Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit

Sprachliche Kommunikation bedient sich verschiedener Medien, vor allem des mündlichen und des schriftlichen (s. hierzu auch die Website zur Wissenschaftlichen Redaktion, Abschnitt ‘Stil’). Gelegentlich hat man die Wahl zwischen den beiden Medien. In einer akademischen Lehrveranstaltung z.B. kann man entweder ein Referat halten oder eine Hausarbeit schreiben. Auf einem Symposium kann man einen Vortrag halten oder im nachhinein einen Beitrag zu dessen Akten liefern. Die Eigenschaften und Möglichkeiten der beiden Medien sind ganz verschieden:

Indem man für eines der beiden Medien optiert, macht man sich dessen Vorzüge zunutze und versucht, seine Nachteile zu minimieren.

Auf Veranstaltungen eines gewissen Förmlichkeitsgrades – z.B. im Radio, auf Tagungen, Sitzungen von Organisationen und Behörden, aber auch von Lehrveranstaltungen – kommt eine hybride Form der Mediennutzung vor, nämlich das Verlesen eines schriftlichen Textes. Sie kann im günstigsten Falle die Vorteile beider Medien kombinieren. Daher hat man, wenn man ein Referat hält, folgende Alternative: Man hält einen freien Vortrag oder man liest einen vorformulierten Text ab.

Formen des Vortrags

Was zunächst wie eine einfache Alternative aussieht, gliedert sich bei näherem Hinsehen in eine Skala verschiedener Formen des Vortrags:

  1. Große Redner verfügen u.a. über ein untrügliches Gedächtnis (in der Antike lernten sie ihre Vorträge einfach auswendig) und über die Gabe, aus dem Stand einen logisch geordneten komplexen Gedanken zu fassen und systematisch zu formulieren. Sie vermögen also einen Vortrag in völlig freier Rede zu halten. Die wenigsten haben diese Fähigkeit. Soweit sie nicht eine Gabe ist, kann man sie sich zu einem gewissen Grade antrainieren. Aber das wäre Gegenstand eines Rhetorikkurses und nicht dieser Website. Je weniger jemand über solche Fähigkeiten verfügt, desto mehr hängt er von einer schriftlichen Vorlage ab. Das besagt aber, daß die Wahl zwischen einem freien Vortrag und dem Ablesen eines Textes keine Entweder-Oder-Entscheidung, sondern eine graduelle Angelegenheit ist.
  2. Der durch einen Notizzettel unterstützte Vortrag ist für den Hörer kaum von einem völlig freien Vortrag zu unterscheiden. Auf dem Notizzettel stehen vielleicht nur die Hauptgliederungspunkte, ein paar Stichworte und solche Versatzstücke wie Zitate und Beispiele, die unbedingt wörtlich überbracht werden müssen. Der Redner benötigt ihn sonst nur, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, wenn er den Faden verloren hat oder sicher gehen will, nichts auszulassen. Einen solchen Vortrag hält man typischerweise, wenn man einen ausformulierten schriftlichen Text so oft gelesen hat, daß man ihn fast auswendig kann, oder wenn man den Vortrag schon mehrmals gehalten hat.
  3. Der durch eine schriftliche Vorlage – eine Tischvorlage oder eine mediale Präsentation – unterstützte Vortrag wechselt zwischen in freier Rede vorgetragenen Passagen und Elementen, die von der Vorlage abgelesen werden. Von der Tischvorlage ist anderswo die Rede. Hier ist nur wichtig, daß sie dem Redner das Typoskript ersetzen kann. Einen solchen Vortrag hält man typischerweise, wenn einerseits die Hörer eine solche Vorlage benötigen, um folgen zu können, und man andererseits als Redner den Stoff so weit beherrscht, daß man die Gliederung, argumentative Struktur und die Überleitungen zwischen den Elementen der Vorlage aus dem Gedächtnis abrufen und zusammenhängend formulieren kann.
  4. Der abgelesene Vortrag besteht im Verlesen eines ausformulierten Textes. Auch hier ist es noch möglich, gelegentlich von der Vorlage abzuweichen durch Zwischenbemerkungen und zusätzliche Erläuterungen oder dadurch, daß man Abschnitte überspringt, um den Zeitrahmen einzuhalten. Einen solchen Vortrag hält man typischerweise, wenn man kein Risiko eingehen kann (z.B. in einer Habilitation) oder wenn der Gedankengang so komplex oder die schriftliche Formulierung so schön ist, daß man durch mündlichen Vortrag Wesentliches verlöre, oder einfach wenn man rhetorisch total unbegabt ist.

So trägt man vor

Gleichgültig wie frei oder gebunden man das Referat hält, folgendes gilt jedenfalls:

Beim freien Vortrag achtet man auf folgendes:

Auch Vorlesen will gelernt sein:

Das Verlesen eines Referats steht in schlechtem Rufe; viele Ratgeber raten unter allen Umständen zum freien Vortrag. Das ist differenzierter zu sehen:

Vorbereitung

Aus dem Gesagten folgt, daß man sowohl einen freien als auch einen vorgelesenen Vortrag vorher üben muß. Das Üben zielt vor allem darauf, die Schwächen des jeweils genutzten Mediums zu reduzieren. Daher:

Außerdem nimmt man bei der (monologischen) Probe auch die Zeit. Vom Einhalten des Zeitrahmens ist anderswo die Rede.