Grundsätze
Wie alles in der Sprache steht auch die Phonologie im Schnittpunkt dreier determinierender Faktoren:
- der zu erreichenden Ziele bzw. zu erfüllenden Funktionen,
- der eingesetzten Mittel und ihrer Möglichkeiten,
- der Rahmenbedingungen bzw. Beschränkungen, unter denen die Mittel die Funktionen erfüllen.
Funktionen der Phonologie
Eine Sprache symbolisiert einen zu übermittelnden Inhalt durch einen wahrnehmbaren Ausdruck. Die Phonologie ist die Komponente des Sprachsystems, welche einen auditiv wahrnehmbaren Ausdruck gestaltet. Dabei ist die zweifache Gliederung des Sprachzeichens vorausgesetzt. Die Einheiten der zweiten Gliederung sind in erster Linie distinktiv. Allerdings kann die Distinktivität der Laute als der Endpol eines Kontinuums des Verlusts von Signifikativität gesehen werden. Der Sprachlaut bedeutet dann nichts Spezifisches mehr, sondern nur noch die Verschiedenheit (R. Jakobson). Viele Laute haben ein onomatopoetisches, lautsymbolisches oder expressives Potential, welches brachliegt, wenn sie nichts als distinktiv sind.
Die Phonologie muß wahrnehmbare Einheiten bilden, die in der syntagmatischen Dimension Kontraste bilden. Dies ist in der Phonologie ‘obligatory contour’ genannt worden. Die kontrastiven Funktionen lautlicher Einheiten können weiter unterteilt werden. Wichtig sind die Abgrenzung und die unterschiedliche Prominenz benachbarter Einheiten. Beide sind auf die grammatische und semantische Struktur bezogen, insofern als grammatische und semantische Einheiten, z.B. Wörter, gegeneinander abgegrenzt und gegeneinander hervorgehoben werden.
Solche Unterschiede auf der syntagmatischen Achse setzen Unterscheidungen auf der paradigmatischen Achse voraus. Es gibt also im Lautsystem verschiedene Laute. Sie bilden Subsysteme, innerhalb deren paradigmatische Relationen herrschen. Diese werden mithilfe von n-ären distinktiven Merkmalen hergestellt. Da der phonetische Raum begrenzt ist, werden die Unterschiede, je mehr Laute unterschieden werden, immer feiner.
Das Prinzip der wechselnden Prominenz impliziert, daß nicht alles maximal prominent sein kann. Maximale Differenzierung ist assoziiert mit maximaler Prominenz. In “Prominenztälern” wird auch die Differenzierung eingeschränkt.
Wie alle sprachlichen Einheiten, fügen sich auch phonologische Einheiten zu umfassenderen Einheiten auf einer Komplexitätshierarchie zusammen. Phonologische Einheiten sind unabhängig von grammatischen Einheiten konstituiert, haben aber systematischen Bezug auf diese. Z.B. haben viele Sprachen eine relativ enge Korrelation zwischen Silbe und Morphem. Und das phonologische Wort entspricht in einigen Sprachen einer grammatischen Wortform, in anderen einem Syntagma.
Die grenzmarkierende Funktion erfüllt die Phonologie dadurch, daß größere Einheiten die Domäne bestimmter phonologischer Beschränkungen oder Prozesse sind. So sind bestimmte phonologische Merkmale ans Segment, andere an die Silbe gebunden. Bestimmte Prozesse wie Auslautverhärtung finden an Silbengrenzen statt. Andere wie Vokalharmonie und Tonsandhi finden innerhalb des grammatischen Wortes statt. Auch die sog. suprasegmentalen oder prosodischen Einheiten wie Akzent und Ton sind solche, die an Einheiten höherer phonologischer Ebenen gebunden sind.
Mittel der Phonologie
Die Mittel der Phonologie sind phonetische Einheiten und Prozesse.
Phonologische Einheiten und Prinzipien des Aufbaus von Systemen
Auf der paradigmatischen Achse führt die Kombination von n-ären Merkmalen, genauer: die Kombination von jeweils verschiedenen Werten dieser Merkmale, zu Segmenten zum Aufbau von phonologischen Subsystemen wie Vokalen, Konsonanten, Halbvokalen, Obstruenten usw. Dabei gelten folgende allgemeinen Prinzipien:
- Einseitige Fundierung: Die Nutzung einer Opposition O2 auf dem markierten Pol einer anderen Opposition O1 setzt die Nutzung von O2 auf dem unmarkierten Pol von O1 voraus (R. Jakobson). Z.B. gibt es eine Stimmhaftigkeitsopposition bei Frikativen nur, wenn es auch eine Stimmhaftigkeitsopposition bei Okklusiven gibt. (Einführendes hierzu anderswo.)
- Ökonomie: Subsysteme werden gleichmäßig ausgebaut. Es werden also z.B. nicht 10 verschiedene Artikulationsstellen unterschieden und auf die Nutzung des Parameters ‘Artikulationsart’ verzichtet (A. Martinet, J. Crothers).
- Symmetrie: In den Grenzen des Prinzips der einseitigen Fundierung werden Oppositionen symmetrisch ausgebaut (A. Martinet). Z.B. wird der Vokalraum gleichmäßig mit Vokalen gefüllt.
