträchtigt werden, während dies für die flexivische Struktur nicht gilt.
B7. | a. | die neuerlichen Verunglimpfungen des Bundeskanzlers |
b. | die neuerlichen Reden des Bundeskanzlers | |
c. | die neuerlichen Verunglimpfung des Bundeskanzlers |
So können wir in B7.a den komplexen Stamm Verunglimpfung mit all seinen Derivationsaffixen durch ein einziges Morphem, wie in b, ersetzen. Die syntaktische Struktur ändert sich dadurch überhaupt nicht. Lassen wir jedoch das einzige flexivische Morphem dieses Worts, die Pluralendung, weg, wie in c, geht die syntaktische Struktur kaputt.
Syntaktische Relevanz ist also das wichtigste Kriterium der Unterscheidung zwischen Flexion und Derivation.14 Das Kriterium ist freilich selbst noch zu verfeinern: Vermutlich ist es auf die Relevanz für Formations- bzw. Kombinationsregeln zu beschränken, so daß also Transformationsregeln (die ja nur paradigmatische Beziehungen formulieren) ausgeschlossen sind. Z.B. kann man die Beziehung zwischen daß X Y
verunglimpft und Y
s Verunglimpfung durch X
als Transformationsregel formulieren und sodann ein Argument machen, daß die Nominalisierung auf -ung syntaktisch relevant sei. Es gibt jedoch, wie soeben gesehen, keine Kombinationsregel, die in einer bestimmten Konstruktion eine Ableitung auf -ung verlangt (vgl. X
s Falsifikation durch Y
). Vgl. auch die Diskussion um die Stellung von Infinitheit zwischen Konjugation und Derivation.
Anders als in der Grammatik, können die Erzeugnisse der Wortbildung ins Inventar des Sprachsystems eingehen. Somit läßt sich im Prinzip für jedes nach den Wortbildungsregeln gebildete Wort feststellen, ob es schon in der Sprache ist oder nicht. Wortbildung ist nun in mehreren Hinsichten unproduktiv und unregelmäßig.
Erstens sind eine Fülle von Bildungen denkbar, die nicht im Inventar sind, die also, gleichgültig ob jemand sie schon einmal gebildet hat oder ob sie erstmals gebildet werden, jedenfalls (noch) nicht lexikalisiert sind. Die Unregelmäßigkeit liegt hier darin, daß - anders als in der Grammatik - nicht alles, was nach den Regeln möglich ist, auch Bestandteil der Sprachnorm ist. Z.B. könnten wir analog zu Wortbildung die Phonembildung ersinnen; aber dieses Wort ist wohl nicht im deutschen Lexikon. Man spricht in diesem Zusammenhang von zufälligen Lücken.
Zweitens kann man nach den Regeln eine Fülle von Wörtern bilden, die aus den verschiedensten Gründen de facto ausgeschlossen sind. Z.B. könnten wir analog zu Dummheit auch Großheit bilden. Aber dieses Wort ist derzeit im Deutschen ausgeschlossen, weil es schon das Wort Größe mit der entsprechenden Bedeutung gibt. Dies ist natürlich ein idiosynkratischer Umstand, den kein Regelsystem vorsehen kann. Man spricht in diesem Zusammenhang von der Blockierung von Wortbildungsregeln durch ein schon existentes Wort. Diese beiden Arten der Unregelmäßigkeit von Wortbildung sind als beschränkte Produktivität von Wortbildungsregeln zusammenzufassen.
Drittens ist Wortbildung unregelmäßig, insofern die Bedeutung des Resultats sich nicht immer auf der Basis der Bedeutungen der Bestandteile und der Funktion des Wortbildungsprozesses vorhersehen läßt. Bekannt sind die Beispiele horse-shoe und alligator-shoe, wo nichts in der englischen Grammatik die Voraussage gestattet, daß die Schuhe im ersteren Fall für Pferde, im letzteren aber von (i.e. aus) Alligatoren gemacht sind (vgl. oben zu den semantischen Relationen in Komposita). Die Bedeutung von durch Wortbildung komplexen Wörtern ist notorisch nicht kompositionell. Jeder Versuch, Wortbildung auf Syntax zu reduzieren – und solcher gibt es hinreichend in der jüngeren Geschichte der Linguistik – ist deshalb zum Scheitern verurteilt. Das Phänomen, das hier eine Rolle spielt, ist die Lexikalisierung der Produkte der Wortbildung: Sie werden der Systematik sprachlicher Regeln entzogen und einzeln im Lexikon inventarisiert. In gewissem Sinne beginnt die Lexikalisierung bereits bei der Bildung.
