Die Aufgabe der Sprache ist es, unbeschränkt Sinn zu erzeugen. Es muß daher möglich sein, bedeutungstragende Ausdrücke zusammenzusetzen aus schon bekannten Ausdrücken derart, daß die Bedeutung des Komplexes sich aus den Bedeutungen der Bestandteile unter Anwendung von Kombinationsregeln ableiten läßt. Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ist kompositionell in dem Maße, in dem sie sich nach Regeln aus den Bedeutungen der Bestandteile ergibt. In dem Maße, in dem das nicht der Fall ist, ist die Bedeutung des komplexen Ausdrucks idiomatisch.

Das Kompositum Weberknecht bezeichnet eine sonst auch Schneider genannte größere Hausspinne. Diese Bedeutung ist hundertprozentig idiomatisch und nicht im mindesten kompositionell, denn gegeben die Bedeutungen der Bestandteile und die Regeln der Komposition, müßte das Kompositum den Knecht eines Webers bezeichnen. Seine tatsächliche Bedeutung hat damit nichts zu tun, ist also auf keine Weise ableitbar. Wer das Wort erstmals ohne Kontext hört, hat keine Chance zu wissen, was es bezeichnet.

Das Kompositum Weberaufstand bezeichnet einen Aufstand von Webern. Das Determinans des Kompositums hat gegenüber dem Determinatum die Funktion des Agens, ganz ebenso wie das Genitivattribut in der Konstruktion Aufstand der Weber. Diese paradigmatische Entsprechung besteht in hunderten gleichartiger Komposita wie Sklavenaufstand, Gefangenenrevolte, Studentenprotest usw. Das heißt, die Bedeutung dieses Kompositums ist so kompositionell wie möglich. Wer es erstmals ohne Kontext hört, leitet sich zwanglos das Gemeinte selbst her.

Das Kompositum Weberschiffchen bezeichnet ein mit der Hand durch das Gewebe geführtes Stäbchen, das zum Weben gebraucht wird. Nach der allgemeinen Regel deutscher Komposition müßte es ein “Schiffchen, das auf einen Weber bezogen ist” bezeichnen. Nun bezeichnet es immerhin einen Gegenstand, der auf einen Weber bezogen ist. Und auch die beiden Morpheme von Schiffchen sind mindestens insoweit motiviert, als der Gegenstand in der Aufsicht denselben Umriß wie ein Schiff hat und auch metaphorisch durch das Gewebe fährt und als er zweitens klein ist, etwa wie ein Miniaturschiff. Das Kompositum ist also motiviert, wenn sich seine Bedeutung auch nicht hundertprozentig kompositionell ergibt. Wer es erstmals ohne Kontext hört, kann vermuten, daß es sich um ein Werkzeug zum Weben handelt, das irgendwie einem Schiff ähnelt.

Die Beispiele haben gezeigt, daß Kompositionalität vs. Idiomatizität einer Bedeutung keine kategorische, sondern eine graduelle Unterscheidung ist. Lexeme unterscheiden sich im Grade ihrer Kompositionalität. Den größeren Zusammenhang, in den diese Variation sich einordnet, stellt folgendes Schaubild dar:

Lexikon und Grammatik

Die Grammatik ist der Ort der Kompositionalität, das Lexikon ist der Ort der Idiomatizität. Wortbildung – also auch die an den Beispielen gesehene Komposition – trägt etwas Kompositionalität in das Lexikon hinein. Abgesehen davon sind es jedoch die Syntax und die Flexion, wo wir hundertprozentige Kompositionalität der Bedeutung komplexer Einheiten erwarten. Dies zeigt auch das Beispiel Knecht eines Webers. Dieser Ausdruck ist (abgesehen von dem Nomen agentis Weber, dessen Bildung hier übergangen wird) gänzlich mit Regeln der Flexion und der Syntax gebildet, und seine Bedeutung ist auf Basis der Bedeutungen der Bestandteile und seiner Struktur hunderprozentig vorhersagbar.

Das Schaubild stellt einen graduellen Unterschied dar. Es gibt im Lexikon neben den total idiosynkratischen Einheiten wie Knecht und Weberknecht auch solche wie Weberaufstand, die weitgehend kompositionell sind. Und andererseits gibt es in der Syntax neben Fügungen wie Knecht eines Webers, wo die Bedeutungsstruktur der Ausdrucksstruktur entspricht, auch solche wie die Nase voll haben, die eine regelmäßige Ausdrucksstruktur haben, welche aber mit der Struktur ihrer Bedeutung wenig oder nichts zu tun hat. Solche Fügungen heißen idiomatische Ausdrücke. Sie sind eine Teilmenge der Phraseologismen, das sind syntaktische Fügungen, die Lexikoneinträge sind. Zeichen, deren Bedeutung sich nicht kompositionell ergibt, müssen Bestandteile des Inventars sein. Sind sie das nicht, kann es, wenn die Pragmatik nicht zuhilfe kommt, passieren, daß sie nicht verstanden werden.

Die Rolle der Kompositionalität in der Interpretation einer Äußerung kann systematisch so beschrieben werden:

  1. Der Interpret identifiziert den der Äußerung zugrundeliegenden sprachlichen Ausdruck.
    1. Er nimmt einen ganzheitlichen Ansatz, sucht also den gesamten Ausdruck im Inventar.
    2. Auf die Bestandteile, die nicht im Inventar sind, nimmt er den analytischen Ansatz und erschließt sich ihre Bedeutung kompositionell.
  2. Auf die durch Analyse erschlossenen Bestandteile wendet er rekursiv wieder Schritt #1 an.
  3. Er nimmt bei alldem immer die Sprechsituation (inkl. Kontext und Weltwissen) zur Interpretation zuhilfe.

Der Schritt #1.b wird von der Semantik, der Schritt #3 von der Pragmatik nachvollzogen.

Zur Vermeidung von Verwirrung ist schließlich darauf hinzuweisen, daß die Termini Komposition und Kompositionalität, wiewohl sie natürlich dieselbe Etymologie haben, Begriffe bezeichnen, die nichts miteinander zu tun haben. Komposition ist die Wortbildungsoperation, die zwei Stämme zu einem komplexen Stamm zusammenfügt. Kompositionalität ist die Eigenschaft eines komplexen Ausdrucks, eine aus seinen Bestandteilen und deren Kombination ableitbare Bedeutung zu haben. Ein durch Komposition gebildeter Ausdruck kann, wie oben gesehen, eine mehr oder minder kompositionelle Bedeutung haben.