Ebenen der Satzbedeutung

Wir grenzen den Begriff der Situation zunächst dadurch ein, daß wir seinen Platz in der zugehörigen Meronymie betrachten. Die Bedeutung / der Sinn einer Äußerung läßt sich auffassen als in mehreren Schichten nach dem Prinzip einer Zwiebel aufgebaut (Hengeveld 1989), so wie in folgendem Schaubild stark vereinfacht veranschaulicht:

Die rechts außen rot dargestellten Komponenten sind Operatoren, die sich mit den links von ihnen stehenden Komponenten als Operanden kombinieren und so die Einheit der jeweils nächst höheren Ebene ergeben.

Diese Meronymie ist heterogen. Denn von unten aufwärts bis zur modalisierten Proposition einschließlich kann man sich den Aufbau als eine schrittweise Komplexitätszunahme von Objekten derselben Art (nämlich Einheiten des Sprachsystems) durch zunehmende Einschachtelung in immer weitere Operatoren vorstellen. Aber wie anderswo erläutert, ist ein Sprechakt der Sinn einer Äußerung, und diese ist keine Einheit des Sprachsystems (der ‘langue’), sondern der Rede (‘parole’). Es ist jedoch nicht notwendig, diese Problematik hier zu vertiefen, denn an diesem Punkte kommt es nur darauf an, diejenigen semantischen Komponenten der Satzbedeutung auszugrenzen, die nicht zur Situation gehören. Das ist gemäß obigem Aufbau der Zeitbezug sowie alles, was mit Sprechakt, Illokution und Modalität zu tun hat. Da eine Situation in diesen Hinsichten nicht festgelegt ist, kann sie keinem bestimmten Sachverhalt in der Wirklichkeit entsprechen. Aus demselben Grunde hat sie keinen Wahrheitswert.

Situation

Eine Situation ist eine mentale Repräsentation (also natürlich nichts in der “physikalischen Wirklichkeit”), nämlich eine statische oder dynamische Konfiguration aus Situationsbeteiligten/Partizipanten (s.u.) mit ihren Eigenschaften und Beziehungen zueinander. Andere Termini, die für diesen Begriff benutzt werden, sind Sachverhalt (engl. state of affairs), Ereignis (engl. event) und Handlung. Diese Termini haben aber auch noch andere Bedeutungen. So ist ein Sachverhalt gemäß obigem Schaubild die Bedeutung eines mit Tempus versehenen finiten Satzes; und außerhalb der Linguistik ist es eine Art von Zustand. Ein Ereignis wiederum ist, wie im nächsten Abschnitt dargestellt, eine besondere Art von Situation, nämlich eine punktuelle. Ebenso ist eine Handlung eine agentive Situation (Vorgänge und Zustände sind keine Handlungen). Da die obigen Ebenen der Satzbedeutung jedenfalls auseinanderzuhalten sind, muß man, wenn man auf Termini wie ‘Sachverhalt’ und ‘Ereignis’ stößt, sich immer vergewissern, auf welcher dieser Ebenen das Gemeinte angesiedelt ist.1

Eine Situation wird im Prinzip durch einen Satz kodiert. Ein selbständiger Satz kodiert allerdings darüber hinaus noch die in §1 genannten höheren Operatoren. Will man diese ausblenden, kann man zur Versprachlichung einer puren Situation einen infiniten Satz anführen wie in dem englischen , für das ein Übersetzungsversuch ist (die Funktion der grammatischen Kategorie ‘Infinitheit’ ist eben, Situationen zu typisieren, will sagen, ihnen ihre Individualität zu nehmen).

. for Linda to sue Jack
. daß Linda gegen Hans prozessiere

Diejenigen Komponenten einer Situation, die als Entitäten konzipiert werden, heißen Situationsbeteiligte und, semantisch betrachtet, Partizipanten. Ein Partizipant kann statische oder dynamische Beziehungen zu einem oder mehreren anderen Partizipanten haben. Diese Beziehungen bilden ein Geflecht, welches das immaterielle Zentrum der Situation darstellt. Es heißt Situationskern.

Die wesentlichen semantischen Komponenten einer Situation sind von dreierlei Art:

  1. Eigenschaften des Situationskerns
  2. Eigenschaften der Partizipanten
  3. Relationen zwischen Partizipanten und Situationskern.

