Eine sprachliche Einheit zu rekonstruieren heißt, eine Hypothese darüber aufzustellen, wie sie war vor der Zeit, da historische Belege darüber vorliegen. Die Datenbasis einer Rekonstruktion sind stets diejenigen historisch dokumentierten Fälle, welche dem gesuchten Rekonstrukt zeitlich am nächsten kommen, d.h. normalerweise die ältesten Dokumente. Zur Rekonstruktion gehört notwendigerweise auch eine Hypothese darüber, wie die historisch belegten sprachlichen Einheiten aus dem Rekonstrukt entstanden sind.
Somit zerfällt die vollständige Geschichte einer Sprache (‘Geschichte’ im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin, nicht im Sinne eines Aspekts des Objekts) i.w.S. in zwei Hauptphasen:
Auf die historisch belegten Daten1 werden Methoden angewandt, die es gestatten, die Urform aus ihnen zu erschließen. Einige der hier relevanten methodischen Prinzipien gelten ganz allgemein:
Um dem Urzustand möglichst nahe zu kommen, hat man natürlich nicht die modernen Formen der betreffenden Sprachen, sondern jeweils ihre ältesten dokumentierten Stufen zu vergleichen. Im Falle der romanischen Sprachen wären das also u.a. Altspanisch und Altitalienisch; und ähnlich ist es im Falle der germanischen Sprachen. Wenn wir hier also gelegentlich moderne romanische Formen wie ital. figlio und span. hijo vergleichen, so nur deshalb, weil dies zur Illustration ausreicht. Eigentlich müßten wir altital. filio /fiʎo/ und altspan. fijo /fiʒo/ vergleichen.
Die Rekonstruktion einer Ursprache beruht auf den regelmäßigen Entsprechungen, die die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft feststellt. Eine rekonstruierte Einheit, z.B. urroman. *fiʎo, ist die Repräsentation der regelmäßigen Entsprechungen zwischen den verglichenen Einheiten, also hier ital. figlio, span. hijo, port. filho usw. Sie wird mit Sternchen versehen, um diesen ihren methodologischen Status als nicht historisch belegte Form zu bezeichnen.
Das Rekonstrukt ist aber nicht lediglich eine abstrakte Formel, die die regelmäßige Entsprechung zwischen den verwandten Sprachen symbolisiert. Vielmehr soll es Bestandteil eines natürlich funktionierenden Sprachsystem sein von der Art, daß die historischen Formen sich daraus durch geläufige Sprachwandelprozesse entwickeln konnten. Ein Rekonstrukt ist also dann am besten, wenn die Herleitung der historischen Formen aus dem Rekonstrukt verhältnismäßig wenige und allgemeine Wandelprozesse erfordert.
Nur solche Einheiten der Ursprache können rekonstruiert werden, die in den Tochtersprachen irgendwelche Spuren hinterlassen haben. Wenn Einheiten der Ursprache in allen Tochtersprachen spurlos geschwunden sind, gibt es keine Möglichkeit, etwas über sie zu wissen. Z.B. gibt es in keiner romanischen Sprache ein /h/.2 Folglich läßt sich aus den romanischen Sprachen für das Urromanische kein /h/ rekonstruieren. (Daß Latein (≠ Urromanisch!) ein /h/ hatte, weiß man erstens aus lateinischen Quellen selbst und zweitens aus archaisierender Orthographie in romanischen Sprachen.) Dasselbe gilt für die Morphologie. Die germanischen Sprachen haben kein synthetisches Perfekt. Hätten wir keine anderen indogermanischen Sprachen, so würden wir zwar eine besondere Konjugationsklasse für die kleine Gruppe der Präteritopräsentien (wie got. wait in untiger Tabelle) rekonstruieren, aber wir könnten nicht wissen, daß dies eben die germanischen Überreste des indogermanischen Perfekts sind.
Die verglichenen Formen verhalten sich zum Rekonstrukt wie Varianten zur Invariante. Es kann, muß aber nicht, unter den Varianten eine geben, die die Invariante ohne Veränderung repräsentiert. Z.B. lautet die altitalienische Form /fiʎo/ der rekonstruierten Form gleich. Das bedeutet natürlich nicht, daß die spanische sich aus der altitalienischen Form entwickelt hat, sondern daß die italienische Form sich gegenüber der Urform nicht gewandelt hat. Diese begrifflichen Verhältnisse sind ganz ähnlich den Verhältnissen der Allophone zueinander, zum Basisallophon und zum Phonem.
