Entwicklungsstufen

Während für die gesprochene Sprache die Alternative von Monogenese vs. Polygenese offen ist, ist die Schrift an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unabhängig entstanden. Dies gilt jedenfalls in bezug auf das jeweils verwendete historische Schriftsystem. Ob die Ägypter oder die Chinesen durch Kontakt mit den Sumerern auf die Idee der schriftlichen Kommunikation gekommen sind, ist eine andere, nicht mehr zu klärende Frage. Immer wo ein Volk die Schrift ohne Einfluß von einer schon existierenden alphabetischen Schrift erfand, nahm das Schriftsystem die gleiche Entwicklung über die folgenden vier Stufen:

Piktographie (Bilderschrift)

Ein Bildzeichen (Piktogramm) repräsentiert einen ganzen Gedanken. Sprachliche Form wird nicht wiedergegeben.

Logographie (Begriffsschrift)

Ein Schriftzeichen (Logogramm) repräsentiert einen Begriff. Phonologie und Morphologie werden nicht wiedergegeben, aber das einzelne Schriftzeichen entspricht einer Wortform, und ihre Reihenfolge entspricht der Syntax.

Silbenschrift (Syllabographie)

Ein Silbenzeichen repräsentiert eine Silbe der gesprochenen Sprache. Phonologie und Morphologie werden mit einer Genauigkeit wiedergegeben, die von der Silbenstruktur der Sprache und dem Ausbau des Schriftsystems abhängt.

Alphabetische Schrift

Ein Buchstabe repräsentiert einen Laut. Die Grammatik wird genau wiedergegeben, die Phonologie in dem Maße, in dem die Zuordnung zwischen Buchstaben und Lauten eindeutig ist.

Dies sind systematische Stufen, denen reale Schriftsysteme sich in unterschiedlichem Grade annähern und die natürlich auch nicht von jedem historischen Schriftsystem bis zu Ende durchlaufen worden sind. Wo ein System historisch von einer Stufe zur nächsten übergeht, gibt es Zwischenformen, die teilweise hochgradig unsystematisch sind.

Von der Piktographie zur Logographie

Ein piktographisches entwickelt sich zu einem logographischen System dadurch, daß ein komplexer Gedanke in seine begrifflichen Bestandteile zerlegt wird. Damit geht eine Normierung der Schriftzeichen einher: Während das Piktogramm die individuellen Eigenschaften der dargestellten Situation wiedergeben kann, ist es bei der Logographie ein Inventar fester Begriffe, aus denen alle denkbaren Situationen sich zusammensetzen. Die logographische Schrift ist nicht sehr sprachspezifisch und dient daher, z.B. heute noch in China, zur Verständigung zwischen Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen.

In zahlreichen Sprachen erinnert die Etymologie des Wortes für ‘schreiben’ an den handwerklichen und piktographischen Ursprung dieser Tätigkeit. So hängt engl. write etymologisch mit dt. ritzen zusammen. Dt. schreiben dagegen ist von lat. scribere “schreiben” entlehnt, welches mit griech. gráphein verwandt ist. Dieses wiederum bedeutet außer “schreiben” auch “ritzen” und “malen”. Yukatekisch ts'íib bedeutet “schreiben” und “malen”.

Der Wandel von der Piktographie zur Logographie ist in der Geschichte mehrfach vorgekommen. Am besten bezeugt ist er für die chinesische und die sumerische Schrift. Die folgende Abbildung zeigt die Konventionalisierung einiger sumerischer Schriftzeichen (etwa -3.500 - -3.000):

Die folgende Abbildung zeigt denselben Prozeß für die chinesische Schrift (ca. -2.000 - -1.000).

Von der Logographie zur Silbenschrift

Soll die Logographie synonyme Wörter auseinanderhalten oder verschiedene morphologische Formen eines Worts wiedergeben, müssen Zusatzzeichen, sog. Determinative verwendet werden, die auf die Lautform des Wortes hinweisen. Sollen Begriffe wiedergegeben werden, für die kein bildhaftes Schriftzeichen zur Verfügung steht, so werden Logogramme von homophonen oder ähnlich klingenden Wörtern gebraucht. Es entsteht eine hybride Übergangsform zur Silbenschrift.

Ein Schriftzeichen kann nun uminterpretiert werden vom Zeichen für einen Begriff zum Zeichen für die lautliche Form eines Worts. Hier kippt das Schriftsystem um von der Begriffsschrift zur Lautschrift. Das Schriftzeichen steht dann nicht mehr für die Wortbedeutung, sondern für eine Silbe. Nun ist die Silbenschrift erreicht.

Von der Silbenschrift zum Alphabet

In vielen Sprachen ist das Inventar an Silben größer als das an Silbenzeichen. Oft wird eine Menge von Silben, die sich im Vokal unterscheiden, durch ein einziges Silbenzeichen wiedergegeben. Daneben gibt es Zeichen für Silben, die bloß aus einem Vokal bestehen.

Noch werden Vokale in konsonantisch eingeleiteten Silben nicht eigens repräsentiert. Diese Stufe ist die einer Konsonantenschrift, wie sie etwa in der hebräischen Schrift vorliegt. Jedoch können die Silbenzeichen nun uminterpretiert werden zu Zeichen, die für einzelne Konsonanten bzw. Vokale stehen, und zwar nach dem Prinzip der Akrographie. Damit ist die Stufe der Buchstabenschrift erreicht.

Weiterentwicklung des Alphabets

Buchstabenschriften unterscheiden sich in dem Grade, in dem sie die Einzelheiten der lautlichen Form wiedergeben. Die Entwicklung geht hier im allgemeinen nicht hin zu größerer Genauigkeit, und zwar i.w. aus zwei Gründen:

Das Beispiel der romanischen Sprachen zeigt, daß nur diejenigen wie das Spanische, die in jüngerer Zeit eine Orthographiereform durchgeführt haben, eine einfache Entsprechung von Laut und Schrift aufweisen, während andere, notabene das Französische, im Laufe der Jahrhunderte eine sehr unsystematische Orthographie bekommen haben.

Das folgende Schaubild zeigt, wie die alphabetischen Schriften auseinander entstanden sind.

Aus verschiedenen Gründen sind Schriftsysteme konservativer als Lautsysteme. Eine Alphabetschrift macht nicht von allein den Lautwandel mit. Z.B. hat der Umlaut von dt. /au/ ehemals regelmäßig [ɛu] gelautet und wurde daher <eu> bzw. <äu> geschrieben. Schon seit mehreren Hundert Jahren lautet er [ɔy]; aber die Schrift nimmt davon bis heute keine Notiz. Als Folge davon entfernt sich eine Alphabetschrift im Laufe der Zeit immer mehr von ihrer ursprünglichen Funktion, das Significans zu repräsentieren. Sie wird von allein morphophonemisch.

Gelegentlich helfen Linguisten in diesem Sinne nach. Sie führen etymologische (statt phonologischer) Schreibung ein; und wenn sie sich in der Etymologie täuschen, führen sie manchmal auch pseudo-etymologische Schreibung ein. Die folgenden Tabellen zeigen einige Beispiele: