Sprachtätigkeit läuft auf Manipulation des Bewußtseins hinaus: Der Sprecher hat etwas im Bewußtsein und will, daß der Hörer davon erfahre, daß er also dasselbe im Bewußtsein habe. Die Verständigung zwischen den beiden hängt insoweit davon ab, daß sie ihr Bewußtsein teilweise parallel schalten, also auf dieselben Vorstellungen aufmerksam sind. Nehmen wir an, wir sind an einer Sprechsituation beteiligt, deren Sprecher B1 äußert.
B1. | Ich habe mich gestern auf der Autobahnraststätte mit einem Fernfahrer unterhalten. Der war hochgebildet; er hatte in Philosophie promoviert. |
Der Sprecher will uns offensichtlich von dem Fernfahrer erzählen, den er im Bewußtsein hat. Wir, die Hörer, haben ihn bisher nicht im Bewußtsein. Der Sprecher muß den Fernfahrer daher zunächst einführen. Dazu verwendet er das Nominalsyntagma einem Fernfahrer. Von nun an ist dieser als Referent den Teilnehmern der Sprechsituation gegenwärtig. Weitere Sätze können das nun voraussetzen. Die Ausdrücke der und er im folgenden Satz tun das; sie nehmen denselben Referenten wieder auf. Sie sind koreferentiell mit dem Ausdruck einem Fernfahrer.
Durch seine Rede B1 schafft der Sprecher eine gedankliche Welt, in der u.a. er selbst, ein Fernfahrer und eine Autobahnraststätte vorkommen. Diese Referenten haben Eigenschaften wie z.B. in Philosophie promoviert zu haben; und zwischen ihnen bestehen statische und dynamische Beziehungen wie z.B., daß der eine Referent (ich) sich an dem anderen (der Autobahnraststätte) befindet oder daß er sich mit einem anderen Referenten (einem Fernfahrer) unterhält. Eine solche durch Sprachtätigkeit geschaffene gedankliche Welt nennt man ein Redeuniversum. Das Redeuniversum (engl. universe of discourse, auch domain of discourse [Levinson 1983]) ist eine intensionale Welt, die von Referenten, deren Eigenschaften und zwischen ihnen bestehenden Relationen bevölkert wird. Es ist gleichsam die Schnittmenge des Bewußtseins der Sprechaktteilnehmer.1
Das Redeuniversum ist Bestandteil einer Sprechsituation; es wird in ihr mit fortschreitender Kommunikation aufgebaut und verändert. Die wichtigsten Operationen dazu sind:
Daneben gibt es Operationen, die mit dem Status von Referenten und der Einstellung des Sprechers zu ihnen zu tun haben, sowie Operationen über Mengen von Referenten.
In B1 kommt zunächst der durch ich identifizierte Referent vor. Er braucht nicht ins Redeuniversum eingeführt zu werden, weil der Hörer auf Elemente der Sprechsituation ebenso unmittelbaren Zugriff hat wie auf Elemente des Redeuniversums. Als nächster Referent tritt die Autobahnraststätte auf, auf die wir unten zurückkommen. Schließlich kommt der Fernfahrer. Das Nominalsyntagma, das auf ihn referiert, enthält den indefiniten Artikel ein. Indefinite Determination führt einen neuen Referenten ins Redeuniversum ein; d.h. sie macht den Hörer darauf aufmerksam, daß der gemeinte Referent noch nicht im Redeuniversum ist, und bewirkt gleichzeitig, daß er sich nunmehr darin befindet und daß folgende Referenzen das voraussetzen können. Das tut gleich die nächste Referenz mit der. Dieses Nominalsyntagma ist definit. Definite Determination macht den Hörer darauf aufmerksam, daß er den gemeinten Referenten identifizieren kann. Das kann er z.B., wenn dieser sich bereits im Redeuniversum befindet, so wie im vorliegenden Falle. (Mehr zur Determination anderswo.)