Genauso wie synchrone phonologische und grammatische Prozesse finden auch phonologische und grammatische Wandel unter bestimmten Bedingungen statt. Die Bedingungen für den Wandel von A zu B müssen angegeben werden. Werden keine Bedingungen identifiziert, so wandelt sich jegliches A in B, d.h. die nächste Sprachstufe hat kein A mehr. (In der Phonologie wäre das spontaner Lautwandel.) Ebenso muß man, wenn man annimmt, daß A sich mal in B, mal in C wandelt, die Bedingungen dafür angeben. Z.B. hat man zu Beginn der Indogermanistik angenommen, daß die anderen indogermanischen Sprachen aus dem Altindischen hervorgegangen wären. Nun gibt es aber zwischen Altindisch und anderen indogermanischen Sprachen wie Griechisch und Latein zahlreiche Entsprechungen wie die folgenden:
altind. | griech. | lat. | Bedeutung |
śaś | hex | sex | sechs |
aśtau | oktō | oktō | acht |
ajā-mi | agō | agō | treibe |
Man hat also folgende regelmäßige Entsprechungen:
ai. a = griech. e = lat. e
ai. a = griech. o = lat. o
ai. a = griech. a = lat. a.
Altindisch hat überhaupt kein /e/ und kein /o/. Wenn nun die griechischen und lateinischen aus den altindischen Formen entstanden sein sollen, dann müssen die Bedingungen identifiziert werden, unter welchen ai. a in den anderen Sprachen mal e, mal o und mal a ergibt. Lassen sich solche Bedingungen nicht identifizieren – so wie es hier tatsächlich der Fall ist –, dann können die anderen Sprachen nicht aus Altindisch entstanden sein. Man muß also schließen, daß im Gegenteil im Altindischen die drei Vokale (bedingungslos) zu a zusammengefallen sind. Theoretisch könnte nun Altindisch wiederum aus Griechisch oder Latein entstanden sein; aber das wird durch andere Fakten dieser Art ausgeschlossen. Es bleibt dann nur der Schluß, daß alle Formen der Tabelle nebeneinander aus urindogermanischen Formen hervorgegangen sind, deren Vokal im Griechischen und Lateinischen unverändert blieb.
Die Varianten müssen entweder den unveränderten Urzustand repräsentieren (also Archaismen sein) oder Neuerungen sein. Angenommen nun, die drei Sprachen L1, L2 und L3 weisen die Varianten A, B und A auf. Dann kann (u.a.) A die Urform und B eine Neuerung sein oder umgekehrt. Nun verteilen sich die drei Sprachen aber über einen geographischen Raum, in dem Neuerungen sich nach der Weise der Wellentheorie ausbreiten. Wenn nun L1 und L3 nach Abspaltung von L2 noch Kontakt hatten, dann können sie gemeinsam geneuert haben. Wenn aber L1 und L3 in Randgebieten des Sprachraums liegen oder geographisch isoliert sind, dann ist es ceteris paribus einfacher anzunehmen, daß beide den Urzustand bewahrt haben und daß L2 geneuert hat. Die gegenteilige Annahme wäre, daß sowohl L1 als auch L3 unabhängig voneinander die Variante A eingeführt, also unabhängig voneinander im selben Sinne geneuert haben. Man kann das nicht grundsätzlich ausschließen. Aber wenn noch ein paar andere Varianten dieselbe Verteilung aufweisen, wird diese Annahme unwahrscheinlich. Für Beispiele sei wieder (↰) auf die Verhältnisse von Zentralromanisch und Randromanisch verwiesen. Es gilt hier wieder (↰) der methodische Grundsatz, daß die Arbitrarietät des Sprachzeichens systematische, nicht historisch bedingte Ähnlichkeiten von Significantia zwischen Sprachen unwahrscheinlich macht bzw. ausschließt.
