August Wilhelm Schlegel, ein jüngerer Bruder von Friedrich Schlegel, wurde 1818 Professor der Literatur und Kunstgeschichte in Bonn und publizierte im selben Jahr seine Observations sur la langue et la littérature provençales. Er war in erster Linie Literaturwissenschaftler und Philosoph sowie einer der bedeutendsten Theoretiker der Romantik. Das Buch ist eine ziemlich ungeordnete Folge von Ideen über die romanischen Sprachen, die als Reaktion auf Arbeiten des provenzalischen Philologen F.J.M. Raynouard entstanden sind. Die Ausführungen zur Sprachtypologie schließen an F. Schlegel 1808 an und finden sich auf den Seiten 14 - 30.
Schlegel stellt (S. 14) drei “Klassen” von Sprachen auf:
Die Sprachen des ersten Typs haben überhaupt keine Morphologie. Als Beispiel dient wieder das Chinesische. Affixe [von der Art, wie sie den zweiten Typ charakterisieren] haben einen vollständigen Sinn. Die morphologischen Mittel des flexivischen Typs dagegen haben für sich keine Bedeutung, “markieren” aber die Beziehungen der Wörter, an denen sie auftreten. Nur dieser dritte Typ ist “organisch” und nimmt daher den höchsten Rang ein (S. 15).
Die flektierenden Sprachen werden (S. 16) in zwei Arten unterteilt, synthetische und analytische. Die analytischen haben:
Die Entstehung der synthetischen Sprachen ist unbekannt. Die analytischen entstehen zu historischer Zeit aus synthetischen. Beispiele sind die romanischen, neuindischen und neupersischen Sprachen.
Zwischen dem synthetischen und dem analytischen Typ besteht ein fließender, auch im Sprachwandel nachweisbarer Übergang (S. 16f). Die altindogermanischen Sprachen, besonders Sanskrit, in abnehmendem Grade auch Griechisch und Latein, sind synthetisch. Dann folgen in Richtung auf analytischen Bau diverse germanische Sprachen und zuletzt Romanisch und Englisch (S. 17). Derselbe Übergang findet von Germanisch zu Deutsch und von Altgriechisch zu Neugriechisch statt (S. 19).
Die synthetischen Sprachen haben freie Wortstellung und sind daher sehr viel geschmeidiger im Ausdruck, während die analytischen Sprachen Beziehungen durch Wortstellung ausdrücken müssen (S. 26).
Die Entwicklung des analytischen Baus beruht auf einer Desemantisierung der Wörter (S. 28), die später Grammatikalisierung genannt werden wird. So wird z.B.
Schlegel ist somit einer der ersten und klarsten Grammatikalisierungstheoretiker. Er setzt die Typologie ‘isolierend – agglutinativ – flektierend’ versuchsweise in Beziehung zur Grammatikalisierung und präfiguriert damit Humboldts evolutive Typologie.
Bzgl. des Begriffes ‘flektierend’ ist ein Mißverständnis zu meiden: in moderner Grammatiktheorie steht Flexion als eine Abteilung der Morphologie neben Wortbildung. In diesem Sinne hat auch eine agglutinative Sprache wie Türkisch Flexion, nämlich neben Derivation. Das 19. Jh. hat einen engeren Begriff von Flexion: nur solche morphologische Modifikation, die nicht auf Agglutination, sondern auf der lautlichen Abwandlung des Stamms beruht, heißt Flexion. Dieser Begriff wurde im 20. Jh. nicht mehr akzeptiert; bereits Sapir (1921) ersetzt ihn durch ‘Fusion’.
Schlegels analytischer und synthetischer Typ sind im 20. Jh. meistens mißverstanden worden. Bereits Sapir (1921) hat keinen relevanten Unterschied zwischen isolierender und analytischer Morphologie gesehen und die beiden Begriffe daher identifiziert; und dasselbe haben mehrere weitere, vor allem US-amerikanische Typologen getan. Es ist zuzugestehen, daß einige der obigen Merkmale des analytischen Typs, etwa der Gebrauch von Adpositionen statt Kasus, auch isolierende Sprachen kennzeichnen. Dies ist aber nur ein Grenzfall analytischer Flexion. Wichtig ist bei Schlegel, daß analytische Flexion eine Art von Flexion ist, nämlich Flexion von Hilfswörtern anstelle der lexikalischen Stämme. Analytische Sprachen sind deshalb nicht isolierend, sondern flektierend.
Die moderne Verwechslung von isolierendem und analytischem Typ ist mehr als nur eine terminologische Frage. Z.B. nimmt die anderswo dargestellte evolutive Typologie des 19. Jh. eine Entwicklung vom isolierenden zum flektierenden Typ an. Daraus wird in Referaten des 20. Jh. gelegentlich eine Entwicklung vom analytischen zum synthetischen Typ, was A.W. Schlegels Thesen geradezu auf den Kopf stellt.
Wie weit Schlegels Typologie von dem ideologischen Bedürfnis getragen ist, für die modernen indogermanischen Sprachen halbwegs den Nimbus des hochgeschätzten flektierenden Sprachtypus zu retten, ist eine andere Frage.