Grundsätzliches

Bei der semantischen Analyse sprachlicher Zeichen stellt man fest, daß man gelegentlich Merkmale formuliert, die gar nicht auf das Designatum des Zeichens selbst zutreffen, sondern auf andere, die mit diesem in einer syntagmatischen Beziehung stehen. In einem deutschen Wörterbuch finden wir etwa unter dem Eintrag werfen u.a. die Angabe "zur Welt bringen (von Tieren gesagt)". Dies können wir ein wenig formaler wie folgt ausdrücken:

x wirft y bringt zur Welt (x, y)
& Tier (x)

In dieser Formulierung wird völlig klar, daß Tier nicht ein Merkmal von werfen, sondern des Subjekts von werfen ist. Ein solches semantisches Merkmal ist eine Beschränkung über die Auswahl möglicher Subjekte zu dem Verb; der als Subjekt eingesetzte Ausdruck muß das semantische Merkmal Tier haben (bzw. damit kompatibel sein), oder der komplexe Ausdruck wird semantisch auffällig ("Erika hat schon wieder Zwillinge geworfen.") Eine Selektionsrestriktion ("Auswahlbeschränkung") eines Lexems x ist ein semantisches Merkmal von x, dem jeder Ausdruck y genügen muß, der mit x in einer bestimmten syntagmatischen Beziehung stehen soll.

B1.a.x frißt y
b.x betet zu y
c.x leert y
d.x brät y
e.x sirrt
f.x quietscht
g.x lehrt den y das z
h.x behauptet y
i.x überschwemmt y

Typischerweise treten in Selektionsrestriktionen solche Merkmale auf, die für das ganze Sprachsystem relevante lexikalische oder grammatische Kategorien wie z.B. Tier bilden. So finden wir in B1 die Merkmale belebt (für y in g), menschlich (für x in b und h), physikalisches Objekt (für y in a, c, d, für x in e und f), abstrakt (für z in g und y in h). Gelegentlich sind die Merkmale auch spezifischer, wie etwa Fläche von einiger Ausdehnung für y in i. Andererseits findet man häufig metaphorische und metonymische Übertragungen, die kaum noch als solche empfunden werden. Z.B. gilt für x in der Grundbedeutung von B1.a das Merkmal Tier. Das Verb kann ohne weiteres auch verwendet werden, wenn x menschlich ist; dann wird aber die ursprüngliche Selektionsrestriktion metaphorisch auf das Verhalten des Essers übertragen. Für das x in c und d gilt in der Grundbedeutung das Merkmal belebt bzw. evtl. sogar menschlich. Durch Metonymie kann aber ohne weiteres auch ein Instrument, ein Apparat in die Stelle von x eintreten.

Selektionsrestriktionen sind stets verbunden mit syntagmatischen Relationen, die auch einen grammatischen Aspekt haben. In B1 haben wir Selektionsrestriktionen für Subjekt und direktes Objekt von Verben gesehen. Andere betreffen z.B. das Bezugsnomen eines Adjektivs oder das Komplement einer Präposition. Allgemein gesprochen, sind Selektionsrestriktionen die semantische Begleiterscheinung grammatischer Relationalität.

Verletzung von Selektionsrestriktionen

Die Relevanz von Selektionsrestriktionen, insbesondere ihr lexikalischer vs. grammatischer Status, ist viel diskutiert worden. Nicht selten scheinen Sätze, die gewisse Selektionsrestriktionen verletzen, den Regeln der Grammatik zuwiderzulaufen ("ungrammatisch" zu sein). So verletzt etwa

der Student behauptet den Professor

die für y in B1.h formulierte Selektionsrestriktion. Der Satz wirkt nicht nur semantisch auffällig, komisch oder sonstwie ungewöhnlich, sondern schlicht grammatisch falsch. Ähnliches gilt für

der Hausmann brät die Lexikologie

(vgl. B1.d). In anderen Fällen ist das weniger klar. Quietschen kann z.B. nur ein physikalisches Objekt mit heterogener Struktur und festen Teilen.

Der Kaffee hat gequietscht

ist deshalb merkwürdig. Grammatisch falsch aber ist es offenbar nicht, denn in einer Situation, wo der Kaffee wirklich gequietscht hat, wäre es die einzig richtige Formulierung. Selektionsrestriktionen (wie andere semantische Merkmale auch) variieren also auf einem Kontinuum zwischen Grammatik und Lexikon.

Häufig wird ein Verb kombiniert mit einem Komplement, das eine Selektionsrestriktion des ersteren verletzt. Z.B. in

viele Autoren haben die Metaphorik beackert

sollte das direkte Objekt von beackern eine landwirtschaftliche Fläche sein. Hier ist es jedoch ein wissenschaftliches “Feld” (i.e. ein Objektbereich). Bei solcher Inkompatibilität von Selektionsrestriktion eines Regens und semantischer Kategorie des Rektums wird die Bedeutung des komplexen Ausdrucks immer wie folgt unifiziert: Das semantische Merkmal des Rektums determiniert die Bedeutung des komplexen Ausdrucks; die Selektionsrestriktion des Regens wird gelockert. Der Ausdruck wird im Prinzip interpretiert, als wäre die Selektionsrestriktion nicht da.

