8.1. Einführung

8.1.1. Begriff des Merkmals

Allgemeines zum Begriff des sprachlichen Merkmals und zu seiner Funktion in der Linguistik im Abschnitt über das Sprachsystem.

8.1.2. Diskretheit vs. Kontinuität

Was in Einheiten zerfällt, die durch kategoriale Unterschiede gegeneinander abgegrenzt sind, ist diskret. Was graduell voneinander verschieden ist und daher nicht in abgrenzbare Einheiten zerfällt, ist kontinuierlich.

Auf den ersten Blick scheinen einige phonetische Eigenschaften diskret, andere kontinuierlich zu sein. Z.B. hat Nasalität zwei Werte: oral vs. nasal, und wirkt daher diskret. Vokalhöhe dagegen kann verschiedene und verschieden viele Werte annehmen, und die Artikulationsstelle eines Konsonanten kann im Prinzip an jeder Stelle im Artikulationsraum liegen. Die Werte solcher Parameter sind deutlich Abschnitte auf einem Kontinuum.

Tatsächlich sind alle phonetischen Eigenschaften kontinuierlich. Ein Vokal kann zu verschiedenen Graden zwischen 0 und 100% nasaliert sein, und tatsächlich unterscheiden sich Sprachen auch in diesem Punkt. Phonetische Eigenschaften sind kontinuierlich, weil die Artikulation ein kontinuierlicher Prozeß ist. Die Kontinuierlichkeit phonetischer Größen ist also dem lautlichen Medium geschuldet und sehr wahrscheinlich nicht in sich funktional. Jedenfalls haben wir mit der diskreten Repräsentation von Significantia (in der Schrift oder in EDV) keine Schwierigkeiten, obwohl sie gegenüber der lautlichen Repräsentation sekundär ist.

Die Universalität menschlichen Sprachlauts liegt in der Universalität von Schallwellen und Artikulationsorganen sowie in der Universalität systematischer Diskretheit. Letztere waltet auf der paradigmatischen Achse, indem sie aus kontinuierlicher Variation Opposition macht, und auf der syntagmatischen, indem sie zu linearer Segmentierung und zu Kontrast zwischen den Segmenten führt.

Menschliche Kategorisierung involviert (schafft, setzt voraus) Diskretheit; ich erinnere nochmals an das Beispiel des Stimmeinsatzpunktes. Paradigmatische und syntagmatische Diskretheit bedingen einander. Sie sind auch die Voraussetzung für die Erfindung des Alphabets.

8.2. Akustische vs. artikulatorische vs. auditive Merkmale

Wir haben es mit drei Arten phonetischer Merkmale zu tun: artikulatorischen, akustischen und auditiven. Werden Sprachlaute nach artikulatorischen Gesichtspunkten klassifiziert, so sind die relevanten Merkmale Aspekte der jeweiligen Phonations- und Artikulationsbewegung. Z.B. verkörpert das Merkmal [± stimmhaft] die Alternative, bei der Phonation entweder die Stimmbänder in Vibration zu versetzen oder dies zu unterlassen; und entsprechend verkörpert das Merkmal [± nasal] die Alternative, bei der Artikulation entweder das Velum zu senken oder es gehoben zu halten.

Werden Sprachlaute nach akustischen Gesichtspunkten klassifiziert, so sind die relevanten Merkmale Aspekte der Schallwelle, so wie in Oszillogrammen, Sonagrammen usw. darstellbar. Z.B. verkörpert das Merkmal [± kompakt] die Alternative, ob F1 und F2 eng beieinanderliegen oder nicht; und [± sibilant] verkörpert die Alternative, ob F4 am Maximum ist oder nicht.

Werden Sprachlaute nach auditiven Gesichtspunkten klassifiziert, so sind die relevanten Merkmale Aspekte des Schalles, so wie von Menschen wahrgenommen. Z.B. verkörpert das Merkmal [± dunkel] die Alternative, ob der Laut relativ dunkel klingt oder nicht; und das Merkmal [± kontinuant] verkörpert die Alternative, ob der Laut andauert oder abrupt ist.

Mit jeder der drei Mengen von Merkmalen lassen sich Sprachlaute beschreiben. Faktisch haben sie in der Geschichte der Disziplin eine sehr unterschiedliche Rolle gespielt. Zu Beginn der Phonetik im 19. Jh. waren Merkmale ausschließlich artikulatorisch definiert. Die technischen Voraussetzungen für eine präzise Messung akustischer Eigenschaften ergaben sich erst in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jh. Auditive Beschreibungen von Sprachlauten existieren auf vorwissenschaftlicher, impressionistischer Ebene. Sie werden wissenschaftlich nur genutzt, insoweit sie mit akustischen Messungen operationalisierbar sind.