Wie oben schon gesagt, sind Regeln, seien es grammatische oder lexikalische, ebenso wie alles andere an der Sprache dem Sprachwandel unterworfen. D.h. sie gelten eine gewisse Zeit in der Sprache und verschwinden dann, machen anderen Regeln Platz. Im Unterschied zu den Produkten der grammatischen Regeln aber können die Produkte von Wortbildungsregeln in das Inventar der Sprache eingehen. Folglich kann es passieren, daß ein späteres Sprachstadium von einem früheren zwar die Produkte einer gewissen Wortbildungsregel erbt, nicht aber die Regel selbst. Z.B. bildete man in einem früheren Stadium des Deutschen ziemlich regelmäßig synthetische (s.u.) kausative Verben wie in folgender Tabelle.
Basisverb | Kausativ | |
---|---|---|
synthetisch | periphrastisch | |
ersaufen | ersäufen | ersaufen lassen |
fallen | fällen | fallen lassen |
liegen | legen | liegen lassen |
sinken | senken | sinken lassen |
saugen | säugen | saugen lassen |
sitzen | setzen | sitzen lassen |
trinken | tränken | trinken lassen |
wachen | wecken | wachen lassen |
verschwinden | verschwenden | verschwinden lassen |
singen | sengen | zum singen bringen |
Heute können wir zwar den strukturellen und semantischen Zusammenhang zwischen den Mitgliedern der Paare der ersten und zweiten Spalte erkennen, aber wir können kein einziges Kausativum nach diesem Muster bilden (stattdessen greifen wir zu den Periphrasen der rechten Spalte). Wortbildung ist also vor allem auch deshalb so unregelmäßig, weil der Wortschatz historisch geschichtet ist und die Produkte früher wirksamer Wortbildungsregeln enthält.
Nach synchronen Regeln beschrieben werden kann also eigentlich immer nur die Neologie; denn nur bei Neologismen können wir sicher sein, daß sie nach den aktuell zum Sprachsystem gehörigen Regeln gebildet werden.
Bei der Flexion stellt sich nicht, wie bei der Wortbildung, die Frage der Produktivität. Im allgemeinen weisen alle Mitglieder einer gegebenen Wortart dieselben Flexionskategorien auf. Ausnahmen sind entweder Konsequenz einer grammatischen Subregularität, wie z.B. das Fehlen des Numerus bei Massensubstantiven oder der Person bei Witterungsverben; oder sie sind idiosynkratisch, wie z.B. der Wechsel des Genus verbi bei lat. gaudere (gaudeo - gavisus sum)15 "sich freuen". Im letzteren Fall ist ihr Status als Ausnahmen zweifelsfrei, und sie können aufgezählt werden. Das Entsprechende ist in der Wortbildung unmöglich. Man spricht von defektiver Flexion (Beispiele woanders), aber nicht von defektiver Wortbildung, denn die ist der Normalfall.
Flexion kann in verschiedenem Maße unregelmäßig sein. In der deutschen Konjugation z.B. gibt es eine ganze Reihe von morphologischen Verfahren von verschiedenem Regelmäßigkeitsgrad. Die regelmäßigste Konjugation ist die schwache, so wie in stelle - stellte - gestellt. Die starke Konjugation umfaßt zum einen Verben wie singe - sang - gesungen, zu denen es eine Fülle von Parallelen wie dringe - drang - gedrungen usw. gibt. Insofern kann man hier noch nicht von Unregelmäßigkeit sprechen. Daneben gibt es aber auch starke Verben wie liegen - lag - gelegen, deren Flexionsmuster eher vereinzelt ist. Dann gibt es stark unregelmäßige Abwandlungen wie in sitze - saß - gesessen, die schon suppletiv sind (s.u.). Auch bei den schwachen Verben gibt es Unregelmäßigkeiten, wie in bringe - brachte - gebracht. All dies sind, i.S.v. Kap. 2.2.1, Fälle von morphologisch konditionierter Allomorphie.
