Wenn man unseren Deutschlehrern glaubt, gibt es im Deutschen ein Geschlechtswort. Es soll sich um das Wörtchen der handeln, das u.a. die Formen der, die und das aufweist und dessen Funktion es sein soll, das Geschlecht anzuzeigen. Generationen von Schülern und insbesondere von Ausländern, die Deutsch als Fremdsprache lernen wollen, werden mit diesem Unsinn konfrontiert und haben dann desto größere Schwierigkeiten, gewisse Eigenarten der deutschen Grammatik zu lernen, die in der Tat nicht einfach sind.

Erstens, die Aufgabe, das Geschlecht anzuzeigen, besteht in Deutschland nicht. Männliche und weibliche Personen können sich kleiden und sonst herrichten in einer Weise, dass man ihr Geschlecht nicht ohne weiteres erkennen kann. Und nach jüngerer Gesetzgebung kann jeder auch deklarieren, dass er keines der bekannten Geschlechter hat. Ebensowenig gibt es eine sprachliche Funktion, das Geschlecht anzuzeigen. Dies ist lediglich ein Bedeutungsmerkmal einiger Wörter wie Hengst und Stute, die man bei Bedarf statt Pferd benutzen kann.

Was die Leute, die so reden, evtl. meinen, ist die Funktion, das Genus anzuzeigen. Tatsächlich gibt es im Deutschen drei Genera, nämlich maskulinum, femininum und neutrum. Deutschlehrer und andere Laien nennen das Genus oft Geschlecht. Warum sie das tun, kann man nur rätseln. Vielleicht ist es der Glaube, die Bedeutung des Genus sei das Geschlecht. Vielleicht ist es auch Angst vor Fremdwörtern, und gar vor grammatischen Fachausdrücken. Tatsächlich hat das Genus so viel wie nichts mit dem Geschlecht zu tun. Die Möbelbezeichnungen Sessel, Couch und Sofa sind maskulinum, femininum und neutrum; und dito die Bezeichnungen für Gewürze Dill, Kresse und Salz. Haben die etwas Sexuelles an sich, oder gar ein “Gender”? (Letzteres haben sie freilich in englischer Terminologie, denn dt. Genus ist engl. gender.) Es ist hochgradig irreführend und für Sprachlerner überhaupt nicht hilfreich, von Geschlecht zu reden, wo Genus gemeint ist.

Das ist aber nur ein Aspekt der Verwirrung. Denn angenommen nun, mit ‘Geschlechtswort’ sei ein Wort gemeint, dessen Aufgabe es ist, das Genus anzuzeigen, dann trifft auch das auf das Wörtchen der - die -das nicht zu. Das Genus ist eine Eigenschaft von Substantiven wie den oben genannten Bezeichnungen für Möbel und Gewürze und überhaupt allen Substantiven des Deutschen. Man kann es aber i.a. nur an abgeleiteten Substantiven wie Bohr-er (maskulinum), Rett-ung (femininum) und Brauch-tum (neutrum) erkennen. An den aufgeführten Bezeichnungen für Möbel und Gewürze sieht man es nicht. Das Genus wird aber – mehr oder minder deutlich – angezeigt von anderen Wörtern, die mit dem Substantiv kombiniert werden. Wörter wie Adjektive, Demonstrativ- und Possessivpronomina und einige andere mehr haben kein bestimmtes Genus, sondern deklinieren nach allen drei Genera. Welches sie annehmen, hängt eben von dem Substantiv ab, dem sie untergeordnet sind. Es lässt sich vernünftigerweise sagen, dass sie das Genus anzeigen, wiewohl dies nicht ihre primäre Funktion ist.

Zu den Wörtern, die nach Genus deklinieren, gehören auch die Artikel, also der definite der und der indefinite ein. Man kann also, wenn man das Genus eines Substantivs zum Ausdruck bringen will, den definiten Artikel davor stellen, z.B. der Sessel, die Couch, das Sofa. Ebenso gut könnte man ein Adjektiv davorstellen, z.B. schöner Sessel, schöne Couch, schönes Sofa. Hier wie dort würde man an der Form dieser abhängigen Wörter das Genus des Bezugsnomens erkennen. Es kann also keine Rede davon sein, dass der definite Artikel in irgendeiner Weise dazu prädestiniert wäre, das Genus seines Substantivs anzuzeigen.

Nicht wenige Sprachen verfügen über die Kategorie des Genus, ohne jedoch einen Artikel zu haben. Das gilt z.B. für Russisch und Lateinisch. Die armen Sprecher dieser Sprachen! Nie können sie das Genus ihrer Substantive feststellen; es bleibt ihnen auf ewig verborgen! Tatsächlich haben bereits die alten Römer ihre Substantive mit dem Demonstrativpronomen kombiniert, um deren Genus anzuzeigen, denn ebenso wie im Deutschen und Russischen erscheint am Demonstrativpronomen das Genus des zugehörigen Substantivs.

Und schließlich zum Artikel. Wenn seine Aufgabe nicht ist, das Genus anzuzeigen, was ist sie dann? Dem definiten Artikel steht im Deutschen der indefinite Artikel gegenüber. In vielen Situationen, so wie in , muss man sich für einen von beiden entscheiden.

.a.Es klopfte. Ein Page trat ein.
b.Es klopfte. Der Page trat ein.

Den indefiniten Artikel, so wie in a, nimmt man, wenn der oder das Gemeinte noch nicht identifiziert, also für den Hörer neu ist. Den definiten Artikel, wie in b, nimmt man, wenn der Hörer das Gemeinte identifizieren kann, z.B. weil es schon erwähnt wurde. Diese Unterscheidung kann in der Kommunikation hilfreich sein, und sie ist die Funktion des Artikels.

Zum Schluss könnte man – wiewohl es nichts zur Sache tut – noch fragen, was die Funktion des Genus sei. Die kurze Antwort ist: Einige grammatische Kategorien sind in einem Maße formalisiert und sinnentleert (Fachausdruck: grammatikalisiert), dass sie nur noch die völlig unspezifische Funktion haben, die Rede zu strukturieren und Redundanz einzubauen, damit sie leichter verstanden wird. Die meisten Sprachen der Welt haben kein Genus, dafür aber vielleicht andere grammatische Kategorien ohne bestimmte Bedeutung, deren Funktion dann auf das Gleiche hinausläuft. (Die lange Antwort ist etwas komplexer.)

Ich schreibe diesen Text in einem Moment, da ich zum soundsovielten Male mit einer Ausländerin zu tun hatte, der ihr Deutschlehrer etwas vom Geschlechtswort erzählt hat und die sich mit der Bitte um Erklärung an mich gewandt hat. Man kann dem Text meine Gemütslage ruhig anmerken. Linguisten können in dieser Sache sowieso nichts ausrichten.