Die Keilschriftbeispiele sieht man nach Installation der zwei Schriftdateien:
Die Sumerer sind die ersten Erfinder der Schrift. Der Anreiz dazu entstand bereits um -4.000 und war wirtschaftlicher Natur. Wenn man Spediteuren Ware zur Beförderung übergab, wollte man sicher gehen, daß auch alles beim Empfänger abgeliefert wurde. Deswegen gab man dem Spediteur ein Dokument mit, das er dem Empfänger zu übergeben hatte. Art und Anzahl der Waren wurde durch aus Ton geformte und geritzte Zählsteine symbolisiert. Diese wurden in eine hohle Tonkugel eingeschlossen, und diese wurde versiegelt und gebrannt, diente also als Bulle. Die Zählsteine stellen Tiere und Gegenstände verschiedener Art dar. Dasselbe Verfahren wurde auch bei der Archivierung von Gütern angewandt (Soden 1985, 30).
Die theoretische Leistung besteht hier in zwei Schritten. Erstens stellt man fest, daß man durch gefertigte Gegenstände oder Bilder Objekte der Welt symbolisieren kann. Dieser Schritt war freilich schon Jahrzehntausende früher an verschiedenen Orten getan worden, als man z.B. Jagdtiere in Höhlenmalereien darstellte.Wirklich revolutionär ist der zweite Schritt, in dem man feststellt, daß man solche Symbole zur Kommunikation verwenden kann. In einer Situation, in der das gesprochene Wort nicht hinreicht oder nicht zur Verfügung steht, treten dauerhaftere Symbole an seine Stelle. Die Idee der Kommunikation durch Verfertigung visueller Zeichen, also eine Vorform der Schrift, ist damit geboren.
Das Siegel auf der Bulle spielt in diesem Zusammenhang eine nicht unwesentliche Rolle. Es dient ja nicht nur dazu, den Verschluß zu sichern, sondern ist auch ein Symbol für den Absender. Es ist, anders als die Zählsteine, nicht ein dreidimensionaler Gegenstand, also gleichsam eine Miniaturausgabe des Bezeichneten, sondern ein Zeichen, das auf einer wesentlich zweidimensionalen Oberfläche angebracht ist. Da Siegel etwas eher als Schriftdokumente auftreten, dürften sie insoweit der Schrifterfindung als Vorbild gedient haben.
Gelegentlich werden auch Abbildungen der Zählsteine als Zahlzeichen nachträglich außen auf die schon versiegelte Bulle aufgeprägt. Dies Verfahren ist natürlich redundant. Da die Zeichnungen auf dem Ton ebenso dauerhaft waren wie die Zählsteine in der Bulle, ist der logisch nächste Schritt, anstelle der Bulle mit Zählsteinen eine Tontafel zu verwenden, auf der man die Symbole einritzt. In der Tat entsprechen die Zahlzeichen, die man auf den frühesten Tontäfelchen gefunden hat, im Aussehen den älteren Zählsteinen. Dieses Verfahren kam in der Spät-Uruk-Periode, also um -3.200, in Gebrauch.
Die technische Grundlage des Schreibens auf Tontafeln ist eine ganz andere als bei den später entstandenen Steininschriften. Aus fein geschlämmtem Ton wird eine ziemlich dicke Tafel geformt und mit einem Knochen- oder Steingerät geglättet. Die Tafeln sind einigermaßen rechteckig und variieren stark in der Größe. Die kleinsten messen etwa 4 x 6 cm, die größten sind bis zu 20 cm lang. In den noch weichen, feuchten Ton werden die Zeichen mit einem spitzen Gegenstand geritzt, später mit einem Griffel gedrückt. Die Tafel wird beidseitig beschrieben. Dann läßt man sie an der Sonne trocknen oder brennt sie im Ofen. Dadurch wird sie selbst widerstandsfähig und die Nachricht unveränderlich.
Nach Mitte des 4. Jt. werden die Zahlzeichen differenzierter. Bis zum Jahr -3.000 erfindet man Hunderte von teilweise abgekürzten neuen Bildzeichen und viele Zeichen für Zahlen und Maße. Die ältesten Dokumente dieser Art, fast 4.500 Tontafeln, wurden in Uruk gefunden. Darauf stehen 706 verschiedene Schriftzeichen.