Ursprachen sollen, wie gesagt, den historisch bezeugten Sprachen im Wesen gleich, d.h. nicht Sprachen einer ganz anderen Art sein. Das impliziert, daß für sie dieselben Baugesetze gelten, die die Sprachtypologie und Universalienforschung für bezeugte Sprachen festgestellt und theoretisch begründet haben. Rekonstruierte Sprachsysteme können Universalien nicht falsifizieren. Mehr noch, wenn eine rekonstruierte Sprache Eigenschaften aufweist, die in historischen Sprachen nicht bezeugt sind, wird das Rekonstrukt insofern unwahrscheinlich (das Argument geht auf Jakobson 1958:23 zurück). Z.B. hatte die ältere Indogermanistik für Urindogermanisch zwar aspirierte Okklusive, aber kein /h/ rekonstruiert. Die Sprache wäre somit die einzige bekannte Ausnahme zu dem implikativen Universale ‘Wenn eine Sprache aspirierte Okklusive hat, hat sie /h/.’ Mittlerweile wird für das Urindogermanische ein /h/ rekonstruiert.
Dasselbe Prinzip ist auf die Sprachwandelvorgänge anzuwenden, welche zur Ableitung der bezeugten Formen aus den Rekonstrukten angenommen werden. Rekonstruktion ist eine Dynamisierung von beobachteter synchroner (oder achroner) Variation. Angesichts vorliegender Varianten A und B stellt sich die Frage, ob A aus B entstanden sein kann oder umgekehrt, oder ob beides unmöglich ist, so daß sie auf C ≠ A ≠ B zurückgehen müssen. Ein wesentlicher Aspekt dieser Frage ist es, ob Wandelprozesse historisch bezeugt sind, in denen genau dies passiert, oder ob es ein allgemeines Prinzip des Sprachwandels gibt, das einen solchen Wandel einschließt.
Als Beispiel kann die regelmäßige Entsprechung dienen, auf die lat. sex vs. gr. hex “sechs”, lat. septem vs. griech. heptá “sieben”, lat. suus vs. gr. héos “sein” u.v.a.m. hinweisen: lat. /s/ = griech. /h/. Wir reduzieren das Problem auf die Frage: bewahrt Latein oder Griechisch den ursprünglichen Zustand? M.a.W., ist es plausibel, daß ein /s/ zu /h/ wird, oder ist es umgekehrt plausibel, daß ein /h/ zu /s/ wird? Die Antwort ist einfach: Es sind zahlreiche Fälle von /s/ → /h/ historisch bezeugt und sogar beobachtbar (z.B. im heutigen Andalusischen); aber kein einziger Fall von /h/ → /s/ ist bekannt. Folglich bewahrt in diesem Falle Latein den ursprünglichen Zustand.
Dasselbe methodische Prinzip kann auch aus der Morphologie illustriert werden. Von dem altgriechischen phílos “eigen, lieb” wird folgende Etymologie angeboten (Ramat 1992:552f): Für das Urindogermanische ist eine Kasusform des Possessivpronomens *swe-bhi “sich (dat.)” rekonstruiert, welche durch Adjektivierung auf -l und nachfolgende Lautwandel griech. phílos ergibt. Abgesehen von der morphologischen Schwierigkeit, ein Adjektiv von einer Kasusform abzuleiten, läge in dem angenommenen Wandel vom Possessivpronomen zum Adjektiv ein Fall von Degrammatikalisierung vor. Degrammatikalisierung (die logische Konverse von Grammatikalisierung) ist aber bestenfalls höchst kontrovers und sporadisch historisch bezeugt. Folglich ist diese Etymologie sehr unwahrscheinlich.
Die Gesetze, welche über synchronen Sprachsystemen und über Sprachwandelvorgängen walten, sind z.T. spezifisch für bestimmte Bereiche des Sprachsystems wie Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexikon. Für die Significantia von Rekonstrukten und die Herleitung der historisch bezeugten Ausdrücke und Lautsysteme aus ihnen gelten die bekannten allgemeinen Prinzipien über phonologische Systeme und Prozesse. Einige Beispiele hatten wir oben schon gesehen. Es folgen ein paar weitere:
Relativ häufig ist der Fall, daß in Wörtern der einen Sprache ein bestimmtes Phonem auftritt, während eine andere Sprache an der entsprechenden Stelle der jeweils verwandten Wörter gar nichts hat. Soll man dann annehmen, daß das Phonem ursprünglich vorhanden war und in der letzteren Sprache in diesen Formen verlorengegangen ist, oder daß das Phonem in der ersteren Sprache in diese Formen eingeführt worden ist? Die folgende Tabelle zeigt, daß in mehreren Wörtern einem spanischen /l/ im Portugiesischen nichts entspricht.