Die drei Typen von Merkmalen sind in ihrer Definitionsbasis voneinander unabhängig. Insoweit ist von vornherein nicht damit zu rechnen, daß jedes Merkmal des einen Typs reinlich auf ein Merkmal jedes der beiden anderen Typen abbildbar sein wird, daß also etwa das artikulatorische Merkmal [hinten] und das auditive Merkmal [dunkel] dieselben Klassen von Sprachlauten bilden werden. Da jedoch Artikulation, Akustik und Audition nur alternative Perspektiven auf die Sprachlaute sind, achten die Phonetiker normalerweise darauf, daß ein akustisches Merkmal artikulatorische und auditive Korrelate habe, und entsprechend für die anderen Typen. So wird die relative Höhe von F2 bei Vokalen deshalb zum Merkmal erhoben, weil sie mit einem hellen vs. dunklen auditiven Eindruck korreliert und weil dem artikulatorisch die vordere vs. hintere Zungenstellung entspricht. Die von Ladefoged definierten phonetisch-phonologischen Merkmale sind in dieser Hinsicht völlig repräsentativ.1

Das Verhältnis der auditiven und artikulatorischen Merkmale zueinander ist komplex. Einerseits steht die Artikulation auf einer niedrigeren Stufe der Funktionenhierarchie als die Audition, denn letztere richtet sich unmittelbar auf das wahrnehmbare Medium, in welches Gedanken zum Zwecke der Kommunikation umgesetzt werden, während erstere ein Mittel ist, die gewünschten Wahrnehmungen zu erzeugen. Tatsächlich sind häufig artikulatorische Eigenschaften den auditiven in einer mehr-eindeutigen Relation untergeordnet. Z.B. ist das auditive Merkmal [flat] artikulatorisch als gerundet oder pharyngalisiert realisierbar. [+sanft, +dauernd] läßt sich sowohl durch [f] als auch durch [θ] realisieren.

Andererseits verselbständigt sich die Artikulation gegenüber ihrem Ziel (dem jeweiligen auditiven Target), weil die Anatomie ihre eigenen Gesetze von Effizienz und Trägheit hat. Zahlreiche Veränderungen von Sprachlauten, z.B. Assimilationen, lassen sich nur verstehen als durch ihre artikulatorischen Eigenschaften bedingt. Ihre Beschreibung erfordert daher auch die Verwendung von Merkmalen, die - wenn sie schon nicht artikulatorisch definiert sind - wenigstens artikulatorische Korrelate haben.

8.3. Distinktive Merkmale

Jakobson & Halle (1956) stellten eine Menge von 12 distinktiven Merkmalen auf, die auditiv/akustisch fundiert waren und universaliter zur Sprachbeschreibung ausreichen sollten. Sie sind im Saussureschen Sinne relativ konzipiert. Z.B. erkennt man einen kompakten Laut in einer gegebenen Sprache nicht an irgendwelchen absoluten Frequenzbändern, sondern (paradigmatisch) daran, daß er kompakter ist als die diffusen Laute desselben Sprachsystems, und (syntagmatisch) daran, daß er kompakter ist als die diffusen Laute im Kontext.

Ein Merkmal ist distinktiv, wenn es Phoneme unterscheidet; andernfalls ist es redundant (vgl. das Beispiel der Varianten von Pacht). Es gibt nach Roman Jakobson (z.B. Jakobson & Waugh 1979) eine universale Menge phonetischer Merkmale, von denen jede Sprache für ihr phonologisches System eine Teilmenge als distinktiv auswählt, während die anderen redundant sind oder überhaupt nicht vorkommen.

8.4. Testfragen und Übungsaufgaben

  1. (1 P.) Inwiefern ist der Unterschied zwischen [i] und [ɛ kontinuierlich?
  2. (1 P.) Was ist das syntagmatische Gegenstück von Opposition?
  3. (1 P.) Illustrieren Sie anhand eines Beispiels, wie ein phonetisches Merkmal Klassen von Sprachlauten bildet.
  4. (2 P.) Geben Sie je ein Beispiel (in Form eines Merkmals) für einen zur hochdeutschen Norm gehörenden phonetischen Unterschied, der distinktiv bzw. nicht distinktiv ist.
  5. (1 P.) Ist die Assimilation artikulatorisch, akustisch oder auditiv zu erklären?
  6. (1 P.) Ist das Merkmal [± aspiriert] im Deutschen distinktiv oder redundant?
  7. (2 P.) Wieso ist die diskrete Kategorisierung der Sprachlaute die Voraussetzung für die Erfindung des Alphabets?
  8. (3 P.) Erläutern Sie anhand der Stimmhaftigkeitsopposition im Deutschen den Grundsatz, daß Laute bestimmte Merkmalswerte nicht absolut, sondern relativ besitzen.
  9. (6 P.) Beschreiben Sie die folgenden deutschen Phone durch die Werte von je 10 Merkmalen nach Ladefoged: [χ], [ɛ], [ŋ].

Folgende Arten von Übungen lassen sich zu zweit machen:


1 Die Merkmale in der Tabelle werden “phonetisch-phonologisch” genannt, weil sie in der Tat im Hinblick auf diese Unterscheidung hybride sind: Ladefoged übernimmt Merkmale, die in der Phonologie konzipiert worden sind, und versucht, deren phonetische Korrelate anzugeben. Symptome für dieses Vorgehen sind sein Kommentar zu Merkmal 20 sowie die Tatsache, daß die physikalische Skala für mehrere der Merkmale (z.B. 15/19, 7/12/15) dieselbe ist oder sein könnte.– Auch diese umfassende Liste ist unvollständig. Z.B. fehlen die Merkmale [tense/lax] und [long/short].