Regelordnung

1. Zusammenwirken phonologischer Regeln

Bei der Konstruktion von Sätzen werden dem Lexikon Einträge entnommen und miteinander kombiniert. Für deren Significantia liefert das Lexikon eine zugrundeliegende, eben die lexikalische (oder morphophonemische) Repräsentation. Durch die Kombination werden die Significantia verändert, so daß ihre phonetische Repräsentation von der lexikalischen abweicht. Dieses Faktum wird beschrieben durch eine Menge phonologischer Regeln, welche die lexikalische in die phonetische Repräsentation überführen. Diese Regeln greifen ineinander. D.h. eine Regel produziert einen Output, der der Input einer weiteren Regel sein kann; oder aber sie verändert Repräsentationen so, daß sie nicht mehr Input zu einer anderen Regel sind.

Wir sahen, daß man die deutsche Alternation von /g/ ~ /ç/ als Frikativierung beschreiben kann. Die Verstimmlosung muß man nicht in dieselbe Regel (R5) aufnehmen, weil man eine Regel für Auslautverhärtung im Deutschen (R6) völlig unabhängig von diesem spezifischen Phänomen braucht. Folglich genügt es, hier lediglich das /g/ in /ʝ/ zu wandeln. Dieses unterliegt (in der betreffenden Position) dann ebenso der Auslautverhärtung wie jeglicher anderer Obstruent.

Voraussetzung dafür, daß dies in formalem Sinne funktioniert, ist freilich, daß die Regel der Auslautverhärtung nach der Frikativierungsregel angewandt wird. In dem Modell von Chomsky & Halle 1968 können Regeln geordnet sein in dem Sinne, daß die Reihenfolge ihrer Anwendung festliegt.1

2. Synkope von /ə/

Die beiden Teilregeln der Synkope von Schwa im Deutschen müssen in dieser Reihenfole angewandt werden. Könnte R11 vor R10 angewandt werden, so würde aus zugrundeliegendem {'radelen} radlen werden.

Wörter wie edle, üble, magre, Handlung sind unter der Voraussetzung, daß die Obstruenten die erste Silbe enden, Ausnahmen zur Auslautverhärtung. Zur Lösung des Problems besteht theoretisch die Alternative, daß die zweite Silbe mit der Konsonantengruppe beginnt: [eː•dlə] usw. Dann bekommt man allerdings die Konsonantengruppe /dl/, die im Wortanlaut jedenfalls nicht vorkommt. Eine andere Möglichkeit, die Ausnahmen loszuwerden, ergibt sich aus der Beobachtung, daß solche Wörter Synkope von Schwa in der Konsonantengruppe gemeinsam haben. Die Lösung besteht dann darin, die Synkope nach der Auslautverhärtung anzuwenden:

Ausgangsform:{'e•de•le}
Auslautverhärtung:[keine Änderung]
Synkope:{'e•d•le}
Silbenfusion:{'ed•le}

Hier entsteht die anstößige Konsonantengruppe nicht. Die stimmhaften Obstruenten im Silbenauslaut verbleiben, weil die Anwendung von Auslautverhärtung schon vorbei ist. Diese alternative Analyse ist im Prinzip entscheidbar, wenn man feststellt, wo sich tatsächlich die Silbengrenze befindet.

3. Velarisierung des palatalen Frikativs

Wörter wie durch haben im Hochdeutschen ein [ç], im Ruhrdeutschen jedoch ein [χ]. Die Variation kann durch unterschiedliche Anordnung zweier Regeln wie folgt beschrieben werden:

0. lexikalisch {durç}

3.1. Norddeutsch

1.Velarisierung von ç (R4)-
2. Vokalisierung des r (R7 + R8) [duɐç ]

3.2. Ruhrdeutsch

1. Vokalisierung des r (R7 + R8) [duɐç ]
2.Velarisierung von ç (R4)[duɐχ ]

In beiden Fällen handelt es sich um Dialekte, die die Kontextbedingung von R8 lockern.

4. Velare Nasale im Auslaut

Wörter wie Achtung lauten im Hochdeutschen auf [ŋ] aus, in zahlreichen deutschen Dialekten (im folgenden durch “Süddeutsch” vertreten2) jedoch auf [k]. Diese Variation läßt sich durch unterschiedliche Anordnung von zwei Regeln, die an der Bildung dieser Formen beteiligt sind, beschreiben:

0.lexikalisch{ding}

4.1. Hochdeutsch

1.g-Tilgung (R9)[dɪŋ]
2.Auslautverhärtung (R6)-

4.2. Süddeutsch

1.Auslautverhärtung (R6)[dɪŋk]
2.g-Tilgung (R9)-

1 Spätere phonologische Modelle haben sich bemüht, ohne festgesetzte Regelordnung auszukommen, weil diese als künstlicher Formalismus erschien. In der Optimalitätstheorie hinwiederum kommt alles auf die Rangordnung der Gesetze an, die hier Beschränkungen, nicht Regeln heißen.

2 Auch dies ist wieder eine starke Vereinfachung zugunsten der hier allein interessierenden systematischen Analyse. In Wahrheit herrscht in Beziehung auf die beiden Alternanten Variation sogar innerhalb eines Idiolekts.