Spanisch | Portugiesisch | Bedeutung |
salud | saude | Gesundheit |
color | cor | Farbe |
salir | sair | ausgehen |
volar | voar | fliegen |
Die Frage ist in solchen Fällen, ob eine Bedingung angegeben werden kann, unter der Spanisch /l/ eingeschoben hat. Wenn das zusätzliche Phonem in ganz unterschiedlichen Umgebungen auftritt und in denselben Umgebungen gelegentlich auch nicht auftritt (z.B. entspricht dem port. causa “Grund” span. causa, nicht etwa *calusa), kann keine solche Bedingung identifiziert werden. Dann bleibt nur die Möglichkeit, daß im Portugiesischen intervokalisches /l/ geschwunden ist.
Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, daß der Einschub von zusätzlichen Phonemen grundsätzlich nicht möglich wäre. Hier sind vor allem Anaptyxe und Epenthese einschlägig. Diese treten aber immer unter bestimmten Kontextbedingungen auf. (Ein Einschub eines Konsonanten zwischen zwei Vokalen mitten im Wort ist im Prinzip kein sehr wahrscheinlicher Lautwandel.)
Ähnlich dem erwähnten Fall von /s/ ~ /h/ liegt der oben vorgeführte Fall der Varianten ital. /f/ ~ span. /h/. In diesem Falle hat man innerspanische Evidenz, daß das kastilische /h/ in der Tat aus altspanischem /f/ entstanden ist. Aber auch wenn man diese nicht hätte, wäre klar, daß das italienische /f/ den ursprünglichen Zustand wiedergeben muß, denn ein /f/ kann zu /h/ werden, aber nicht umgekehrt.
Nicht ganz so einfach liegt der Fall bei dem Wurzelvokal, der für die oben besprochene regelmäßige Entsprechung vom Typ dt. Haus = schwed. hus usw. zu rekonstruieren ist. Wird ein ursprünglicher Diphthong im Schwedischen monophthongiert, oder wird ein ursprünglicher Monophthong im Deutschen (und einigen anderen Sprachen) diphthongiert? Beides sind mögliche, anderweitig historisch bezeugte Lautwandel. Auch in diesem Falle liegt wieder innersprachliche Evidenz (wie ahd. hūs) vor, die darauf hinweist, daß /ū/ die ursprüngliche Lautung ist. Außerdem wird ein /au/ normalerweise nicht zu /u:/, sondern zu /o:/ monophthongiert. Dieses Beispiel zeigt aber, daß die phonologischen Gesetze nicht alle Zweifelsfälle mit Sicherheit auflösen.
Semantisch hinreichend ähnliche Lexeme der verglichenen Sprachen, für die gemäß dem obigen ein Significans rekonstruierbar ist, können als Lexeme der Ursprache angesetzt werden. Die Rekonstruktion des Inventars der Ursprache ist so ein weitgehend kumulativer Prozeß. Die folgende Tabelle zeigt einige Beispiele für das Urindogermanische.
