Die Konzeption des Sprachzeichens als bilateral, wo ein Significatum auf ein Significans abgebildet wird, verführt zu einer Konzeption der Verständigung – der Semiose –, wo Significantia anstelle von Significata übermittelt werden und Sprecher und Hörer bloß dieselbe Abbildung in umgekehrter Richtung durchlaufen.
In Wahrheit sendet der Sprecher dem Hörer nur akustische Hinweise, aus denen letzterer erschließen kann, was der Sprecher will daß der Hörer erschließen soll (vgl. auch den Abschnitt zur Verständigung). Dies hatte Wilhelm von Humboldt schon richtig gesehen:
Es kann in der Seele nichts, als durch eigne Tätigkeit vorhanden sein, und Verstehen und Sprechen sind nur verschiedenartige Wirkungen der nämlichen Sprachkraft. Die gemeinsame Rede ist nie mit dem Übergeben eines Stoffes vergleichbar. In dem Verstehenden, wie im Sprechenden, muß derselbe aus der eignen, innren Kraft entwickelt werden; und was der erstere empfängt, ist nur die harmonisch stimmende Anregung. (Humboldt 1836[1963]:430)
Die erste Aufgabe des Sprechers in der Semiose ist die Entscheidung, was er will daß der Hörer denke. Unmittelbar dieser untergeordnet ist die Entscheidung, was von all dem er kodieren muß. Einen Gedanken zu kodieren bedeutet, ihm einen Ausdruck zuzuordnen derart, daß den Komponenten und der Struktur des Gedankens die Komponenten und Struktur des Ausdrucks entsprechen. Der Vorgang setzt einen Kode voraus, der die einfachen Ausdrücke sowie die Regeln ihrer Kombination zu komplexen Ausdrücken umfaßt. Im Falle menschlicher Sprache ist der Kode das Sprachsystem.
Der Sprecher kodiert nicht alles, was er aktuell denkt. Vieles davon ist für die Verständigung mit dem Hörer nicht relevant; anderes befindet sich sowieso im Bewußtsein des Hörers; noch anderes kann er sich auf andere Weise erschließen. Die Äußerung ist ja in die Sprechsituation sympraktisch eingebettet, d.h. mit allem Nicht-Sprachlichen, was Sprecher und Hörer derweil tun, verzahnt. Der Sprecher gibt also dem Hörer lediglich hinreichende Hinweise auf das, was er denkt. Solche Hinweise können im Vergleich zur Komplexität der übermittelten Inhalte sehr einfach sein. So kann ein Hüsteln bedeuten: “Achtung, sie steht hinter dir (sieh dich also vor, was du sagst)!” Dieser komplexe Gedanke ist in dem Hüsteln nicht im definierten Sinne kodiert. Das Hüsteln ist lediglich eine semiotische Scheinaktivität, die dem Hörer zu verstehen gibt, daß es mit der laufenden Kommunikation ein Problem gibt und daß der Hüstler das Problem nicht sprachlich benennen kann oder will. Alles weitere muß der Hörer aus der Sprechsituation (inkl. Kontext und Weltwissen) erschließen (inferieren). Ein solcher Schluß ist eine Inferenz.
Ein Beispiel einer sprachlichen Äußerung, die wesentlich weniger kodiert, als kommuniziert wird, steht im Abschnitt über Sinn und Bedeutung.
Methodologisch bedeutet das folgendes für die Linguistik: Ihre Aufgabe ist es, die sprachliche Verständigung zu untersuchen. Dazu konzentriert sie sich auf die Sprache. Tatsächlich wird aber nur ein Teil der Verständigung mithilfe von Sprache erreicht (vgl. auch zur parasprachlichen und nichtsprachlichen Kommunikation). Indem die linguistische Semantik die sprachliche Bedeutung untersucht, kommt sie also nur an einen Teil dessen heran, worin die Verständigung besteht. Den verbleibenden riesigen Rest untersuchen zum Teil die Pragmatik und die Semiotik; und dann verbleibt immer noch ein großer Teil, zu dem man noch einmal Humboldt zitieren kann:
[Sprechen und Verstehen sind] ein Anknüpfen des einzeln Empfundenen an die gemeinsame Natur der Menschheit. (Humboldt 1836:14)
Dazu hat bisher keine Wissenschaft einen Zugang gefunden. Die linguistische Semantik arbeitet insofern im Blindflug. Sie kann den von ihr als Objekt gewählten Ausschnitt desto erfolgreicher bearbeiten, ein je klareres Bewußtsein sie von dem Rest hat, den sie voraussetzen muß.