1. | Flexion vs. Derivation 1 |
2. | Flexion vs. Derivation 2 |
Die konstitutive verbale Kategorie ist die Finitheit. In erster Annäherung kann man sagen, daß eine Verbform finit ist, welche nach den verbalen Kategorien der Sprache konjugiert ist, während eine infinite Verbform nicht so konjugiert oder sogar dekliniert ist.12 Z.B. ist springst eine finite, springend eine infinite Form des Verbs springen. Für Deutsch und umliegende Sprachen kann man einfach die Flexion nach der Person als Kriterium nehmen und sagen: Eine nach Person flektierte Verbform ist finit; alle anderen sind infinit. Eine solche Definition ist freilich nicht universal anwendbar, u.a. deswegen nicht, weil Person nicht in allen Sprachen eine verbale Kategorie ist.
Während finite Verbformen das Paradebeispiel für Flexion darstellen, ist die Einordnung infiniter Verbformen zwischen Flexion und Derivation notorisch schwierig:
Eine weitere Komplikation liegt darin, daß es Grade der Finitheit gibt in folgendem Sinne: Eine infinite Form entbehrt nicht einfach jeglicher verbaler Kategorie, sondern vielleicht nur einiger. Im Deutschen z.B. haben Partizipien Genus verbi; im Lateinischen flektieren Infinitive für Tempus. Wenn infinite Formen nach verbalen Kategorien flektieren, müssen es wohl Flexionsformen sein.
Es walten also in diesem Bereich anstelle kategorialer Unterschiede zwei Kontinua:
Folglich ist weder mit einer klaren Grenze zwischen Finitheit und Infinitheit noch mit einer klaren Zuordnung von Infinitheit zu Konjugation oder Derivation zu rechnen.
Finite und infinite Verbformen werden syntaktisch verschieden verwendet. Eine Verbform, die den strukturellen Kopf des Prädikats eines selbständigen Satzes stellt, ist normalerweise finit. Dagegen sind Verbformen, die von anderen Verbformen (z.B. von Modalverben) abhängen, häufig infinit.
Der höchste Grad der Unregelmäßigkeit ist in der Suppletion erreicht. Hier bedingen die verschiedenen Flexionskategorien, in denen ein Wort auftreten kann, den Einsatz verschiedener, nicht phonologisch aufeinander bezogener Stämme, wie in B8.
B8. | a. | lat. fer-o – tul-i – latu-m "trage - trug - getragen" |
b. | bin - war - gewesen | |
c. | engl. good - well |
Z.B. tritt in B8.a anstelle des Präsensstamms fer- ein eigener Perfektstamm tul- und dann noch ein Partizipialstamm lato- auf. Die Flexionsaffixe selbst haben hier ihre regelmäßigen Formen. Bei einer noch weitergehenden Form von Suppletion weisen außerdem die Flexionsaffixe eine unregelmäßige Allomorphie auf. So ist das Adverb in c von der fiktiven regelmäßigen Form goodly zwei Stufen entfernt, weil nicht nur der Adjektivstamm suppletiv wechselt, sondern außerdem das Adverbsuffix fehlt.16
Der Begriff der Suppletion bezieht sich lediglich auf die Alternation zwischen zwei oder mehr Stämmen, die ein Lexem in der Flexion repräsentieren und deren Significantia nicht durch regelmäßige phonologische Prozesse aufeinander bezogen sind. Der Begriff läßt jedoch folgende Alternative offen:
Es gibt mithin zwei Arten von Suppletion, für die eigentlich auch verschiedene Termini benötigt werden, z.B. ‘signifikative vs. allomorphische Suppletion’.
