In bezug auf die zweifache Gliederung sprachlicher Ausdrücke unterscheiden sich Phonetik und Phonologie gemeinsam von anderen (linguistischen) Disziplinen dadurch, daß sie sich auf die Ebene der zweiten Gliederung konzentrieren. Beide Disziplinen haben mit Sprachlauten zu tun, handeln also von distinktiven, nicht von signifikativen Einheiten. Allerdings sind, wie die folgende Tafel zeigt, von den phonetischen Unterschieden, die gemacht werden können, nicht alle distinktiv:

Die Tabelle handelt von Variationen in der Aussprache des deutschen Wortes Pacht. In der zweiten Spalte ist die der hochdeutschen Norm entsprechende Aussprache des Wortes in Isolation dargestellt. In den vier Zeilen der Tabelle wird nacheinander jedes der vier Segmente des Wortes minimal modifiziert, und zwar auf zwei systematisch verschiedene Weisen:

  1. Die dritte und vierte Spalte zeigen eine Änderung eines lautlichen Merkmals, die verschiedene Auswirkungen hat: In Zeile 1 und 3 entsteht eine nicht normgerechte, aber z.B. im Deutschen von Ausländern beobachtbare Aussprache. In Zeile 2 liegt eine in Dialekten auftretende und noch mit der Norm verträgliche Aussprachevariante vor. Die in Zeile 4 dargestellte Aussprache schließlich ist die Variante, die in Wörtern wie z.B. Pachtzins auftritt.
  2. Die letzten beiden Spalten zeigen eine Änderung eines Merkmals desselben Lauts, die die Identität des Wortes zerstört. In Zeile 1 – 3 entsteht durch die Merkmalsänderung ein anderes deutsches Wort. In Zeile 4 dagegen ergibt sich kein deutsches Wort (oder allenfalls eine nicht normgerechte Aussprache des Wortes Park).

Änderungen in Spaltengruppe 1 verändern das Wort als Sprachzeichen nicht, wohl aber Änderungen in Spaltengruppe 2.

Die vierte und sechste Spalte benennen jeweils das Merkmal, dessen Wert geändert wird. Die Merkmale selbst sind Gegenstand eines eigenen Kapitels. Im Moment ist nur wichtig, daß die Merkmalsänderungen der zweiten Gruppe lautlich um nichts durchgreifender sind als die der ersten Gruppe; hier wie dort handelt es sich um minimale Änderungen. Besonders bedeutsam ist, daß sogar eine Veränderung ein und desselben Merkmals, nämlich [± hinten], von dem einen Laut eine bloße Variante (Z. 2, Sp.gr. 1), von dem anderen Laut jedoch eine andere Einheit des Lautsystems (Z. 4, Sp.gr. 2) ergibt. Es ist also nicht die schiere lautliche Natur der Veränderungen, die dafür verantwortlich ist, daß im ersten Falle bloß Varianten, im zweiten Falle jedoch andere Sprachlaute auftreten. Vielmehr ist das durch das deutsche Sprachsystem so festgelegt. Wie auch anderswo erwähnt, legen andere Sprachsysteme andere Wertigkeiten derselben Lautmerkmale fest. Lautliche Einheiten und Merkmale, die Bedeutungen unterscheiden können, sind in der betreffenden Sprache distinktiv; solche, die das nicht können, sind nicht distinktiv.

Die beiden Disziplinen der Phonetik und der Phonologie kann man nun durch die Perspektive, die sie auf solche Daten nehmen, unterscheiden. Die Phonetik behandelt alle sprachlichen Laute, gleichgültig ob sie in einer gegebenen Sprache distinktiv sind. Die Phonologie dagegen konzentriert sich auf solche Laute, die in einer gegebenen Sprache distinktiv sind, und auf die innersprachliche Systematik ihrer Unterschiede. Schematisch kann man die beiden Disziplinen wie folgt einander gegenüberstellen:

Mit bezug auf den (anderswo eingeführten) Gegensatz zwischen Form und Substanz in der Sprache läßt sich sagen: Phonetik handelt von der lautlichen Substanz, Phonologie von der Form der Laute.

Die beiden Disziplinen nehmen also unterschiedliche Perspektiven auf denselben Gegenstand. Ihnen ist auch gemeinsam das vorrangige Interesse an den lautlichen Unterschieden, die gemacht werden (können). Es ist nämlich nicht möglich, ein vollständiges Inventar der in den Sprachen vorkommenden lautlichen Einheiten aufzustellen. Aber das Inventar ist auch für das Funktionieren menschlicher Sprache nicht wichtig; wichtig ist, daß Unterschiede gemacht werden können.

Die Termini ‘Phonetik’ und ‘Phonologie’ werden außerhalb dieser Disziplinen oft falsch verwendet:

Die Fehler haben damit zu tun, daß die Phonetik ein Jahrhundert älter als die Phonologie und auch wegen ihrer Praxisbezogenheit in der Öffentlichkeit besser bekannt ist.