Die Schrift ist in diesem Stadium eine Piktographie. Im Prinzip steht jedes Piktogramm für einen Gegenstand, eine Pflanze, ein Tier usw. Die Abbildung zeigt eine solche Tafel, auf der Pflanzen, Getreidesäcke und landwirtschaftliche Geräte dargestellt sind.
Die Abbidlung listet einige der ältesten sumerischen Bildzeichen auf.1 Die Wiedergabe wird von Anfang an im Laufe der Jahrhunderte schematisiert. Das Zeichen funkioniert dann nicht mehr aufgrund seiner Ähnlichkeit zum Bezeichneten, sondern aufgrund einer Konvention. Die Schrift wird in ihrer Funktionsweise der gesprochenen Sprache ähnlicher, deren Zeichen ja ganz überwiegend auf einer (wenn auch stillschweigenden) historischen Konvention basieren.Hier wird zunächst die Stufe der Ideographie erreicht, wo jedes Zeichen für einen Begriff steht, sodann die Stufe der Logographie, wo das Schriftzeichen auf das Significatum eines Sprachzeichens verweist.
Für die Wiedergabe von nicht bildhaften Begriffen werden im wesentlichen drei Möglichkeiten genutzt. Die erste beruht auf Bedeutungsähnlichkeit. So bedeutet das aus einem Stern abgeleitete Zeichen in Abb. $ zunächst "Himmel", dann aber durch semantische Assoziation auch "Gott".
Schriftzeichen | Sinn-Nr. | Significatum | Significans |
---|---|---|---|
A | 1. | “Himmel” | /an/ |
2. | “Gott” | /diŋir/ |
Die zweite besteht darin, daß der Begriff durch Kombination von Zeichen umschrieben wird. Das Piktogramm für "trinken" wurde ursprünglich aus denen für "Mund" und "Wasser" zusammengesetzt (Bermant & Weitzman 116-118). Der Name der Stadt Ur wird durch das Zeichen va URIM5 repräsentiert, welches aus den Zeichen v ŠEŠ und a AB zusammengesetzt ist.
Das Wort LUGAL “König” wird durch das komplexe Zeichen geschrieben, welches ursprünglich aus den beiden Zeichen ’ GAL3 ‘groß’ and w LÚ ‘Mann’ zusammengesetzt war. Wie dieses letzte Beispiel zeigt, kann ein zusammengesetztes Logogramm nicht nur eine rein graphische Paraphrase sein, sondern auch ein Kompositum der Sprache repräsentieren.
Die dritte Möglichkeit der Paarung von Schriftzeichen mit Begriffen beruht darauf, daß mit einem Logogramm auch ein sumerisches Wort mit seiner Lautgestalt gegeben ist. Die Zeichen werden nunmehr uminterpretiert. Sie symbolisieren nicht mehr direkt den Begriff, sondern stehen für den lautlichen Ausdruck eines Worts. Somit kann ein Schriftzeichen alle homophonen Wörter darstellen und so zum Homographen werden (Strommenger 1979, 56). Aufgrund von lautlicher Ähnlichkeit erlangt das Zeichen Î sekundär die Bedeutung "Leben":
Schriftzeichen | Sinn-Nr. | Significatum | Significans |
---|---|---|---|
Î | 1. | “Pfeil” | /ti/ |
2. | “Leben” | /til/ |
Man kann auch mehrsilbige Wörter aus Zeichen zusammensetzen, deren jedes einem lautlichen Abschnitt, i.a. einer Silbe, entspricht. Dieses Verfahren folgt dem Prinzip der Paronomasie, besser bekannt als Rebus. Es wird begünstigt durch die Tatsache, daß in der Tat viele elementare Wörter des Sumerischen einsilbig sind. Ein solches Zeichen fungiert dann nicht mehr als Logogramm, sondern als Silbenzeichen. Die beiden soeben vorgeführten Zeichen werden dann als die Lautfolgen /an/ bzw. /ti/ gelesen.