Suppletion tritt notorisch gerade an den häufigsten Wörtern der Sprache, an den zentralen Einheiten des Wortschatzes auf. In allen Sprachen besteht eine starke Tendenz, gerade die wichtigsten Wörter unregelmäßig zu flektieren. Dies hat eine einleuchtende funktionelle Erklärung. Man stelle sich einen Handwerker vor, der Schraubenschlüssel verschiedener Schlüsselweite benötigt. Es ist im Hinblick auf den Umfang des Inventars ökonomisch, sich einen Satz von Stecknüssen anzuschaffen, die alternativ in den Griff gesteckt werden können. Zwei Größen allerdings benötigt der Handwerker ständig. Für diese ist es zu aufwendig, jedesmal den Griff mit der Stecknuß zu kombinieren; stattdessen hat er für sie zwei fertige Schraubenschlüssel bereit. Dies ist ökonomischer im Hinblick auf die Arbeit. Ähnliche Gesichtspunkte gelten auch für die Regelmäßigkeit vs. Unregelmäßigkeit von Flexion.
1. | Suppletion |
Oft flektiert ein Wort nach mehreren morphologischen Kategorien gleichzeitig. Manchmal wird pro Kategorie eine Operation auf den Stamm angewandt, deren Output als Input für die nächste Operation dient, so wie das bereits oben dargestellt wurde. Oft aber gibt es einen einzigen morphologischen Prozeß, oder eine unentwirrbare Kombination mehrerer, der bzw. die eine Menge von morphologischen Kategorien (genauer: von deren Werten) gleichzeitig ausdrückt. Ein Beispiel war in der Deklination des altindischen Substantivs zu sehen: Für die beiden Kategorien Numerus und Kasus gibt es nicht separate Affixe, sondern es gibt nur ein Deklinationssuffix, in welchem diese beiden Kategorien kumuliert (oder amalgamiert oder fusioniert) sind. Man sagt dann auch: -asya ist der Exponent der Kombination der Werte ‘Genitiv’ und ‘Singular’. Es gibt zahlreiche andere Arten der Exponenz morphologischer Kategorien.
Hier soll kurz der Begriff der Markiertheit mit Bezug auf grammatische Kategorien eingeführt werden. Oppositionen gibt es auf allen sprachlichen Ebenen: zwischen phonologischen Merkmalen, Phonemen, Morphemen, Wörtern usw. Die folgenden Feststellungen gelten mutatis mutandis für alle Ebenen, sollen im gegebenen theoretischen Zusammenhang aber auf die morphologische Ebene beschränkt werden (für die Phonologie s. anderswo). Für diese gilt, daß zueinander in Opposition stehende grammatische Morpheme oder Wörter für alternative Werte einer grammatischen Kategorie stehen. Z.B. stehen nach einem präsentischen Verbstamm des Deutschen die Morpheme -e, -st, -t zueinander in Opposition; und sie repräsentieren die Werte der Kategorie 'Person', nämlich die drei Personen.
Eine binäre Opposition kann äquipollent oder privativ sein. Die Glieder einer äquipollenten Opposition sind gleichwertig. Z.B. bilden die 1. und 2. Person des Konjugationsparadigmas eine äquipollente Opposition. Zu einer privativen Opposition gehören ein markiertes (m
) und ein unmarkiertes (u
) Glied. Die beiden unterscheiden sich in mehreren Aspekten, von denen hier nur einige interessieren.
Die ersten beiden obigen Kriterien ergeben, angewandt auf die beiden synthetisch ausgedrückten deutschen Tempora, folgendes Bild:
╲ Tempus |
Präsens | Präteritum |
Significatum | (Nicht-Vergangenheit =) 0 | Vergangenheit |
---|---|---|
Significans | 0 | -t |
Beispiel | leb-e | leb-t-e |
Markiertheit | u | m |
Zur paradigmatischen Struktur gehören auch Beschränkungen über die Selektion einzelner Werte einer Kategorie oder überhaupt der ganzen Kategorie. Paradigmatische Variabilität ist die Freiheit, mit der die ganze Kategorie spezifiziert oder unspezifiziert gelassen wird (transparadigmatische Variabilität) und mit der ein Mitglied (Wert) des Paradigmas statt eines anderen gewählt wird (intraparadigmatische Variabilität).