Allerdings “färbt” die verletzte Selektionsrestriktion auf die Interpretation des Rektums “ab”. Im Falle des Beispiels wird der Objektbereich der Metaphorik mit einer landwirtschaftlichen Fläche, im einfachsten Falle einem Feld, verglichen, welches regelmäßig in erschöpfender Weise bearbeitet wird. Dieser Vergleich selbst ist eine implizite Metapher.

B2.Ich habe die Bohnen gemäht.

In B2 erzwingt die Bedeutung von mähen, daß mit Bohnen Pflanzen, nicht Früchte gemeint sind. Das ist aber eine der lexikalischen Bedeutungen von Bohne, kein Transfer. Gegeben diese Bedeutung von Bohne, dann wird mähen so interpretiert, wie Bohnen das eben zulassen. Hier setzt sich also die Selektionsrestriktion durch, indem sie zwischen zwei Sinnen eines mehrdeutigen Wortes disambiguiert.

Lexikalische Solidarität

Der Begriff der lexikalischen Solidarität (eingeführt in Coseriu 1967) hängt eng mit dem der Selektionsrestriktion zusammen. Hier wird eine besonders enge Selektionsrestriktion darunter verstanden, derart daß nicht lediglich eine Kategorie von Ausdrücken, sondern ein einzelner oder wenige identifizierbare Ausdrücke für eine bestimmte syntagmatische Relation selektiert werden.

B3.a.blond, schütter - Haar
b.falb - Pferd
c.ranzig - Butter, Fett
d.bellen - Hund, Wolf, Hyäne
e.zollen - Beifall, Anerkennung, Hochachtung, Lob
f.rümpfen - Nase

B3 zeigt Adjektive und Verben, als deren Bezugsnomen bzw. Subjekt oder Objekt nur ganz bestimmte Begriffe infrage kommen. Zwar müssen nicht unbedingt die entsprechenden Wörter in dem Syntagma stehen; Hyponyme und Hyperonyme sind auch möglich. Aber diese Adjektive und Verben können doch nur mit Bezug auf diese Begriffe gebraucht werden. Wenn wir also hören Es ist falb, wissen wir, das es ein Pferd ist; und wenn wir den Relativsatz das sie ihm zollte haben, wissen wir, daß das Bezugsnomen Lob sein muß.

Bereits bei der Selektionsrestriktion, und erst recht bei der lexikalischen Solidarität, stellt sich die Frage, ob die Beschränkung auf eine bestimmte Kategorie von Gegenständen als zweites Glied der syntagmatischen Relation eigentlich durch den Rest der Bedeutung des selektierenden Terms motiviert oder ob sie völlig idiosynkratisch ist. Wenn wir die Selektionsrestriktion x ist ein Fett von der Bedeutung von ranzig abziehen, bleibt dann noch etwas an letzterer, was sie sinnvollerweise nur in Beziehung zu Fett zu setzen erlaubt? Man kann die Frage wohl verneinen; zur Kenntnis der deutschen Sprache dürfte hier kaum mehr gehören als daß ranzige Butter verdorben ist, nicht etwa zusätzlich, welche chemischen Vorgänge oder sonstigen Veränderungen, die nur bei Fett möglich wären, damit zusammenhängen. Ähnlich ist ein falbes Pferd einfach graugelb; und wenn es sich nicht um ein Pferd handelte, würde man dieselbe Farbe sicher so nennen. Vollends gilt für zollen, daß es eigentlich ein völlig inhaltsloses Funktionsverb ist; nichts an seiner Bedeutung hindert, daß man jemandem auch Verehrung oder etwas Negatives wie Verachtung oder Kritik zollte. Lexikalische Solidaritäten, so wie sie hier verstanden werden, folgen also nicht aus anderen semantischen Merkmalen ihres Trägers, sondern sind idiosynkratisch.

Mit den in B1 aufgeführten Fällen ist das anders. Sirren z.B. ist ein Geräusch mit einer klaren akustischen Identität. Ein solches Geräusch kann nur von physikalischen Objekten einer ganz bestimmten Konstitution hervorgebracht werden; die dahingehende Selektionsrestriktion ist also semantisch motiviert. Zu x brät y gehört u.a., daß x y in eine Pfanne legt, es erhitzt und dadurch gart. Daraus folgt, daß y nur ein physikalisches Objekt sein kann. Eine ähnliche semantische Motivation gilt für die meisten anderen in B1 repräsentierten Selektionsrestriktionen.

Demnach wären lexikalische Solidaritäten semantisch nicht motivierte Selektionsrestriktionen. Es versteht sich, daß es keine klare Grenze zwischen Motivation und Idiosynkrasie gibt. Z.B. habe ich B3.d als ein Beispiel für lexikalische Solidarität angeführt. Man könnte es aber mit B1.e und f vergleichen und sagen, daß bellen akustisch definiert ist und daß das so konzipierte Geräusch nur von Hundeartigen hervorgebracht werden kann. Die lexikalische Solidarität wäre dann semantisch motiviert. Hier sind also die Übergänge wiederum fließend.

Literatur

Coseriu, Eugenio 1967, "Lexikalische Solidaritäten." Poetica 1:293-303.