Grundsätzliches

Das primäre Datum einer jeden empirischen Wissenschaft ist Variation im Objektbereich. Der Mineraloge ist mit tausenderlei verschiedenen Mineralien konfrontiert, die sich in allen möglichen Hinsichten unterscheiden; und entsprechend ist der Linguist mit einer verwirrenden Fülle sprachlicher Einheiten konfrontiert, die nach allen denkbaren Dimensionen variieren. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, Ordnung ins Chaos zu bringen, also die Variation zu reduzieren. Es gibt eine Reihe von Haltungen gegenüber der Variation, mit denen das Ziel einer empirischen Wissenschaft nicht erreicht wird. Eine davon ist, die Variation für unhintergehbar zu erklären. Solche Tendenzen gibt es vor allem in hermeneutischen Wissenschaften, denen es um die historische Einzigartigkeit des Individuums und um die Vielfalt als irreduziblen Wert zu tun ist. Es gibt sie auch in der Sprachwissenschaft, repräsentiert durch das Postulat

Diese Haltung ist in empirischen Wissenschaften unangebracht,1 weil es gerade ihre Aufgabe ist, Ordnung in die Vielfalt der Phänomene zu bringen.

Eine weitere häufige Einstellung gegenüber Variation bezweckt deren Ausmerzung durch Normierung und Standardisierung. Dies ist eine in der ganzen Welt, vor allem unter sogenannten Gebildeten, verbreitete Haltung gegenüber sprachlicher Variation. Sie ist z.B. verantwortlich für den Wunsch, das Sprachenchaos auf der Welt durch Reduktion auf die englische Sprache zu beseitigen. Standardisierung ist vor allem seit alters der logische Ansatz gegenüber innersprachlicher Variation: aus logischen Grundsätzen wird abgeleitet, wie man sich ausdrücken sollte, und andere Ausdrucksformen werden für nicht wissenschaftsfähig erklärt. Auch diese Haltung ist einer empirischen Wissenschaft unangemessen, denn ihre Ordnungsprinzipien sollen aus den Verhältnissen im Gegenstandsbereich abgeleitet und nicht willkürlich gesetzt werden.

Der dritte, schon etwas sophistiziertere Versuch, über eine Variation zu verallgemeinern, besteht darin, daß man die Bestandteile der Varianten feststellt und es darauf anlegt, solche Bestandteile zu finden, die alle Varianten gemeinsam haben, also gleichsam ihren kleinsten gemeinsamen Nenner. Eine Version der Phonemtheorie z.B. definiert das Phonem als ein Bündel von distinktiven Merkmalen. Das sind gerade diejenigen Merkmale, die allen Allophonen gemeinsam sind und die nach Abzug der redundanten oder sonstwie varianten Merkmale übrig bleiben. Wenn also eine Sprache stimmlose Okklusive hat, von denen es aspirierte und schlichte Allophone gibt, dann sind die entsprechenden Phoneme durch die den Allophonen gemeinsamen phonologischen Merkmale konstituiert, wobei das Merkmal der Aspiration unspezifiziert bleibt. Dadurch wird das Phonem zwar abstrakt. Aber der Grad an Abstraktion reicht nicht aus. Wohlbekannte Beispiele wie die Alternation zwischen [ai] und [ɪ] in englischen Wörtern wie divine ~ divinity (egal ob man das nun als Allophonie analysiert oder nicht) lehren, daß zwei lautliche Varianten keinen wesentlichen Kern von Merkmalen gemeinsam haben müssen. Man kann auch an die Wittgensteinsche Familienähnlichkeit erinnern, wo es trotz kontinuierlicher Ähnlichkeit Mitglieder geben kann, die nichts miteinander gemeinsam haben. Auch dieser Ansatz ist also unzureichend, weil er den gemeinsamen Nenner einer Variation auf der Ebene der Varianten sucht.

Analyse von Variation

Die Aufgabe der empirischen Wissenschaften ist, wie Wilhelm von Humboldt formuliert hat, die Erkenntnis der Einheit in der Vielfalt. Das schafft man, indem man einer Menge von Varianten eine Invariante zuordnet. Dazu geht man induktiv wie folgt vor:2

  1. Innerhalb einer Population von Einheiten einer bestimmten Art (Sinfoniesätzen, Musikinstrumenten, Sprachlauten, Literaturwerken, Handelsverträgen ...) analysiert man für eine jede davon oder für eine aufgrund einer Intuition von Zusammengehörigkeit gebildete Teilmenge die Verteilung der Einheiten in ihrem Kontext. Man beginnt mit der niedrigsten jeweils relevanten Ebene, auf welcher die Einheiten verteilt sind (für Musikinstrumente sind das Musikerensembles, für Sprachlaute Silben, für Handelsverträge Arten von Vertragsparteien ...).
  2. Man steigt die Ebenen stufenweise hinauf und stellt auf jeder von ihnen die Bedingungen der Verteilung der Einheiten fest. (Für Musikerensembles und Vertragsparteien könnte die nächsthöhere Ebene Gesellschaftsformen sein; für Silben sind es phonologische Wörter.)
  3. Solche Einheiten, die in freier Variation stehen, und solche, die in komplementärer Verteilung stehen, bezieht man auf eine gemeinsame Invariante.
  4. Je weiter man die Analyseebenen emporsteigt, desto komplexer wird die Verteilung der Einheiten. Die Bedingungen lassen sich dann nicht mehr einfach als Eigenschaften des Kontextes angeben, sondern haben zunehmend mit den Funktionen zu tun, die die Einheiten erfüllen (s. teleonomische Hierarchie). So hängt der Einsatz einer Bratsche statt einer Gambe von einer Fülle von Faktoren und letztlich von dem angestrebten Zweck ab. Im Deutschen stehen stimmhafte und stimmlose Obstruenten zwar im Silbenanlaut in Opposition, im Silbenauslaut jedoch nicht. Hier sind sie also gemeinsam auf eine abstraktere Einheit (den für Stimmhaftigkeit nicht spezifizierten Obstruenten) bezogen; und gleichzeitig gibt es offenbar ein Prinzip, nach dem im Silbenanlaut gewisse Oppositionen relevant sind, im Silbenauslaut jedoch nicht.
  5. Es wird also ein Prinzip angegeben, das die Variation reguliert. Im günstigsten Falle lassen sich die Varianten auf einer oder mehreren Dimensionen anordnen, die die Variation systematisieren und auf welche auch die Prinzipien Bezug nehmen.
  6. Schließlich konsolidiert man die Menge der Varianten, die einer Invariante zugeordnet sind, die am Anfang nur intuitiv gegeben war. D.h. solche Elemente, die dem Variationsprinzip nicht folgen, versucht man anderen Invarianten zuzuordnen; und andererseits nimmt man weitere Elemente mit auf, deren Zugehörigkeit man daran erkennt, daß sie demselben Prinzip folgen.

Zwei Punkte sind hier methodisch wichtig:

Einschlägige sprachliche Beispiele:


1 Eine mildere Interpretation des Zitats besagt, daß die Linguistik die sprachliche Variation ernst zu nehmen und nicht (auf hohem theoretischen Roß) über sie hinwegzugehen hat. Und in soweit ist es völlig berechtigt.

2 In allen derartigen Fällen versteht es sich, daß die induktive Methode immer durch die deduktive zu ergänzen ist.