Auf morphologischer Ebene sind solche Beschränkungen häufig. Z.B. haben deutsche Adjektive eine schwache und eine starke Flexion (ein alter Mann vs. der alte Mann). In nur ganz wenigen Kontexten hat man zwischen den beiden die Wahl; in den meisten Fällen, so wie in den beiden Beispielen, bestimmt der Kontext, ob man stark oder schwach dekliniert. Die Wahl eines Wertes dieser morphologischen Kategorie ist also im syntaktischen Kontext vollkommen obligatorisch.
Auf höheren grammatischen Ebenen sind solche Beschränkungen schwächer. Z.B. habe ich in vielen Kontexten die Wahl, ob ich die Frau oder eine Frau, also von der Kategorie ‘Definitheit’ den Wert ‘definit’ oder den Wert ‘indefinit’ selektiere. Manchmal allerdings schreibt mir auch das eine Regel der Grammatik vor, z.B. in eine solche Frau. Andererseits kann ich sogar die ganze Kategorie ‘Definitheit’ ignorieren, wie B9 das zeigt.
B9. | (Die/eine) Liebe ist eine Himmelsmacht. |
Man kann verallgemeinern, daß die paradigmatische Variabilität mit abnehmender grammatischer Ebene geringer wird.
Es wurde bereits mehrfach vorweggenommen, daß wenn an ein und demselben Stamm sowohl Derivations- als auch Flexionsaffixe stehen, i.a. die Derivationsaffixe näher an der Wurzel, die Flexionsaffixe eher an der Peripherie der Wortform stehen. In der Form be-leid-ig-t-e z.B. steht ungefähr in der Mitte die Wurzel leid, rechts und links davon zunächst die derivativen Affixe be- und -ig- und weiter nach außen zunächst das Tempus- und dann das Personalsuffix. Die Tendenz zu dieser Anordnung besteht in allen Sprachen und bildet offenbar die Bedeutungsstruktur ab: die inneren Morpheme sind lexikalischer Natur, stehen für die Wortbedeutung und ihre Modifikationen an sich; die äußeren Morpheme sind grammatischer Natur, sie werden erst angefügt, wenn das Wort für den Einsatz in einem bestimmten Syntagma zugerichtet werden soll, und stellen die Verbindungen zu den benachbarten Wörtern her. Dieser Zwiebelschalenaufbau paßt also zu der syntaktischen Relevanz der Flexion gegenüber der bloß lexikalischen Relevanz der Wortbildung.
Innerhalb des Wortes gibt es daher Strukturpositionen oder morphologische Positionen. Sie werden nicht einfach von links anfangend als Nr.1 - n durchgezählt (ebensowenig wie sich in der Syntax irgendetwas an der Funktion eines Wortes dadurch bestimmt, daß dieses etwa die fünfte Position im Satz einnimmt); sondern sie werden bestimmt unter Bezug auf die Wurzel und dann auf den Stamm. Z.B. können unmittelbar links von der Verbalwurzel im Deutschen eine geschlossene Menge von Derivationspräfixen wie be-, ver-, zer- usw. stehen, und davor wiederum eine Menge von Adverbien wie ein-, ab-, an- usw. Als letzte Suffixe können die Personalendungen stehen, und danach kann nichts mehr kommen. Die meisten Strukturpositionen sind nur fakultativ besetzt. Das gilt z.B. für die beiden genannten Verbpräfixpositionen, wie B10 zeigt.
B10. | a. | zahlen |
b. | be-zahlen | |
c. | aus-zahlen | |
d. | aus-be-zahlen |
Während man aus B10.b und c den falschen Schluß ziehen könnte, es gebe eine präradikale17 Position, die alternativ mit be- oder aus- besetzbar sei, zeigt d, daß es deren zwei gibt, die beide, wie aus a - c zu ersehen, fakultativ zu besetzen sind. Daß es sich jedoch um zwei paradigmatisch und syntagmatisch verschiedene Positionen handelt, sieht man daran, daß es ein be-aus-zahlen nicht gibt und nicht geben kann.18 Weiteres zu diesem Thema im Kapitel über Wortstellung.
