Systemlinguistik und Pragmatik

Sprachtätigkeit erschöpft sich nicht in der Formulierung und im Austausch von Sätzen. Dies ist vielmehr nur der systemlinguistische Gesichtspunkt. Ihm gegenüber steht der Gesichtspunkt der Pragmatik, also der Disziplin, welche untersucht, wie Äußerungen funktionieren, insbesondere wie all das in der Sprachtätigkeit funktioniert, was nicht durch das Sprachsystem kodiert ist. Freilich besteht kein ernsthafter Gegensatz zwischen Pragmatik und Systemlinguistik; denn einerseits setzt die Pragmatik die in Sätzen kodierte Information voraus; und andererseits würde reine Systemlinguistik ohne Pragmatik von nichts handeln, was außerhalb ihrer vorkommt.

Sinn von Sprechakten

Sprache ist Sinn machende Tätigkeit; sich mit jemandem zu verständigen heißt, gemeinsam mit ihm Sinn zu erzeugen. Zudem ist Sprachtätigkeit, ebenso wie jegliches menschliche Handeln, nicht isoliert. Der zu erzeugende Sinn steht vielmehr in einer teleonomischen Hierarchie, an der auch nicht-sprachliches Handeln beteiligt ist. Theoretisch könnte ich mit unbewegter Miene wie ein Automat danke sagen; aber ihren Sinn wird eine solche Äußerung erst dann erfüllen, wenn ich den Empfänger der Nachricht dabei freundlich ansehe; und noch eindrücklicher wird mein Sprechakt, wenn ich ihm dabei die Hand drücke. Die Verzahnung von Sprechakten mit nicht-sprachlichem Handeln (gleich ob dieses seinerseits semiotisch ist oder nicht) heißt ihre sympraktische Einbettung.

Die Systemlinguistik in Gestalt der strukturalen Semantik beschreibt das Significatum des Sprachzeichens. An diesem setzt jedoch der eigentliche Interpretationsprozeß erst an. Der Sinn einer Äußerung erschließt sich erst, wenn man Weltkenntnis und die Gegebenheiten der Sprechsituation berücksichtigt. Angenommen, Sie lesen einen Text, der den Satz enthält.

.Bis spätestens zum 20.7.2009 sind € 1653,40 an Lohnsteuer nachzuzahlen.

Bei der Nutzung dieser Äußerung werden Sie sich nicht auf die Konstruktion des Significatums des Satzes beschränken. Bei seiner weiteren Interpretation berücksichtigen Sie zunächst die Komponenten der Sprechsituation. Angenommen z.B., findet sich in einem Brief, dessen Absender das Finanzamt und dessen Empfänger Sie sind. Die unpersönliche obligative Konstruktion sind ... nachzuzahlen erhält dann ein persönliches Agens, nämlich Sie. Die Bedeutsamkeit der Obligation hinwiederum schätzen Sie durch Weltkenntnis ab, in diesem Falle über die Stellung des Finanzamts in unserer Gesellschaft. Sie verstehen also, daß hier ein Befehl an Sie gerichtet wird, auf den Sie mit der genannten – in diesem Falle nicht-sprachlichen – Handlung reagieren müssen.

Das Finanzamt führt also durch den Sprechakt des Befehls aus. Ein Sprechakt ist eine durch Sprechen ausgeführte Handlung. Solche Handlungen sind Gegenstand der Pragmatik.

Propositionaler Gehalt und Illokution

Die Beispielserie illustriert die Kombination eines propositionalen Gehalts mit verschiedenen illokutiven Kräften. Abgesehen vom gelegentlich verschiedenen Subjekt, worauf es hier nicht ankommt, haben diese Sätze das gemeinsam, was man ihren propositionalen Gehalt nennt. Grob gesagt: sie handeln von demselben Sachverhalt.

.a.Erna bringt den Müll raus.
b.Bringt Erna den Müll raus?
c.Erna, bring bitte den Müll raus!
d.Wenn doch jemand den Müll rausbrächte!
e.Ich werde den Müll rausbringen.
f.Bringst du (bitte) den Müll raus, Erna?
g.Erna soll den Müll rausbringen.
h.Soll ich den Müll rausbringen?
i.Darf ich den Müll rausbringen?
j.Entweder du bringst jetzt den Müll raus, oder ...!