Nr. | Spr. | Wort | Bedeutung | idg. Wort | Bedeutung |
---|---|---|---|---|---|
a) | ahd. | sehs | sechs | ||
lat. | sex | sechs | |||
gr. | hex | sechs | |||
ai. | śaś- | sechs | sek̑s | sechs | |
b) | ahd. | ahto | acht | ||
lat. | octō | acht | |||
gr. | oktō | acht | |||
ai. | aśtau | acht | ok̑tō(w) | acht | |
c) | ahd. | loh | Kahlschlag | ||
lat. | loucos | Hain | |||
ai. | lōkah | (freier) Raum | louk-o-s | heller Platz | |
d) | got. | fadar | Vater | ||
lat. | pater | Vater | |||
gr. | patḗr | Vater | |||
ai. | pitā (Dat. pitré) | Vater | pətḗr | Vater | |
e) | ahd. | swestar | Schwester | ||
lat. | soror | Schwester | |||
ai. | svasā (Dat. svasré) | Schwester | swesor | Schwester | |
f) | lat. | it | er geht | ||
gr. | eîsi | er geht | |||
ai. | éti | er geht | eî-ti | er geht | |
g) | got. | wait | ich weiß | ||
lat. | vīdī | ich habe gesehen | |||
gr. | oida | ich weiß | |||
ai. | véda | ich weiß | woid-a(i) | ich habe gesehen → weiß |
In dem Maße, in dem das rekonstruierte Lexikon wächst, lassen sich auch Wortfelder zusammenstellen, im obigen Falle z.B. die Zahlwörter und die Verwandtschaftsterminologie. Außerdem lassen sich Wortbildungsprozesse rekonstruieren. Z.B. haben alle germanischen Sprachen Nominalkomposition; und auch Griechisch und Altindisch haben sie. Folglich lassen sich für das Urindogermanische nicht nur ein paar komponierte Lexeme rekonstruieren, sondern auch die Nominalkomposition selbst nach dem Muster ‘Determinans-Determinatum’ und auch ein paar semantische Typen davon wie die Possessivkomposita.
Flexivische Morpheme werden ganz wie Lexeme rekonstruiert. So kann man für die Ursprache Deklinations- und Konjugationsparadigmen aufstellen. Die folgende Tabelle gibt einen Ausschnitt davon für das Urindogermanische an.
Form | Funktion | vgl. vorige Tafel | |
a) | -ti | 3.Sg.Prs.Ind.Akt. | f) |
---|---|---|---|
b) | -a(i) + Wurzelablaut | 1.Sg.Perf.Ind.Akt. | g) |
c) | ∅ | Nom.Sg.m. konsonant. Deklination | d), e) |
d) | -s | Nom.Sg.m. o-Deklination | c) |
Auf diese Weise lassen sich nicht nur Form und Funktion der grammatischen Morpheme in der Ursprache bestimmen, sondern auch das ganze morphologische System läßt sich rekonstruieren. Z.B. weiß man, daß das indogermanische Nomen durch Suffixe nach Genus, Numerus und Kasus flektierte, und daß das Verb drei Personen und drei Numeri unterschied. Damit ist Urindogermanisch typologisch klar verschieden von Sprachen, die z.B. gar keinen Kasus oder nur zwei Numeri usw. haben.
Das Fehlen einer morphologischen Kategorie in der Ursprache läßt sich dagegen nicht sicher feststellen, denn sie kann in allen Tochtersprachen verloren gegangen sein. Allerdings kann man durch typologischen Vergleich feststellen, daß eine bestimmte grammatische Funktion in den Sprachen der Welt durch eine Handvoll alternativer Verfahren erfüllt werden kann und normalerweise auch nur durch eines davon erfüllt wird. Wenn man nun für die Ursprache eines dieser Verfahren rekonstruieren kann, während es für ein gewisses alternatives Verfahren keine Spur gibt, so darf man annehmen, daß dieses auch wirklich nicht existierte. Z.B. läßt sich die semantische Relationalität von Nomina wie den Körperteiltermini morphologisch durch eine Opposition zwischen alienabler und inalienabler possessiver Flexion am Substantiv oder durch die syntaktische Konstruktion des externen Possessors ausdrücken. Die letztere läßt sich für das Urindogermanische rekonstruieren, während es von einer morphologischen Kategorie der (In-)Alienabilität keine Spur gibt. So kann man ziemlich sicher sein, daß eine solche auch nicht bestanden hat.
Morphologische Rekonstrukte müssen natürlich durch die allgemeinen Prinzipien grammatischen Wandels, also insbesondere Analogie, Grammatikalisierung und Reanalyse (s. das betreffende Kapitel), auf die historischen Formen bezogen sein. Z.B. kann man in zahlreichen historischen Sprachen beobachten, daß Personalaffixe am Verb durch Grammatikalisierung entstehen, indem vormalige Personalpronomina erst klitisch und dann affixal werden. Wenn nun die Personalendungen des indogermanischen Verbs *-mi 1.Sg., *-si 2. Sg., *-ti 3.Sg. morphologisch-lautlich offensichtlich auf die Personalpronomina *me “mich”, *se “dich” und *to- “ihn” bezogen sind, ist die Annahme unproblematisch, daß sie durch Agglutination von Personalpronomina entstanden sind.