Ein sprachlicher Ausdruck – normalerweise ein Nominalsyntagma – kann [!] also – in einer Äußerung und mithin in einer Sprechsituation – einen Referenten haben. Der Begriff des Referenten muß gegen zwei Mißverständnisse abgesichert werden:
Gelegentlich besteht die Auffassung, eine Rede wie B1 habe nur dann einen Sinn, wenn die Dinge, die in ihr vorkommen, auch real existieren, wenn also ihre Ausdrücke etwas denotieren. Das ist nicht so. Wir verstehen den Sprecher von B1 auf genau dieselbe Weise, wenn er lügt und wenn er die Wahrheit sagt. Es macht für den Sinn seiner Geschichte, somit auch für das Redeuniversum einschließlich seiner Referenten, nicht den geringsten Unterschied. Ähnlich ist es, wenn der Sprecher nicht lügt, sondern der Ich-Erzähler in einem Roman ist. Ebenso wenig macht es einen Unterschied, wenn der Sprecher sich irrt, wenn also das Berichtete zwar im Prinzip stattgefunden hat, er sich aber über den Beruf seines Mitunterredners oder die Natur des Orts der Handlung getäuscht hat. In all diesen Fällen ist die Referenz der Ausdrücke in B1 dieselbe (die Denotata können freilich andere oder inexistent sein).
Das Fazit dieser Überlegungen ist, daß ein Referent weder ein sprachlicher Ausdruck noch ein real-existenter Gegenstand ist; er ist eine Vorstellung im Redeuniversum.
Der Sprecher nimmt beim Reden normalerweise Bezug auf das Redeuniversum. Ein Reden, das das nicht tut – etwa wenn jemand beim Zeitungslesen Bemerkungen von sich gibt –, wirkt auf den Hörer als Faseln, als autistisches Produzieren von Gedankensplittern. Ebenso setzt die Verwendung des definiten Artikels voraus, daß der Hörer in der Lage ist, den Referenten zu identifizieren. Dazu können allerdings komplizierte Inferenzen von ihm verlangt werden. Z.B. enthält B1 das definite Nominalsyntagma der Autobahnraststätte. Es könnte für B1 einen vorangehenden Kontext geben, wo diese Raststätte eingeführt wird. Dann wäre es ein Fall von anaphorischer Referenz wie bei den schon besprochenen Ausdrücken der und er. Es kann aber auch sein, daß die Autobahnraststätte in B1 aus heiterem Himmel kommt. (In dem Falle könnte es in B1 ebenso gut auf einer Autobahnraststätte heißen.) Dann muß der Hörer durch Weltwissen die gesamten Voraussetzungen rekonstruieren, die die Verwendung des definiten Artikels ermöglichen. Er inferiert folglich, daß der Sprecher gestern auf einer Autobahnraststätte war und daß er diese jetzt im Bewußtsein hat. (Es ist ein Fall von Akkommodation einer Präsupposition.)
Manches, was wir im Bewußtsein haben – manche unserer gedachten Gegenstände –, bezieht sich auf etwas, was in der Wirklichkeit existiert. Das ist z.B. so, wenn wir Erlebtes gedanklich verarbeiten. Für vieles andere gilt das nicht. Wir stellen uns in einem Eifersuchtsanfall vor, mit wem unser Partner was tut; wir planen eine Stellenbewerbung nach dem Examen; wir verbringen nach einem imaginären Lottogewinn einen Urlaub in der Südsee; wir entwerfen eine Theorie der Referenz mit Redeuniversen und Maximen. All dies sind Beispiele von gedachten Gegenständen, die sich nicht auf real-existente physikalische Objekte beziehen. Für unser Leben und Handeln macht es einen erheblichen Unterschied, ob wir die gedachten Gegenstände für wirklich oder für fiktiv halten. Mit einem realen Lottogewinn z.B. richte ich mein Ausgabenverhalten anders ein als mit einem fiktiven Lottogewinn. Lebenskatastrophen können daraus entstehen, daß ich mich über die Realexistenz von etwas Gedachtem, z.B. einem Lottogewinn, täusche.