Die Fusion meherer morphologischer Kategorien in einem Morphem war oben als Frage der paradigmatischen Struktur behandelt worden. Sie hat aber auch einen syntagmatischen Aspekt. B11 zeigt zwei artikelfusionierende deutsche Präpositionen.
B11. | a. | zu dem Bahnhof > zum Bahnhof, zu der Bahn > zur Bahn |
b. | vor den Bahnhof > vorn Bahnhof, vor das Haus > vors Haus |
Wie die Beispiele zeigen, wachsen syntagmatisch benachbarte Morphe durch Fusion zusammen, und so entsteht fusionierende Morphologie. Sie ist gleichsam Verlagerung von Komplexität von der syntagmatischen auf die paradigmatische Achse.
Flexion findet grundsätzlich durch morphologische Abwandlung eines Stamms statt. Allerdings tritt dabei nicht selten die Komplikation auf, daß in einer bestimmten Flexionskategorie statt einer Wortform ein Komplex aus zweien vorliegt.
Genus Verbi
Tempus ╲ | Aktiv | Bedeutung | Passiv | Bedeutung |
Präsens | laudat | lobt | laudatur | wird gelobt |
---|---|---|---|---|
Imperfekt | laudabat | lobte | laudabatur | wurde gelobt |
Futur | laudabit | wird loben | laudabitur | wird gelobt werden |
Perfekt | laudavit | hat gelobt | laudatus est | ist gelobt worden |
Im Lateinischen (i.Ggs.z. Deutschen) wird das Passiv im Prinzip durch Anfügung besonderer Personalendungen an das Verb gebildet, so wie es die rechte Spalte der Tabelle für die ersten drei Tempora zeigt. Im Perfekt allerdings (und noch in anderen Kategorien) wird das Passiv nicht durch einen solchen morphologischen Prozeß gebildet. Statt dessen benötigt man zwei Verben, nämlich das zu flektierende Vollverb und das Hilfsverb esse “sein”. Von ersterem wird das Partizip Perfekt Passiv gebildet, von letzterem (für das Passiv des Perfekts) eine präsentische Form. Das Partizip kongruiert mit dem Subjekt in Genus, Numerus und Kasus. Das Hilfsverb kongruiert mit dem Subjekt in Person und Numerus. Zusammen bilden die beiden Verbformen einen Komplex. Man nennt solche komplexen Verbformen periphrastische Verbformen und das grammatische Verfahren eine Periphrase (wörtl. “Umschreibung”). Eine periphrastische Verbform besteht grundsätzlich aus der (finiten) Form eines Hilfsverbs und der infiniten Form des zu flektierenden Vollverbs. Flexionsformen, die durch Abwandlung eines einzigen Stamms gebildet sind, also aus nicht mehr als einer Wortform bestehen, nennt man demgegenüber synthetisch. In dem gegebenen Beispiel wird das Passiv, außer im Perfekt, synthetisch gebildet.
Bei der Periphrase handelt es sich prima facie um die Kombination von zwei Wortformen. Insofern scheint man sich eher auf der Ebene der Syntax als der Morphologie zu befinden. Tatsächlich gibt es viele Syntagmen, die aus einem finiten und einem infiniten Verb bestehen, z.B. lat. laudatus abit “gelobt schreitet er von dannen”, und die klärlich nicht komplexe Verbformen, sondern syntaktische Konstruktionen sind. Es stellt sich also die Frage, unter welchen Bedingungen solche Kombinationen als periphrastische Wortformen anzusehen sind. Die Kriterien beziehen sich, allgemein gesagt, auf den Grad der Grammatikalisierung der Konstruktion. Der Fall des lateinischen Passivs liegt ganz klar, denn die periphrastische Verbform besetzt offensichtlich eine systematische Position in einem Flexionsparadigma, das sonst synthetisch gebildet ist. In anderen Fällen wie dem deutschen Passiv oder dem deutschen Perfekt und Futur, die über keine einzige synthetische Form verfügen, ist die Argumentation komplizierter.