Der Übergang zur reinen Silbenschrift wurde im Sumerischen nicht mehr vollzogen. In einem Text werden Logogramme und Silbenzeichen gemischt. Es kann durchaus ein und dasselbe Schriftzeichen einmal als Logogramm, dann aber als Silbenzeichen verwendet werden, was die Lesung der Texte einigermaßen erschwert. Silbenzeichen werden großenteils in Kombination mit einem Logogramm als sog. phonetische Komplemente benutzt, um ein Flexionsaffix des betreffenden Worts darzustellen. Erst die Akkader, die die Keilschrift von den Sumerern übernahmen, benutzten sie als reine Silbenschrift und schrieben dann, in nachsumerischer Zeit, auch sumerische Texte nach diesem Prinzip.
Die frühesten Täfelchen enthalten noch keine zusammenhängenden Texte, sondern lediglich Aufzählungen von Gegenstandsbezeichnungen. Auch die Schreibrichtung ist noch nicht festgelegt. Die Schriftzeichen sind ziemlich frei über die Schreibfläche verteilt. Um die Mitte des 3. Jt. werden die Texte länger und die Tafeln größer. Man unterteilt sie nun durch Einziehen gerader Linien in Blöcke, die von oben nach unten angeordnet sind. Jeder Block wird in Spalten unterteilt, die von rechts nach links angeordnet sind. Innerhalb jeder Spalte werden die Zeichen von oben nach unten geschrieben.
Auf diese Weise auf weiche Tontafeln zu schreiben ist jedoch unpraktisch, weil die nach links wandernde Hand die soeben eingravierten Zeichen wieder verwischt. Der Schreiber drehte daher die Tafel um 90° gegen den Uhrzeigersinn. Nun schrieb er in einer ehemaligen Spalte, jetzt Zeile von links nach rechts, die Zeilen folgen von oben nach unten aufeinander und die Blöcke, jetzt Kolumnen, wiederum von links nach rechts. Damit ist bereits um -3.000 die moderne europäische Schreibrichtung erreicht, interessanterweise mit annähernd den gleichen Proportionen der Aufteilung des Textes auf Zeilen und Seiten (Kolumnen). Nichtsdestoweniger erfährt die Schreibrichtung in den Schreibkulturen nachfolgender Jahrtausende noch mannigfache Abwandlungen. Die neue Schreibweise hatte zunächst nur auf Tontafeln ihre praktische Berechtigung. Auf reich ausgestatteten Monumenten wurde noch einige Jahrhunderte die alte Schreibrichtung beibehalten, bis die neue sich vollständig durchgesetzt hatte.
Der Leser konnte die Tafel wieder richtigherum drehen. Dies wurde jedoch bald überflüssig. Denn die Schriftzeichen hatten, wie gesagt, ihre Bildhaftigkeit verloren. Sie waren zunehmend stilisiert und schließlich ganz abstrakt und rein konventionell geworden. Es war für den Schreiber auch leichter, gerade Striche in den Ton zu stechen, anstatt runde Linien zu zeichnen. Die Zeichen wurden daher nicht mehr mit einem spitzen Gegenstand eingeritzt, sondern vielmehr mit einem Griffel mit dreieckiger Spitze eingedrückt. Nach dem keilförmige Abdruck des Griffels heißt die Schrift Keilschrift (engl. cuneiform). Sie ist um -2.100 voll ausgebildet. Ein Schriftzeichen - Logogramm oder Silbenzeichen - entsteht durch eine Kombination von mehreren Keilen (Strommenger 1979, 58). Ein kompliziertes Zeichen kann sich durchaus aus zwei Dutzend Keilen zusammensetzen.
Die Erfindung der Logographie führt zunächst zu einem Anwachsen des Zeicheninventars. Um -3.000 waren etwa 2.000 Zeichen in Gebrauch. In dem Maße, in dem man zur Silbenschrift übergeht, benötigt man weniger Zeichen. Wieviele es genau sind, hängt von der Silbenstruktur der Sprache ab. Das Katakana des Japanischen, das eine sehr einfache Silbenstruktur hat, kommt mit 35 Zeichen aus. Das Sumerische braucht erstens mehr Silbenzeichen und verwendet zusätzlich, wie gesagt, weiterhin Logogramme. Um -2.000 werden nur noch 600 Zeichen verwendet.
Der Ursprung der Schrift verdankt sich also nicht dem Bedürfnis, wertvolle Texte der Nachwelt zu überliefern, sondern der Notwendigkeit, Wirtschaftsabläufe zu kontrollieren (Damerow et al. 1994). Die ersten Schriftzeichen sind Zahlzeichen und Zeichen für gezählte Gegenstände.4 Erst von -2.500 an setzt eine eigentlich literarische Überlieferung ein. Aus der gesamten frühdynastischen Zeit, also bis zur akkadischen Fremdherrschaft, ist wenig erhalten. Erst in der neusumerischen Periode strömen die Literaturwerke in großer Zahl.
