Das Verhältnis zwischen vergleichender Sprachwissenschaft und historischer Sprachwissenschaft ist komplex, weil beide Disziplinen nur durch ihre vorherrschende Methode definiert sind, die aber in vielen, teilweise überlappenden Bereichen anwendbar sind1. Vergleichende Sprachwissenschaft ist jegliche Sprachwissenschaft, die Sprachen miteinander vergleicht. Gemäß den im Methodenkapitel hergeleiteten drei Arten von Beziehungen zwischen Sprachen resultieren drei Richtungen des Sprachvergleichs: typologischer, arealer und genetischer Vergleich. Historische Sprachwissenschaft hinwiederum ist jegliche Sprachwissenschaft, die Sprachen als historische Gegenstände betrachtet, d.h. die sich an überlieferte Dokumente hält und daraus das Werden einer Sprache abzuleiten sucht. Die beiden Perspektiven schneiden sich etwa so, wie in dem folgenden Schaubild dargestellt:
Das Kriterium der genetischen Abstammung bietet eine wichtige Möglichkeit, Sprachen zu gruppieren. Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft stellt regelmäßige Entsprechungen zwischen zwei Sprachen fest und führt sie darauf zurück, daß die Sprachen von einer gemeinsamen Mutter abstammen. Alle Sprachen, die von einer gemeinsamen Mutter abstammen, bilden eine Sprachfamilie. Die Mütter können ihrerseits wieder genetisch miteinander verwandt sein, so daß man einen Stammbaum wie den obigen erhält. Der Stammbaum der indogermanischen Sprachen, der in einem früheren Kapitel besprochen wurde, illustriert diese Hierarchie im Detail.
Freilich ist ein solches Modell eine Idealisierung, insofern es unter den historischen Beziehungen zwischen Sprachen nur die genetischen Beziehungen wiedergibt. Daneben führt, wie wir oben sahen, der Sprachkontakt dazu, daß Sprachen sich verändern und aneinander angleichen. Häufig sind auch verwandte Sprachen miteinander in Kontakt, so daß die Lehnverwandtschaft eine genetische Verwandtschaft überlagern kann.
In dem Kapitel über Rekonstruktion wird ausführlich besprochen, daß die Methoden der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft auf dem im Schaubild nach links führenden Weg nicht sehr weit in die Vergangenheit zurückreichen. Die Konsequenz davon ist, daß wir mit über 200 Sprachfamilien, darunter mehreren genetisch isolierten Sprachen, auf der Welt zu rechnen haben. Falls sie durch Monogenese entstanden sind, sind sie durch einen einzigen Stammbaum miteinander verwandt. Die linguistischen Methoden, die diesen Stammbaum aufzustellen erlauben, müssen allerdings noch gefunden werden.
1 Die deutsche Syntax ist hier gegenüber den Ausdrucksanforderungen defizient.