Die Funktion der Kontrastivität führt auf paradigmatischer Achse zur Entwicklung der Sonoritätshierarchie. Eine einfache Version davon ist die folgende:
Da hier jedoch mehrere teilweise voneinander unabhängige Merkmale genutzt werden, muß man die Hierarchie etwas komplizieren, z.B. so:
Die Segmente verschiedener Sonorität werden an verschiedenen syntagmatischen Positionen in größeren Einheiten, vor allem in der Silbe, eingesetzt.
Auch der lexikalische Ton hat in erster Linie eine Konturfunktion. Tatsächlich ist Dissimilation in suprasegmentaler viel häufiger als in segmentaler Phonologie.
Der Grundsatz der einseitigen Fundierung gilt auch auf der syntagmatischen Ebene, also in der Phonotaktik: Eine relativ komplexe Kombination setzt die entsprechende einfachere Kombination voraus. Syntagmatische Komplexität wird also schrittweise aufgebaut.
Es besteht tendentiell eine negative Korrelation zwischen Komplexität des Paradigmas und des Syntagmas im Sinne einer umgekehrten Proportionalität. Allerdings besagt Komplexität des Syntagmas hier in erster Linie Kombination von relativ mehr Silben. Komplexe subsilbische Einheiten (Konsonantengruppen, Diphthonge) dagegen korrelieren nicht negativ mit Komplexität des Konsonantensystems bzw. Vokalsystems. Diachron geht Komplexität des Syntagmas über in Komplexität des Paradigmas. Gegeben z.B. die beiden folgenden Lautwandel:
VN → Ṽso hat man im Input ein relativ komplexes Syntagma, das nach dem Lautwandel verschwindet, und im Output hat man ein relativ komplexes Segment, das das Paradigma kompliziert. Wenn man also in einer gegebenen phonologischen Einheit, z.B. phonologisches Wort, die paradigmatische und die syntagmatische Komplexität summiert, ergibt sich eine universale Tendenz zu gleicher Komplexität. Einfacher gesagt: Sprachen mit kleinerem Lautsystem haben längere Wörter.
ts → ʦ
Phonologische Prozesse
Phonologische Prozesse ändern die Prominenz phonologischer Einheiten, markieren Grenzen und verdeutlichen die phonologische Struktur:
- Prozesse der Stärkung und Schwächung erhöhen bzw. erniedrigen die Prominenz von Segmenten und Silben;
- Assimilation schafft interne Homogenität einer phonologischen Einheit, Dissimilation grenzt sie gegen benachbarte Einheiten ab;
- Anaptyxe schafft eine klarere Silbenstruktur, Synkope vergrößert die Prominenzunterschiede.
Beschränkungen der Phonologie
Die in der Phonologie waltenden Beschränkungen (engl. constraints) sind z.T. durch das Ausdrucksmedium, also durch unsere artikulatorischen und auditiven Möglichkeiten, bedingt. Das Prinzip der maximalen Differenzierung besteht zugunsten des Hörers. Es wird aber konterkariert durch das Prinzip des minimalen Aufwandes (engl. least effort), welches zugunsten des Sprechers besteht.
Viele phonologischen Beschränkungen sind phonetisch motiviert. Z.B. haben alle Sprachen Beschränkungen über die Komplexität von Konsonantengruppen im Silbenansatz. Sie haben damit zu tun, daß im Silbenansatz Verschlüsse gelöst werden, was zu einem mehr sonoren Folgesegment führt. Daher gibt es Beschränkungen über initiale Konsonantengruppen, deren Sonorität nicht progrediert.
Z.T. sind phonologische Beschränkungen auch arbiträr, also Bestandteile des einzelsprachlichen phonologischen Systems. Z.B. gibt es im Spanischen eine Beschränkung über das Auftreten der Opposition /r : ɾ/: sie wird nur intervokalisch realisiert und sonst neutralisiert. Arbiträr sind erst recht Morphologisierungen phonologischer Beschränkungen, also wenn z.B. der ursprünglich phonetisch motivierte deutsche Umlaut zuerst phonologisch, zum Schluß aber morphologisch konditioniert wird und also mit universalen Beschränkungen nichts mehr zu tun hat.
Synchrone und diachrone Interpretation der Gesetze
Die Verbindung von Synchronie mit Diachronie, insbesondere der systematische Bezug synchroner auf diachrone universale Gesetze, ist in der Phonologie am weitesten gediehen, und zwar hauptsächlich dank epochemachender Arbeiten von Roman Jakobson (1958) und Joseph Greenberg (1969). Das methodologische Prinzip der wechselseitigen Transformation zwischen synchronen und diachronen implikativen Gesetzen ist:
synchron ‘x → y’ ↔ diachron ‘y in früherem Stadium, x in späterem Stadium’.
Dies gilt in gleicher Weise für das Sprachsystem qua ‘langue’ wie für die Sprachkompetenz des Individuums. Gegeben eine solche einseitige Fundierung, so kann
- eine Sprache im Wandel x erst erwerben, wenn sie y schon hat,
- y erst verlieren, wenn sie x nicht (mehr) hat,
- ein Kind im Spracherwerb (oder ein Aphatiker in der Rehabilitation) x erst lernen, wenn es y schon beherrscht,
- ein Aphatiker beim Abbau y erst verlieren, nachdem er x verloren hat.
Die Gesetze gelten freilich für Sprachsysteme strikter als für Individuen, weil diese komplexe und idiosynkratische Variation aufweisen.