Die drei Arten von Komponenten können und müssen intellektuell getrennt werden. Im Aufbau der Sprache hängen sie aber eng zusammen, vor allem dadurch, daß die Relationen (#3) z.T. determiniert werden von den Eigenschaften (#1 und #2).

Partizipanten

Situationsbeteiligte werden als Partizipanten versprachlicht.2 Partizipanten werden strukturell als Dependenten des Prädikatskerns, also im einfachsten Falle als (lexikalische oder pronominale) Nominalsyntagmen (NSen) und Adpositionalsyntagmen umgesetzt. Eine Situation ist folglich das, was ein Prädikat mit seinen Dependenten (einschließlich des Subjekts) bezeichnet.

.es ist kalt

Was durch einen Satz wie bezeichnet wird, kann man im Prinzip als Situation ohne Partizipanten, also als bloßen Situationskern, analysieren. Das wäre jedenfalls ein Grenzfall einer Situation.

.Erna überreichte Erwin einen Pilz.

In gibt es drei Partizipanten, ‘Erna’, ‘Erwin’ und den ‘Pilz’. Der Situationskern wird durch die Verbform überreichte repräsentiert.

Gemäß dem zuvor Gesagten (Komponenten #2 und #3 oben) sind die Partizipanten zuächst auf zwei Dimensionen wesentlich charakterisiert und voneinander unterschieden:

  1. Sie haben bestimmte Eigenschaften, d.h. sie gehören semantischen Kategorien an.
  2. Sie tragen verschiedene semantische Rollen, die die Weise ihrer Beteiligung an der Situation bzw. ihre spezifische Beziehung zu den anderen Partizipanten verkörpern.

Die Eigenschaften haben die Partizipanten qua (separat konzipierbare) Entitäten, d.h. unabhängig von ihrer Beteiligung an einer Situation. Die wichtigsten sind auf der Empathiehierarchie systematisiert. So haben in z.B. die Partizipanten ‘Erna’ und ‘Erwin’ das Merkmal ‘menschlich’, der ‘Pilz’ jedoch das Merkmal ‘unbelebt’. Die semantische Rolle eines Partizipanten ist seine Funktion gegenüber dem Situationskern, in bestimmten Fällen auch gegenüber einem anderen Partizipanten. So ist in ‘Erna’ Agens, ‘Erwin’ Rezipient und der ‘Pilz’ Patiens. Die semantischen Rollen werden in einem separaten Abschnitt behandelt.

Situationskern

Der Situationskern ist, wie gesagt,das immaterielle Zentrum der Situation. Zu den Eigenschaften des Situationskerns gehören solche Konzepte, wie sie durch Aktionsarten, Adverbialien und Partikeln verschiedener Sorten sprachlich repräsentiert werden. Der Situationskern selbst wird sprachlich durch den Prädikatskern kodiert, also im einfachsten Falle durch ein Verb (in sue), sonst auch durch ein Appellativum oder ein Adjektiv. Situationskerne sind Begriffe.

Zeitstabilität

Die Begriffe, welche Situationskerne abgeben, lassen sich auf einer Skala der Zeitstabilitität (oder Dynamizität) anordnen (nach Givón 1984, ch. 3 und Lehmann 1992):

Es folgt je ein Beispiel für jede der Stufen der Skala:

Situationstyp
Beispiel
Klasseninklusion
Das Haus wird ein Palast sein.
Eigenschaft
Das Haus wird luxuriös sein.
Zustand
Das Haus wird baufällig sein.
durativer Vorgang
Das Haus wird brennen.
terminativer Vorgang
Das Haus wird verbrennen.
ingressives Ereignis
Das Feuer wird entbrennen.
punktuelles Ereignis
Das Feuer wird aufflammen.

Wie den Beispielen zu entnehmen ist, entsprechen den Situationstypen Prädikatsklassen wie Substantiv, Eigenschaftsadjektiv, Zustandsadjektiv, duratives/terminatives/ingressives/punktuelles Verb. Es gibt auch Operationen, die eine Prädikatsklasse in eine andere überführen; und wie die Beispiele zeigen, gibt es für einige davon im Deutschen Derivationsprozesse. Mehr dazu im Abschnitt über Aspektualität.

