Jede einzelne Sprache ist ein Verfahren, ein wahrnehmbares Medium – primär den Laut – zur Repräsentation von Gedanken zu verwenden. Der Gedanke und der Laut haben eine gewisse psychische bzw. akustische Struktur, aber diese ist vorsprachlich. Im Hinblick auf die Sprache ist sie bloße Substanz, welcher durch die Sprache Form verliehen wird. Die hier relevanten Begriffe hängen wie folgt zusammen:
Gedanke | psychische Repräsentation | außersprachlich | Substanz |
---|---|---|---|
Zeichen | Significatum Significans |
sprachlich | Form |
Laut | phonetische Repräsentation | außersprachlich | Substanz |
- Die lautliche Substanz ist die Menge aller phonetischen Eigenschaften aller Sprachlaute.
- Die psychische Substanz ist die Menge alles Gedachten.
Das Begriffspaar ‘Form vs. Substanz’ geht auf Aristoteles (morphḗ “Form” vs. húlē “Materie”) zurück. Wilhelm von Humboldt (1836) nannte es ‘Form vs. Stoff’. Ferdinand de Saussure (1916) und Louis Hjelmslev (1943) gründeten auf diesem Paar den europäischen Strukturalismus. Für sie ist die im Terminus ‘Strukturalismus’ gemeinte Struktur die sprachliche Form, während die Substanz eine "amorphe Masse" ist, die erst durch die Einzelsprache Form wird; so wie etwa Teig durch Plätzchenförmchen Form annimmt. Ohne Sprachzeichen gibt es weder artikulierten Laut noch Begriff.
Wir sehen je ein Beispiel für das Verhältnis von Form zu Substanz auf lautlicher und auf psychischer Seite. Der phonetischen oder lautlichen Substanz [maʦ] entsprechen im Japanischen und Deutschen zwei ziemlich verschiedene Significantia (/ma∙tɯ/ vs. /mats/), wie folgendes Schaubild verdeutlicht:
Phonetischer Laut | [maʦ] | ||
---|---|---|---|
/ | \ | ||
Japanisch | Deutsch | ||
“Kiefer” | “Bürschl” | ||
Phonologische Form | /ma∙tɯ/ | /mats/ |
Der vielleicht wichtigste Unterschied ist, daß das japanische Wort im phonologischen System zweisilbig ist,1 während dt. Matz jedenfalls einsilbig ist. Näheres hierzu in Phonetik und Phonologie.
Das folgende Beispiel verdeutlicht den Begriff der psychischen oder gedanklichen Substanz an einem Ausschnitt aus der lateinischen und deutschen Verwandtschaftsterminologie.
x4 ♂ | ∞ | x5 ♀ | y4 ♂ | ∞ | y5 ♀ | |
---|---|---|---|---|---|---|
↙↓↘ | ↙↓↘ | |||||
x2 ♂ | x3 ♀ | x1 ♂ | ∞ | y1 ♀ | y2 ♂ | y3 ♀ |
↓ | ||||||
EGO |
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|
Die bio-sozialen Verhältnisse sind ein Ausschnitt aus der Inhaltssubstanz. Sie nimmt in den Significata der lateinischen Verwandtschaftsterminologie eine Form an und in den Significata der deutschen eine andere.
Das Beispiel zeigt gleichzeitig, daß die Substanz nicht völlig amorph ist. Sie ist durchaus schon vorgegliedert und gibt insofern Grenzen der zwischensprachlichen Variation vor. Es bleibt aber wahr, daß die endgültige Form erst eine Angelegenheit der einzelnen Sprache ist.
Andere Beispiele für die einzelsprachliche Aufteilung vorsprachlicher Konzepte durch die Significata einer Sprache finden sich auf den Seiten über semantische Landkarten und über Farbterminologie.
Dieser Begriff von ‘Form’ ist wohl zu unterscheiden von zwei anderen Formbegriffen:
- Eine Form eines Wortes – eine Wortform – ist eine der flexivisch abgewandelten Formen, unter denen das Wort in Texten erscheint. Z.B. ist sängt eine Form des Verbs singen. Näheres zu diesem Formbegriff anderswo.
- Seit Bloomfield 1933 wird der Ausdruck Form auch in der Bedeutung ‘Significans (eines Sprachzeichens), Ausdruck’ gebraucht.
Der erste Begriff wird (wenn nicht ohnehin Wortform oder Flexionsform gesagt wird) normalerweise vom Kontext disambiguiert. Er ist übrigens nicht so weit von dem Begriff ‘Form’ i.Ggs.z. ‘Substanz’ entfernt. In der zweiten Bedeutung ist der Ausdruck Form überflüssig und sehr leicht zu vermeiden.
1 ∙ = Silbengrenze