Manchmal verhält man sich mit Bezug auf Fiktives auch sprachlich anders als mit Bezug auf Reales.
B2. | Wenn wir einen fähigen Bundeskanzler wüßten, würden wir ihn wählen. |
In B2 z.B. ist der Referent der Nominalsyntagmen einen fähigen Bundeskanzler und ihn ein fähiger Bundeskanzler. Gleichzeitig gibt der Sprecher von B2 durch den Konditionalsatz und den irrealen Konjunktiv zu verstehen, daß er den Referenten nicht für real-existent hält (genauer: daß er von keinem Menschen weiß, auf den das Prädikat fähiger Bundeskanzler zutrifft). Man sagt auch, daß ein Konditionalsatz eine gedachte Welt erschafft, in der Dinge gelten, die sonst nicht gelten. Keine Frage also: da der Unterschied zwischen Wirklichem und Imaginärem für unser Leben oft eine Rolle spielt, stellt auch die Sprache Mittel zur Verfügung, den Unterschied zu markieren. Der Unterschied spielt aber durchaus nicht immer eine Rolle. Z.B. ist er für Geschichten über längst Vergangenes weitgehend irrelevant. Jeder Philosoph weiß z.B., daß der Hauptakteur in Platons Dialogen Sokrates ist, und weiß ein paar Dinge über Sokrates, z.B. daß er der Sohn eines Steinmetzen und einer Hebamme war und daß er durch Konsum eines Schierlingsbechers gestorben ist. Ein Punkt allerdings ist nicht sicher: ob es Sokrates wirklich gegeben hat. Für die Bedeutung von Platons Philosophie und für die Weise, in welcher wir sie verstehen, macht dies offensichtlich nicht den geringsten Unterschied.
Wörter beziehen sich also nicht auf Sachen, Sprache nicht auf die Wirklichkeit. Die relevanten Beziehungen sind vielmehr wie folgt:
Sprache | Denken | Wirklichkeit | ||
---|---|---|---|---|
Äußerung | repräsentiert | Bewußtsein | repräsentiert manchmal | Welt |
referierender Ausdruck | Referent | Denotat | ||
sprachlicher Ausdruck | Vorstellung | physikalisches Objekt |
Die Rede läßt Schlüsse darauf zu, was dem Sprecher gerade durch den Kopf geht. Wenn der Sprecher keine Hinweise in der Gegenrichtung gibt, schließt der Hörer normalerweise – ganz im Sinne von Grice' Qualitätsmaxime – daß der Sprecher auch für wahr hält, was er sagt. Dieser Schluß kann fehlgehen, wenn der Sprecher lügt; und außerdem kann er sich irren. Da alle Hörer das wissen, hält niemand das, was der Sprecher sagt, für ein Abbild der Realität. Statt dessen schließt der Hörer von dem, was er hört, auf das, wovon der Sprecher will, daß der Hörer glaube, daß der Sprecher denkt. Das ist offensichtlich ein bißchen komplizierter, aber erheblich realistischer als eine einfache Abbildtheorie über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit.
Lambrecht, Knud 1994, Information structure and sentence form. Cambridge: Cambridge University Press; ch. 2.1.
1 In einer alternativen Konzeption gehört neben der Textwelt auch die Sprechsituation zum Redeuniversum; s. Lambrecht 1994:36f.
2 Ich verzichte von jetzt an auf diese Qualifikation des Ausdrucks ‘Wirklichkeit’. Es verdient aber vermerkt zu werden, daß die Semantik erheblich entlastet wird dadurch, daß sie mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat; denn sonst müßte sie womöglich noch klären, was wirklich ist.
3 Zahlreiche Semantiker (z.B. Hurford & Heasley 1983) machen den Unterschied zwischen Referent und Denotat nicht und nennen das Denotat Referent. Der mit den koreferenten Ausdrücken in B1 gemeinte Referent existiert jedoch tatsächlich nicht, so daß nicht klar ist, wie eine Semantik, die seine Existenz voraussetzt, überhaupt funktionieren kann.