Kontrolle

Neben der Einteilung der Situationen nach Zeitstabilität steht eine Einteilung nach Kontrolle, also nach dem Kriterium, ob es einen Partizipanten gibt, der die Situation kontrolliert. Kontrolle ist eine Relation zwischen einem Partizipanten und einer Situation. Sie ist im Situationskern angelegt, inhäriert also diesem, nicht dem kontrollierenden Partizipanten. Z.B. setzt ein Situationskern wie ‘betrachten’ Kontrolle voraus (vgl. ); und andere Situationskerne wie ‘wachsen’ lassen sich nicht kontrollieren (vgl. ).3

.?Ich habe es versehentlich betrachtet.
.?Erna beschloß, nicht weiter zu wachsen.

Systematischer:

.?Erna lehnte es ab, weise zu sein.
.Erna kniet auf ihrem Gegner.
.Die Schuhe stehen/liegen in der Ecke.

Die allgemeinsten Situationstypen werden im folgenden durch Adjektive und Verben, die ihren Kern kodieren können, illustriert.

Kontrollierte und unkontrollierte Situationen
Situationstyp
Kontrolle
Eigenschaft Zustand Vorgang Ereignis
unkontrolliert weise naß gären sterben
kontrolliert sitzen laufen springen

Positur
Aktion
Akt

Die Unterteilung nach Kontrolle findet also im Prinzip nur innerhalb der dynamischen Situationen statt. Die Zustände – und zwar die Körperhaltungen – bilden eine Übergangszone zwischen den nicht-kontrollierbaren und den kontrollierbaren Situationen.

Der deutsche Terminus Handlung ist zweideutig zwischen ‘Aktion’ und ‘Akt’; daher ist dort, wo es auf den Dynamizitätsgrad ankommt, einer dieser beiden vorzuziehen. Ferner läßt sich eine Opposition zwischen Vorgang (normalerweise = Prozeß) und Aktion konstruieren. ‘Vorgang’ wäre dann nicht der Oberbegriff für ‘Aktion’, sondern wäre unkontrolliert i.Ggs.z. ‘Aktion’.

Kontrolle wächst, je zu einem gewissen Grade, einzelnen Partizipanten aus dem Prädikatskern zu und wird daher in dem betreffenden Abschnitt auch als deren Funktion behandelt.

Spezifischere Situationstypen

Spezifischere Situationstypen werden durch Kombination einer Stufe der Zeitstabilität mit einer Menge von Partizipanten mit definierten Kontrollrelationen konzipiert (Lehmann 2015). Einige davon kommen im Zusammenhang mit den semantischen Rollen zur Sprache.


1 In Andrade 1955, § 4.1 wird genau wegen dieser terminologischen Aporie der Neologismus occurrent eingeführt.

2 Der Unterschied zwischen ‘Partizipant’ und ‘Situationsbeteiligter’ ist der folgende: Der Situationsbeteiligte ist eine kognitive, sprachunabhängige Entität (etwas, was auch Tiere konzipieren können); ein Partizipant ist eine Versprachlichung davon, derart daß die Art der Beteiligung dieser Entität an der Situation auf eine der (ebenfalls sprachlichen) semantischen Rollen zurückgeführt ist. Es gibt Gelegenheiten, wo dieser Unterschied relevant ist (s. z.B. Lehmann 2006[Participant roles]; in den meisten Zusammenhängen genügt es aber, von Partizipanten zu sprechen.

3 Die in eingebauten Kontexte lassen sich als Testrahmen für Kontrolle verwenden.

Literaturhinweise

Andrade, Manuel J. 1955, A grammar of Modern Yucatec. Chicago: University of Chicago Library (Microfilm Collection of Manuscripts on Middle American Cultural Anthropology, 41).

Givón, Talmy 1984, Syntax. A functional-typological introduction. Vol. I. Amsterdam & Philadelphia: J. Benjamins.

Hengeveld, Kees 1989, "Layers and operators in Functional Grammar." Journal of Linguistics 25:127-157.

Lehmann, Christian 1992, "Deutsche Pradikatklassen in typologischer Sicht." Hoffmann, Ludger (ed.), Deutsche Syntax. Ansichten und Aussichten. Berlin & New York: W. de Gruyter (Institut fur Deutsche Sprache, Jahrbuch 1991); 155-185.