Zur Wiedergabe einer Sequenz KViK kann, wenn vorhanden, ein einziges Silbenzeichen oder zwei Silbenzeichen der Struktur KVi_ViK, wie in gab = ga_ab verwendet werden. Letzteres geschieht oft auch dann, wenn das Inventar ein KVK-Zeichen enthält.
Die Silbenschrift kann Konsonantengruppen am Rand einer Silbe nicht korrekt wiedergeben, da sie keine Konsonantenzeichen enthält. Solche Konsonantengruppen werden daher in der Schreibung durch Einschub eines Vokals aufgelöst. Z.B. wird die Silbe /bra/ als ba_ra geschrieben. Für einige Konsonanten, vor allem /ŋ/ und /š/, gibt es in vielen Verbindungen keine eigenen Silbenzeichen, so daß dafür /m/- bzw. /z/-haltige Zeichen eintreten.
Andererseits ist die Schreibung häufig redundant. Z.B. wird in einem Text dasselbe Wort ág_gá und á_ág_gá geschrieben. Insoweit in solchen Fällen nicht Gemination von Konsonanten oder Vokalen vorliegt, ist zu berücksichtigen, daß viele Silbenzeichen leicht variierende Lesungen haben, so daß in solchen Fällen ein Zeichen die gemeinte Lesung des Nachbarzeichens festlegt. So wird etwa gi/ge, wenn gefolgt von in, auf gi festgelegt.
Die Syllabierung in der Schrift gibt die phonologische Syllabierung insoweit wieder, daß wo phonologisch eine KV-Sequenz vorliegt, auch ein KV-Zeichen eingesetzt wird. Das gilt auch, wenn ein Wort ein Flexionssuffix hat, das bloß aus einem Vokal besteht, und die Form durch ein Logogramm plus Silbenzeichen geschrieben wird. Z.B. wird an-a "im Himmel" regelmäßig an_na geschrieben, so daß der stammauslautende Konsonant zweimal wiedergegeben wird. Bei der (logographischen) Schreibung lexikalischer Morpheme wird also ein morphologisches, bei der Schreibung von Flexionsmorphemen ein phonologisches Prinzip befolgt.
Eine Eigenart der Schrift ist die Verwendung von Determinativen. Eine Reihe von Logogrammen, die Klassenbegriffe bezeichnen, wie lú "Mann", diŋir "Gott", iš "Baum, Holz", uru "Stadt", I Personenname, werden im Text Substantiven, die der Klasse angehören, voran- oder gelegentlich nachgestellt, also etwa diŋir Inanna "Inanna", lú muhaldim "Koch". Dem entspricht nichts in der gesprochenen Sprache.6 Es handelt sich zweifellos um ein Verfahren zur Erhöhung der Redundanz in dem sonst so unzureichenden Schriftsystem.
In der Umschrift werden Determinative durch Hochstellung gekennzeichnet. Im übrigen wird jedes Keilschriftzeichen durch eine Buchstabenfolge wiedergegeben, die seine Aussprache im gegebenen Kontext andeutet. Homophone Zeichen werden durch Akzente und Zahlenindices unterschieden, also etwa ge, gé, gè, ge4 etc. Die Orientalistik trennt Silbenzeichen durch Bindestriche. In diesem Buch bezeichnet der Bindestrich in einem fremdsprachigen Wort jedoch eine Morphemgrenze; daher werden Silbenzeichen durch einen Unterstrich getrennt.
1 Auf den sumerischen Tontafeln wurde um -3.000 die Schriftrichtung um -90° gedreht. Die Tabelle zeigt die jüngere Ausrichtung.
4 So übrigens auch in anderen Kulturen, die die Schrift unabhängig erfanden, etwa bei den Maya.
6 Einige Orientalisten, z.B. Thomsen 1984, scheinen anzunehmen, daß die Determinative auch Elemente der gesprochenen Sprache sind. Ein Klassifikationssystem mit diesen Eigenschaften wäre aber unter den Sprachen der Welt singulär.