Die syntagmatische Variabilität einer signifikativen Einheit ist die Freiheit, mit der sie im Syntagma verschiedene Strukturpositionen einnehmen kann. Ebenso wie die paradigmatische Variabilität wird sie mit abnehmender grammatischer Ebene geringer.
Auf höheren syntaktischen Ebenen herrscht meist eine gewisse Wortstellungsfreiheit: Man kann verbale Dependenten an verschiedene Positionen im Satz setzen, man kann possessive Attribute vor den nominalen Kopf oder dahinter stellen, und einige Präpositionen wie wegen können auch postpositional verwendet werden. Innerhalb einer Wortform dagegen können die Morpheme fast nie umgestellt werden: man kann nicht ein Präfix alternativ als Suffix konstruieren. Das obige Gesetz der auf den höheren Ebenen zunehmenden syntagmatischen Variabilität ist einprägsam wie folgt formuliert worden:
More goes on upstairs than downstairs. |
Das heißt: Auf höheren grammatischen Ebenen herrscht mehr Freiheit in der Selektion und Kombination der Einheiten als auf niedrigeren. |
In Abhandlungen über Morphologie und den Wortbegriff ist häufig (z.B. in Bergenholtz & Mugdan 1979, Kap.3) die Rede von der Untrennbarkeit des Worts. Danach soll das Wort sich darin von Einheiten höherer Ebenen unterscheiden, daß keine Zeichen in es eingeschoben, seine konstitutiven Zeichen also nicht getrennt werden können. Dieses Kriterium wird dann durch Hinweis auf Beispiele wie B10.c und d entkräftet. Jedoch kann man, wie an der Diskussion der (fakultativ besetzbaren) Strukturposition im vorletzten Abschnitt deutlich wird, den Begriff der geringen syntagmatischen Variabilität auf morphologischer Ebene so nicht operationalisieren. Worauf es hier in Wahrheit ankommt, ist, daß über morphologischen Strukturpositionen viel stärkere syntagmatische und paradigmatische Beschränkungen herrschen als über syntaktischen. Tatsächlich gibt es Strukturpositionen in manchen Sprachen überhaupt nur innerhalb des Wortes: sie haben eine so freie Wortstellung, daß es keine syntaktischen Strukturpositionen gibt. Mehr dazu in Kap. 2.3.4.
1. | Wortstellungsfreiheit |
2. | Komplexe Verbformen im Deutschen |
3. | Syntagmatik der Verbstammbildung |
Linguistische Beispiele aus Sprachen, deren Kenntnis beim Leser nicht vorausgesetzt wird, benötigen nicht nur eine Übersetzung, sondern auch eine Annotation ihrer morphologischen Struktur, damit der Leser nachvollziehen kann, was das Beispiel zeigen soll. Dazu dient eine dreizeilige Anordnung des Beispiels:
Solche Beispiele finden sich z.B. im Abschnitt über die Topic-Comment-Struktur. Eine ausführliche Anleitung zur fachgerechten Erstellung solcher morphologischer Glossen ist Gegenstand einer eigenen Website.
1 Terminus um 1880 von dem polnischen Linguisten Jan Baudouin de Courtenay geprägt.
2 Der zur Bestimmung des ersteren Falles in der obigen Klassifikation verwandte Ausdruck “konstante Kette” involviert eine Abstraktion über der selbstverständlich vorkommenden Allomorphie.
3 In der deutschen Schulgrammatik heißt es statt ‘Präfix’ und ‘Suffix’ ‘Vorsilbe’ und ‘Nachsilbe’. Die in der Schulgrammatik verbreiteten Adaptationen linguistischer Termini sind oft ziemlich irreführend; wie wir in Kap. 2.2.1 sahen, haben Morpheme nichts mit Silben zu tun.