Die Sätze unterscheiden sich hingegen in ihrer illokutiven Kraft oder einfach Illokution. Das ist die kommunikative Intention, die der Sprecher mit seiner Äußerung verfolgt, also der Redehandlungswert der Äußerung. Die illokutive Kraft von .b ist z.B. die einer Frage, die von .c eine Bitte, die von .h ein Anerbieten, usw.

Einige illokutive Kräfte sind im Sprachsystem grammatikalisiert; diese konstituieren Satztypen. In liegen folgende Satztypen vor:

  1. Deklarativsatz
  2. Interrogativsatz
  3. Imperativsatz
  4. Exklamativsatz

Daß die Satztypen grammatikalisiert sind, besagt, daß sie ein Paradigma mutuell exklusiver Illokutionen und Strukturen bilden. Jeder Satz (also auch .e - j) gehört also genau einem Satztyp an.

Die Bedeutung eines Satztyps, die im System für ihn vorgesehene illokutive Kraft, ist seine Basisillokution. So ist die Basisillokution eines Interrogativsatzes die Frage, die des Imperativsatzes die Aufforderung. Die gesamte Bedeutung eines Satzes ergibt sich also durch Kombination einer Basisillokution mit einem propositionalen Gehalt.

In .f ist die illokutive Kraft indirekt. Der Satzyp ist nämlich ein Interrogativsatz. Der Redehandlungswert von .f ist aber nicht der einer Frage, sondern einer Bitte. In ähnlicher Weise haben auch .h und j indirekte illokutive Kräfte: die ersteren beiden implizieren ein Anerbieten, das letztere eine Drohung.

Die illokutive Kraft der Beispiele in ergibt sich aus der Basisillokution im Zusammenspiel mit anderer, z.B. prosodischer sowie der Sprechsituation entstammender Information. Die illokutive Kraft kann aber auch lexikalisch kodiert sein.

.Ich taufe dich auf den Namen Erna.

In wird ein Verb, das einen Sprechakt bedeutet, so verwendet, daß der Sprechakt dadurch ausgeführt wird. D.h. wenn jemand in einer geeigneten Sprechsituation äußert, dann hat er nicht eine Aussage über eine Handlung von sich selbst gemacht, sondern er hat eine sozial relevante Handlung ausgeführt. Deren Konsequenz ist nach den Konventionen der Sprachgemeinschaft, daß die Angesprochene fortan den Namen Erna trägt. Dies zeigt, daß Sprechakte zu den Konventionen einer Sprachgemeinschaft gehören. Sprechaktbezeichnende Verben, die man verwenden kann, um den betreffenden Sprechakt auszuführen, heißen performative Verben.

Sprechaktverben können also performativ oder nicht performativ sein. Die folgende Tabelle führt einige repräsentative Beispiele auf.

Performative und nicht-performative deutsche Sprechaktverben
performativnicht-performativ
verfluchenbeleidigen
segnentrösten
sich entschuldigensich herausreden
warnendrohen

So ist z.B. trösten zwar ein Sprechaktverb, aber nicht performativ, weil man es nicht schaffen kann, jemanden dadurch zu trösten, daß man zu ihm sagt: ich tröste dich hiermit.

Die Zuordnung zwischen Sprechakten und sprachlichen Mitteln, sie auszuführen, ist – wie grundsätzlich die Zuordnung von sprachlichen Funktionen und Strukturen – multipel: Einerseits sahen wir anhand von , daß die Ausdrucksmittel polyfunktional sind. Andererseits kann man einen gegebenen Sprechakt auf verschiedene Weisen ausführen.

.a.Ich bedanke mich.
b.Ich danke Ihnen.
c.Danke.
d.Vielen Dank.

So verwenden z.B. .a und b performative Verben, c dagegen eine Interjektion und d ein elliptisch gebrauchtes Nominalsyntagma. Den kommunikativen Akt des Dankens kann man auf jede dieser Weisen und noch auf andere Weisen ausführen. Zudem besteht auch die Möglichkeit, ihn mit nicht-sprachlichen Mitteln auszuführen, z.B. durch Übersendung eines Blumenstraußes.