Gemäß dem Penthouse Principle herrscht in der Syntax mehr Freiheit als in der Morphologie. Während ihrer Abspaltung von der Ursprache können die Tochtersprachen die Syntax weitgehend verändert haben, weil die Freiheit dazu besteht, während die Morphologie starrer ist und eher gegen Null reduziert als umstrukturiert werden kann. Für das letztere lassen sich alle bisher gegebenen morphologischen Beispiele anführen. Die syntaktische Freiheit dagegen zeigt sich am klarsten auf dem Gebiet der Hauptkonstituentenstellung. In selbständigen Aussagesätzen haben die germanischen Sprachen die Grundwortstellung SVO (Subjekt - Verb - Objekt), das Lateinische die Stellung SOV, die keltischen Sprachen dagegen VSO. Für das Urindogermanische rekonstruiert man – mit einiger Unsicherheit – freie Wortstellung mit Vorliebe für SOV.
Rekonstruktion ist die Angabe einer Invariante, aus welcher die existenten Varianten abgeleitet werden können. Variation allerdings besteht nicht nur zwischen Sprachen, sondern auch innerhalb einer Sprache. In diesem Falle handelt es sich darum, die Bedingung der Variation festzustellen und einen früheren Sprachzustand zu rekonstruieren, in dem diese Bedingung keine Wirkung hatte und folglich diese Variation noch nicht herrschte. Die Methode involviert auch hier den Vergleich, allerdings nicht den Vergleich von Formen genetisch verwandter Sprachen, sondern von Formen einer einzigen Sprache. Deswegen heißt sie innere Rekonstruktion.
Die folgende Tabelle illustriert drei morphologische Funktionen des Lateinischen, die, wie die linke Hälfte zeigt, durch regelmäßige morphologische Prozesse erfüllt werden können. Die rechte Hälfte enthält durch dieselbe Funktion unterschiedene Paare, wo eine Alternation zwischen /s/ und /r/ auftritt.
Kodierung | regelmäßig | mit Rhotazismus | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Funktion | Form | Bedeutung | Form | Bedeutung | Form | Bedeutung | Form | Bedeutung |
Deklination | consul | Konsul(NOM) | consul-is | Konsul-GEN | honos | Ehre(NOM) | honor-is | Ehre-GEN |
Präverbierung | cerno | scheide | dis-cerno | unterscheide | emo | nehme | dir-imo | nehme auseinander |
Präsens | rep-o | krieche | rep-si | kroch | ger-o | führe | ges-si | führte |
Die Alternation ist durch den bereits mehrfach besprochenen Rhotazismus hervorgerufen. Die Allomorphe mit /r/ treten unter einer bestimmten Bedingung, nämlich intervokalisch auf. Folglich ist das Allomorph mit /s/ das Basisallomorph; und man kann einen früheren Sprachzustand (in diesem Falle archaisches Latein) rekonstruieren, wo diese Bedingung nichts bewirkte, wo also in allen Kontexten einheitlich /s/ auftrat.
Im Falle dieses Beispiels werden diese Vorformen der lateinischen Wörter sowohl durch archaische Inschriften als auch durch Sprachvergleich bestätigt. Wenn verschiedene Methoden zu demselben Ergebnis führen, bestätigen sie sich gegenseitig und machen also das Ergebnis verläßlicher. Die Hinzuziehung solcher anderen Methoden ist aber natürlich nicht Bestandteil der inneren Rekonstruktion und für sie auch nicht wesentlich.
Übungsaufgabe: Ungarische Vokalharmonie
Übungsaufgabe: Passiv im Maori
In dem Abschnitt über semantischen Wandel hatten wir gesehen, daß semantischer Wandel zwar nicht, wie weitgehend der Lautwandel, nach ausnahmslosen Gesetzen abläuft, daß aber doch wenigstens einige allgemeine Formen des semantischen Wandels tendentiell gerichtet sind, also ohne spezifische äußere Motivation nicht in umgekehrter Richtung ablaufen. So passiert Bedeutungsverallgemeinerung durch Merkmalsverlust von alleine, und Metapher führt normalerweise vom Konkreten zum Abstrakten, nicht umgekehrt.
