Entwicklungsstufen

Immer wo ein Volk die Schrift ohne Einfluß von einer schon existierenden alphabetischen Schrift erfand, nahm das Schriftsystem die gleiche Entwicklung über die folgenden vier Stufen:

Entwicklungsstufen von Schriftsystemen
Nr.SystemBeschreibung
1Piktographie
Ein Bildzeichen (Piktogramm) repräsentiert einen ganzen Gedanken. Sprachliche Form wird nicht wiedergegeben.
2Logographie
Ein Schriftzeichen (Logogramm) repräsentiert eine Wortbedeutung. Phonologie und Morphologie werden nicht wiedergegeben, aber das einzelne Schriftzeichen entspricht einer Wortform, und ihre Reihenfolge entspricht der Syntax.
3Syllabographie
Ein Silbenzeichen (Syllabogramm) repräsentiert eine Silbe der gesprochenen Sprache. Phonologie und Morphologie werden mit einer Genauigkeit wiedergegeben, die von der Silbenstruktur der Sprache und dem Ausbau des Schriftsystems abhängt.
4Alphabetische SchriftEin Buchstabe repräsentiert einen Laut. Die Grammatik wird genau wiedergegeben, die Phonologie in dem Maße, in dem die Zuordnung zwischen Buchstaben und Lauten eindeutig ist.

Dies sind systematische Stufen, denen reale Schriftsysteme sich in unterschiedlichem Grade annähern und die natürlich auch nicht von jedem historischen Schriftsystem bis zu Ende durchlaufen worden sind. Wo ein System historisch von einer Stufe zur nächsten übergeht, gibt es Zwischenformen, die teilweise hochgradig unsystematisch sind.

Von der Piktographie über die Ideographie zur Logographie

Ein piktographisches entwickelt sich zu einem ideographischen System dadurch, daß ein komplexer Gedanke in seine begrifflichen Bestandteile zerlegt wird. Damit geht eine Normierung der Schriftzeichen einher: Während das Piktogramm die individuellen Eigenschaften der dargestellten Situation wiedergeben kann, ist es bei der Ideographie ein Inventar fester Begriffe, aus denen alle denkbaren Situationen sich zusammensetzen. Zudem kann ein Ideogramm auch Dinge bedeuten, die nicht visuell wahrnehmbar sind. Der ikonische Charakter der Zeichen geht also beim Übergang zu einer Ideographie verloren.

In dem Maße, in dem das Schriftsystem ausgebaut wird, enthält es für jedes Sprachzeichen ein Schriftzeichen und wird zur Logographie. Schriften, die diesen Schritt nicht vollendet haben, sind manchmal noch nicht sehr sprachspezifisch; ihre Ideo- oder Logogramme können von Sprechern verschiedener Sprachen verwendet werden. So dient die chinesische Schrift heute noch in China zur Verständigung zwischen Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen; und teilweise können auch Japaner sie (als Kanji) lesen. Ebenso übernahmen die Akkader die sumerische Ideographie; und über weite Strecken schrieben sie ihre Lexeme mit “Sumerogrammen”.

In zahlreichen Sprachen erinnert die Etymologie des Wortes für ‘schreiben’ an den handwerklichen und piktographischen Ursprung dieser Tätigkeit. So hängt engl. write etymologisch mit dt. ritzen zusammen. Dt. schreiben dagegen ist von lat. scribere “schreiben” entlehnt, welches mit griech. gráphein verwandt ist. Dieses wiederum bedeutet außer “schreiben” auch “ritzen” und “malen”. Yukatekisch ts'íib bedeutet “schreiben” und “malen”.

Der Wandel von der Piktographie zur Logographie ist in der Geschichte mehrfach vorgekommen. Am besten bezeugt ist er für die chinesische und die sumerische Schrift. Die folgende Abbildung zeigt die Konventionalisierung einiger chinesischer Schriftzeichen (etwa -2.000 - -1.000):

Eine entsprechende Darstellung der Entwicklung einiger sumerischer Schriftzeichen findet sich in der Geschichte der sumerischen Schrift.

Von der Logographie zur Silbenschrift

Soll die Logographie synonyme Wörter auseinanderhalten oder verschiedene morphologische Formen eines Worts wiedergeben, müssen Zusatzzeichen, sog. Determinative verwendet werden, die auf die Lautform des Wortes hinweisen. Sollen Begriffe wiedergegeben werden, für die kein bildhaftes Schriftzeichen zur Verfügung steht, so werden Logogramme von homophonen oder ähnlich klingenden Wörtern gebraucht. Es entsteht eine hybride Übergangsform zur Silbenschrift.

Ein Schriftzeichen kann nun uminterpretiert werden vom Zeichen für eine Wortbedeutung zum Zeichen für die lautliche Form eines Worts. Hier kippt das Schriftsystem um von der Begriffsschrift zur Lautschrift. Das Schriftzeichen steht dann nicht mehr für die Wortbedeutung, sondern für eine Silbe. Nun ist die Silbenschrift erreicht.

Von der Silbenschrift zum Alphabet

In vielen Sprachen ist das Inventar an Silben größer als das an Silbenzeichen. Oft wird eine Menge von Silben, die sich im Vokal unterscheiden, durch ein einziges Silbenzeichen wiedergegeben. Daneben gibt es Zeichen für Silben, die bloß aus einem Vokal bestehen.

Noch werden Vokale in konsonantisch eingeleiteten Silben nicht eigens repräsentiert. Diese Stufe ist die einer Konsonantenschrift, wie sie etwa in der hebräischen Schrift vorliegt. Jedoch können die Silbenzeichen nun uminterpretiert werden zu Zeichen, die für einzelne Konsonanten bzw. Vokale stehen, und zwar nach dem Prinzip der Akrographie. Damit ist die Stufe der Buchstabenschrift erreicht.