4 Der Begriff des Infixes wird häufig nicht verstanden. Oft wird geglaubt, das Affix -ig- in Formen wie steinigen sei ein Infix. Es ist ein Suffix. (Ein Suffix ist nicht ein Affix am Wortende, sondern ein Affix hinter der Wurzel.) Ein Infix liegt nur dann vor, wenn das fragliche Affix in ein anderes Morphem eingefügt wird, dieses also in zwei Teile spaltet. Im Deutschen gibt es keine Infixe.
5 In diesem Beispiel ist nicht nur das Perfekt durch Reduplikation, sondern auch das Präsens durch Infigierung markiert.
6 Auch grammatische Wörter wie der haben eine Wurzel (in diesem Falle d-).
7 Zur Erinnerung: die Basis deverbaler Ableitung ist nicht der Infinitiv; dieser ist lediglich die Zitierform des verbalen Lexems.
8 Der Terminus ‘Konversion’ ist polysem, denn er bedeutet auch den Valenzwechsel ohne morphologischen Prozeß.
9 Gallmann & Sitta 1998:291 behandeln Konversion ohne weiteres als eine Art Derivation.
10 Auch Flexion (ehemals durch Beugung lehnübersetzt) ist polysem. Es bezeichnet auch eines der typologisch relevanten morphologischen Verfahren, i.Ggs.z. Agglutination usw. In diesem Sinne wird es heute meist durch Fusion ersetzt, wiewohl das nicht ganz dasselbe ist.
11 Das ist übrigens die etymologische Bedeutung von Morphologie!
12 Daß in der obigen Tabelle die verbalnominalen Kategorien unter den verbalen Kategorien in Klammern aufgeführt sind, bereitet darauf vor, daß sie im gegenwärtigen Zusammenhang nicht als Konjugationskategorien zählen.
13 In der französischen Linguistik kursiert die Idee, man könne Derivation als Suffigierung definieren.
14 Erstaunlicherweise folgt daraus, daß die Flexionsklasse eines Worts keine Flexionskategorie ist.
15 Das Präsens konjugiert also aktivisch, das Perfekt jedoch passivisch.
16 Man sagt auch, das Adverbmorphem habe ein Nullallomorph (nicht mit dem Nullmorphem zu verwechseln!). Die morphologische Beschreibung wird hier delikat, weil das Auftreten des Allomorphs well des Morphems good durch die (normalerweise in einem folgenden Suffix ausgedrückte) Umkategorisierung zum Adverb konditioniert ist und gleichzeitig das Auftreten des Nullallomorphs des Adverbsuffixes durch das Vorangehen des Allomorphs well konditioniert ist. Solche Klimmzüge vermeidet man, wenn man, wie oben geschehen, diese Art von Suppletion als einen morphologischen Prozeß auffaßt.
17 radikal “auf die Wurzel bezogen”, präradikal “vor der Wurzel stehend”
18 Wörter wie beabsichtigen widersprechen dem, bei richtiger morphologischer Analyse, natürlich nicht.
19 Dies ist mithin ein struktureller Begriff von ‘Kopf’, der in semantischer Hinsicht kontraintuitiv sein mag.
20 Nicht Determinativkomposita sind z.B. Gernegroß und Taugenichts. Manche wünschen sich ein allgemeines Prinzip (genannt Right Hand Head Rule), daß die zweite Konstituente eines Kompositums (oder gar jedes komplexen Stamms) dessen Kategorie bestimmt, und nennen deshalb solche Bildungen nicht einmal Komposita.
21 Der Terminus ‘Morphologisierung’ bezeichnet außerdem noch diejenige Phase der Grammatikalisierung, wo ein Wort zu einem Affix wird. In beiden Fällen bezeichnet der Terminus die Verschiebung von etwas in die Morphologie, wenn auch sozusagen aus entgegengesetzten Richtungen.
22 Wohlgemerkt: hier ist die Rede von einem morphologischen Prozeß i.S.v. §2.2.2. Die Operation des Linguisten, der das herausfindet, ist natürlich sehr wohl eine Substitution.