Auch Polysemie ist eine Art synchroner Variation, die man dynamisieren kann. Dazu hat sich die synchrone Lexikographie schon immer die vorgenannten Prinzipien zunutze gemacht, wenn sie zu einem Lexem eine Grundbedeutung von abgeleiteten Bedeutungen unterschieden hat. Jedes deutsche Wörterbuch gibt zu Flügel als Grundbedeutung die Schwinge eines flugfähigen Tiers an und führt Bedeutungen wie “Trakt eines Gebäudes” unter den abgeleiteten Bedeutungen auf. Hier liegt eine Metapher vor, die offensichtlich nicht einmal vom Konkreten zum Abstrakten führt, deren Richtung aber dennoch unzweifelhaft ist. Ähnlich wird die Polysemie von führen immer so geordnet werden, daß der Gebrauch in einem Satz wie Erna führte Erwin in den Wald die Grundbedeutung abgibt, während der Gebrauch in Erna führte Erwins Theorie ad absurdum eine abgeleitete Bedeutung zeigt. Hier liegt auch in der Tat Übergang von Konkretem zu Abstraktem vor.
Die Methoden der semantischen Rekonstruktion müssen weitgehend erst noch explizit gemacht werden. Dennoch kann man durch innere Rekonstruktion die Grundbedeutung eines Lexems und auch eines grammatischen Formativs identifizieren. Nur diese geht alsdann in die vergleichende Rekonstruktion ein.
Bei der inneren Rekonstruktion der Morphologie werden wieder die Prinzipien der Analogie und der Grammatikalisierung wirksam. Wir stellen z.B. im Neuhochdeutschen das Komparationsparadigma vom Typ schön – schön-er – schön-st fest, und ferner eine Ausnahme wie gut – bess-er – be-st, wo Suppletion herrscht. Dann können wir vermuten, daß es zu dem Komparativ und Superlativ auch einmal einen Positiv von derselben Wurzel gegeben hat. Er kann *bess gelautet haben. Aber wenn wir wissen, daß Komparation Umlaut auslösen kann, wie in hart – härt-er – härt-est, kann jenes Adjektiv auch *bass gelautet haben. Die Form des Superlativs best wäre dann durch die im Deutschen allgemeingültige Degemination aus *bess-st hervorgegangen.
Bis hierhin ist diese Rekonstruktion weitgehend spekulativ. Bestätigt wird sie dadurch, daß baß in der Tat existiert, wenn auch nur in der Kollokation baß erstaunt “äußerst erstaunt”. Wie bekannt, werden Evaluativa ständig erneuert. Es sieht also so aus, als sei älteres baß im Positiv von gut verdrängt worden, habe jedoch im Komparativ und Superlativ überlebt. So weit würde die innere Rekonstruktion auf der Basis von Neuhochdeutsch führen. Tatsächlich weisen die deutsche Sprachgeschichte und der germanische Vergleich aus, daß baß seinerseits im Althochdeutschen ein Komparativ war, der durch besser regularisiert wurde. Das wiederum konnte man durch innere Rekonstruktion nicht herausbekommen.
