Wie jegliche linguistische Analyse läuft auch die semantische Analyse einer sprachlichen Einheit darauf hinaus, daß man ihre syntagmatischen und paradigmatischen Relationen testet. Die dazu nötigen Ersatz- und Verschiebeproben werden jeweils auf der nächsthöheren grammatischen Ebene vorgenommen. Es ergeben sich dann Konstruktionen, die metasprachlich zu beurteilen sind.
Auf den unteren sprachlichen Ebenen – genauer: auf der phonologischen und der flexionsmorphologischen Ebene – erhält man bei der Ersatzprobe gewöhnlich klare Ergebnisse folgender Art:
Solche Feststellungen lassen auf das Vorliegen einer der drei elementaren paradigmatischen Relationen – Opposition, freie Variation, komplementäre Verteilung – schließen.
In der Semantik – also auf sprachlichen Ebenen, wo bedeutungstragende Einheiten kombiniert werden – sind die Ergebnisse nicht so klar. Wir analysieren z.B. die Bedeutung eines Verbs, indem wir in die Position seiner Aktanten lexikalisch oder grammatisch verschiedene Nominalsyntagmen einsetzen. Ist eine Einsetzung nicht möglich, schließen wir, daß das Nominalsyntagma mit der Bedeutung des Verbs – genauer: einer Selektionsrestriktion – nicht verträglich ist, und können somit diese letztere präziser fassen. In diesem Sinne setzen wir für das pluralische Substantiv in B1.a sein singularisches Pendant ein.
B1. | a. | Erna hat Erbsen geerntet. |
b. | Erna hat eine Erbse geerntet. |
Wir stellen fest, daß B1.b merkwürdig ist. Als erstes ist jedoch festzuhalten, daß es nicht ungrammatisch ist. Die Beschränkungen über die syntagmatischen und paradigmatischen Relationen sind in der Semantik nicht so eng, daß ihre Verletzung zu Ungrammatikalität führte. Gelegentlich hat man zum Begriff der Akzeptabilität Zuflucht genommen in der Hoffnung, abweichende Konstruktionen wie B1.b seien inakzeptabel. Dieser Begriff gehört jedoch in die soziale Interaktion, innerhalb der Linguistik also in die Pragmatik. In der Semantik stellt sich die Frage, ob eine Konstruktion akzeptabel ist, nicht. Die Frage ist hier stattdessen, ob eine Konstruktion interpretierbar ist. Die methodisch relevanten Ergebnisse eines solchen Tests lassen sich wie folgt kategorisieren:
So fällt z.B. B1.a in die Kategorie 1, und B1.b fällt in die Kategorie 2. Ein Beispiel für Kategorie 3 wäre Eine Erbse hat die Kinder geerntet.
Mit einem normativen oder kategorischen Ansatz würde man auf solche Beispiele vielleicht so reagieren: “B1.b ist sinnlos; so sagt man nicht. Man sagt: Erna hat eine Erbse gepflückt.” Ein solcher Ansatz kann im Fremdsprachenunterricht durchaus hilfreich sein. Auch der gegebene Hinweis auf eine weitere hier vorzunehmende Substitutionsprobe – Ersatz von ernten durch andere Verben und Beobachtung der Bedeutungsveränderung – ist methodisch korrekt. Im übrigen aber ist dieser Ansatz als Analysemethode der Sache nicht angemessen. Sätze wie B1.b kommen ja tatsächlich in Äußerungen vor. Der Hörer verhält sich ihnen gegenüber normalerweise nicht so, daß er sie als falsch oder sinnlos ablehnt oder ignoriert, sondern daß er sich fragt, was sie wohl bedeuten sollen. Der semantisch analysierende Linguist muß hier mindestens so viel leisten wie der Laie. Das sachgerechte Herangehen an semantisch abweichende Sätze ist also: “So würde man normalerweise nicht sagen; aber wenn man doch so sagte, was würde es dann bedeuten?” Nur so kommt man den Bedeutungseigenschaften von Wörtern auf die Spur, mit denen Sprecher ja gelegentlich auch spielen.
Letzteres kann z.B. in B1.b vorliegen. In einer Situation, wo alle die Aufgabe hatten, Feldfrüchte zu ernten und wo nach getaner Arbeit festgestellt wird, daß Ernas Ernteertrag unterdurchschnittlich ist, könnte B1.b durchaus angebracht und vermutlich ironisch gemeint sein.
Und natürlich führt die in B1 vorgenommene Substitutionsprobe auf die hier relevante Bedeutungseigenschaft von ernten: es hat eine Selektionsrestriktion, wonach das Patiens ein Kollektiv sein muß. Diese Selektionsrestriktion ist eben in B1.a erfüllt und in B1.b verletzt.