Eine sprachliche Einheit ist (auf einer abstrakten Repräsentationsebene) unterspezifiziert genau dann, wenn es Merkmale gibt, für die sie nicht spezifiziert ist, obwohl jegliches Vorkommen dieser Einheit in Sätzen tatsächlich für diese Merkmale spezifiziert ist.
Die Beschreibung einer Sprache soll einfach, elegant und ökonomisch sein. Dies weniger, weil man annimmt, daß auch ihr mentales Gegenstück diese Bedingungen erfüllt, als weil dies allgemeine wissenschaftstheoretische Standards sind.
Mehrere Subsysteme der Sprachbeschreibung beruhen auf dem Wechselspiel von zwei Modulen:
- einer Menge von (abstrakten oder “zugrundeliegenden”) Repräsentationen, die einem Inventar entnommen werden,
- einer Menge von Regeln, die auf diesen Repräsentationen operieren und sie in abgeleitete Repräsentationen überführen, die die Eigenschaften wiedergeben, welche die Inventareinheiten tatsächlich haben, wenn sie in Sätzen vorkommen.
Das Ökonomieprinzip verlangt nun, daß all diejenigen Eigenschaften der semantischen und phonetischen Repräsentation, welche regelmäßig sind, auch ausschließlich durch Regeln spezifiziert werden, d.h. daß sie nicht an den Inventareinträgen spezifiziert werden.
- Zur vollständigen phonetischen Repräsentation eines jeden deutschen Vokals gehört, daß er [+ stimmhaft] ist. Diese Merkmalspezifikation wird aber weder im Inventar der Vokale noch bei der phonologischen Repräsentation der Lexikoneinträge vorgenommen; dort wird über Stimmhaftigkeit von Vokalen gar nichts gesagt. Statt dessen gibt es – im Deutschen wie den meisten anderen Sprachen – eine Regel, die besagt: Vokale sind [+ stimmhaft]; und diese Regel sorgt dafür, daß jeglicher Vokal, der in einer phonetischen Repräsentation vorkommt, so spezifiziert ist. Die zugrundeliegende Merkmalspezifikation von Vokalen ist also insofern unvollständig.
- Im Lexikoneintrag des Wortes Erna steht z.B. ‘[ Vorname ], [+ weiblich ]’. Mit diesen Eigenschaften wird der Eintrag z.B. als Subjekt in den Satz Erna ist trächtig eingesetzt. Die semantische Interpretation funktioniert nun auf folgende Weise:
- Nach einer Regel haben nur Menschen Vornamen. Das Subjektsnominalsyntagma Erna bekommt durch diese Regel das Merkmal [+ menschlich ]. Das Prädikatsnomen trächtig jedoch bringt aus dem Lexikon die Selektionsrestriktion mit, daß sein Subjekt [- menschlich ] ist. Die semantische Interpretation führt folglich zu einem Widerspruch.
- Es gibt eine alternative Regel, wonach nicht nur Menschen, sondern auch Tiere Vornamen haben können. (Beide Regeln sind mit dem anderen Merkmal [+ weiblich ] verträglich.) Durch diese Regel bekommt das Subjektnominalsyntagma das Merkmal [ + belebt ]. In der semantischen Interpretation des Satzes wird damit das Prädikat kombiniert, welches die genannte Selektionsrestriktion hat. Diese ist spezifischer als das, was über das Subjekt bekannt ist, und überträgt daher dem unterspezifizierten Subjekt das (mit [+belebt] kompatible) Merkmal [- menschlich ]. Diese semantische Interpretation führt folglich zu dem Schluß, daß Erna in dem Beispielsatz vermutlich ein Haustier ist.
Merkmale sprachlicher Einheiten, die durch Regeln eingeführt werden, sind redundant, denn sie sind vorhersagbar, können folglich keine Information tragen. Die Sprachbeschreibung soll aber (nach dem vorausgesetzten Wissenschaftsideal) nicht redundant sein. Daraus folgt, daß Einträge von Inventaren unterspezifiziert sein müssen.
Wie oben angedeutet, ist damit nicht die Annahme verbunden, daß auch mentale Repräsentationen grundsätzlich unterspezifiziert sind. Stattdessen ist es wahrscheinlich, daß mentale Repräsentationen zu einem hohen Grade redundant sind. Das Postulat, daß jegliche sprachliche Eigenschaft entweder durch eine Regel eingeführt oder als bzw. im Eintrag einer Liste aufgeführt werden muß, ist auch als ‘rule-list fallacy’ bekannt. Das eingangs angeführte wissenschaftstheoretische Postulat führt also zu einem Trugschluß, wenn man glaubt, der Phänomenbereich müsse nach demselben Prinzip organisiert sein.