Auf der Basis von Grammatikalisierungsgesetzen läßt sich ebenfalls synchrone Variation dynamisieren. So braucht man keine Daten über die deutsche Sprachgeschichte, um zu wissen, daß das Hilfsverb haben sich aus dem Vollverb entwickelt hat und nicht umgekehrt. Ebenso kann man einiges über die Vorgeschichte der deutschen Satzgliedstellung extrapolieren. Sie bietet, mit einiger Vereinfachung, folgendes Muster:
Selbständigkeit
Satztyp ╲ |
selbständig | abhängig | |
---|---|---|---|
finit | infinit | ||
deklarativ | #X V Y# | #Z V# | #Z V# |
nicht-deklarativ | #V Z# |
V = Hauptverb, X = eine Konstituente, Z = alles außer dem Hauptverb
Es gibt also Stellungsvariation in selbständigen, nicht jedoch in abhängigen Sätzen. Dies entspricht völlig dem Penthouse Principle. Nun ist die Wortstellung in abhängigen Sätzen klärlich nicht aus einem der bestehenden Stellungsmuster für selbständige Sätze grammatikalisiert (verfestigt) worden. Stattdessen muß sie auf eine alte ZV-, d.h. SOV-Stellung zurückgehen. In selbständigen Sätzen dagegen kann neben oder statt der heutigen Stellungsmuster auch ein anderes bestanden haben, z.B. eben das SOV-Muster, das heute noch in abhängigen Sätzen besteht. Die heutigen Stellungsmuster der selbständigen Sätze wären dann, auf der Basis der weitgehenden Stellungsfreiheit auf dieser Ebene, ehemals als Varianten der Stellung SOV entstanden (dadurch, daß das finite Verb den Satz in Vorfeld und Nachfeld unterteilt). (All dies wird wieder durch den genetischen Vergleich bestätigt.)
Zusammenfassend kann man sagen, daß die Rekonstruktion in einer Stufenfolge abläuft:
Diese Stufenfolge läßt sich iterieren. Hat man z.B. auf diese Weise durch Vergleich der germanischen Sprachen das Urgermanische rekonstruiert, und ebenso durch Vergleich der keltischen Sprachen das Urkeltische und ebenso bei den anderen indogermanischen Zweigen, so kann man durch Vergleich von Urgermanisch mit Urkeltisch usw. das Urindogermanische rekonstruieren. Und weiter kann man mit denselben Methoden Urindogermanisch mit Urafroasiatisch, Uraltaisch vergleichen und daraus Nostratisch rekonstruieren. Wenn Rekonstruktionen nicht auf historischen Daten, sondern auf Rekonstrukten basieren, potenziert sich freilich der jeder Rekonstruktion anhaftende Unsicherheitsfaktor. Deswegen hören vorsichtige Wissenschaftler spätestens beim Urindogermanischen auf.
Tatsächlich wird diese Stufenfolge selten eingehalten, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil das Vorgehen sehr mühsam ist. Wird sie nicht eingehalten, droht Unwissenschaftlichkeit. Z.B. liegt es nahe, dt. haben mit lat. habere “haben” zu vergleichen und daraus eine indogermanische Vorform zu rekonstruieren. Wendet man dagegen zunächst den innergermanischen Vergleich auf dt. haben an, so kann man ein urgerm. *hafjan “fassen, halten” rekonstruieren, welches nach den Gesetzen der ersten Lautverschiebung auf die indogermanische Wurzel *kap- “fassen” zurückgehen muß. Diese liegt auch im Lateinischen vor, und zwar in dem Verb capere “fassen”. Lat. habere dagegen geht auf eine indogermanische Wurzel *gʰabʰ- “nehmen” zurück. Dt. haben und lat. habere haben also trotz oberflächlicher Ähnlichkeit genetisch nichts miteinander zu tun.
Wir haben gesehen, daß die Methode der Rekonstruktion zwei logische Folgen hat:
Ursprachen unterscheiden sich daher von natürlichen Sprachen in diesen beiden Punkten: sie sind ärmer und regelmäßiger. Dies ist eine unvermeidliche Folge der Methode. Das Erkenntnisinteresse der Rekonstruktion kann deshalb nicht darin liegen, zu veranschaulichen, wie die Vorfahren einer Sprachgemeinschaft gesprochen haben. Es besteht darin, die historische Verwandtschaft zwischen Sprachen wissenschaftlich zu spezifizieren, zu repräsentieren und so die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß die Verwandtschaftsverhältnisse weiterer Sprachen geklärt werden können.
Übungsaufgabe: Indogermanische Konjugationsparadigmen
1 Rekonstruktion basiert zunächst auf historischen Daten. Rekonstruktion auf der Basis von Rekonstrukten ist auch möglich; dazu s.u.
2 Bei dieser Verallgemeinerung wird von neueren Einzelentwicklungen abgesehen, z.B. der Aussprache des Phonems /χ/ als [h] in spanischen Dialekten; sie tun hier nichts zur Sache.