Raumorientierung ist in erster Linie eine kognitive Leistung, die es einem Lebewesen ermöglicht, sich und andere im physikalischen Raum zu situieren und zu bewegen. Physikalisch betrachtet, besteht dieser Raum aus den drei Dimensionen der Horizontalen, Vertikalen und Transversalen sowie fallweise der Dimension der Zeit. Die letztere liegt zwar einer weiteren kognitiven Domäne, nämlich der zeitlichen Orientierung, zugrunde. Aber Raumorientierung ist wesentlich entweder statisch oder dynamisch; und im letzteren Falle bezieht sie eben die zeitliche Dimension mit ein.
Die Konzepte und Operationen, die die räumliche Orientierung ausmachen, werden in den Sprachen der Welt in Ausdrücke mit ihren lexikalischen und grammatischen Strukturen umgesetzt. Dieses geschieht in jeder Sprache auf besondere Weise. Raumkonstruktion ist die Abteilung des Sprachsystems, welche die Raumorientierung kodiert.
Unter den diversen kognitiv-kommunikativen Domänen, welche ein Sprachsystem ausmachen, hat die Raumkonstruktion mit anderen wie der Partizipation die Gemeinsamkeit, daß ihr ein nicht-sprachliches Substrat zugrundeliegt, daß sie also nicht rein sprachlich begründet ist. Das unterscheidet sie von anderen funktionalen Domänen wie der der Referenz oder der Informationsstruktur, die es ohne Sprache überhaupt nicht gäbe. Zur Raumorientierung dagegen sind bereits niedere Tiere in der Lage. Dieses außersprachliche Substrat gibt gleichzeitig die universale Basis der Raumkonstruktion in den Sprachen der Welt ab. Das heißt freilich nicht, daß die Raumkonstruktion in allen Sprachen auf dieselbe Weise stattfände.
Das zentrale Problem bei der räumlichen Orientierung ist es, einen Gegenstand im dreidimensionalen Raum zu verorten. In der Geometrie wird es bekanntlich durch ein System von Koordinaten gelöst, die im rechten Winkel aufeinander stehen und sich im Nullpunkt des Systems schneiden. Dazu gibt es eine Maßskala, die auf jeder der Koordinaten abgetragen wird. Ein Gegenstand wird dadurch lokalisiert, daß man für jede der drei Koordinaten die Entfernung vom Nullpunkt angibt.
Dieses System ist für die Orientierung von Lebewesen im Raum aus mehr als einem Grunde kaum zu brauchen. Nur zwei Grundideen davon werden normalerweise übernommen: Erstens, man braucht so etwas wie einen Nullpunkt, also einen Punkt, der samt seiner Lokalisation vorausgesetzt wird und mit Bezug auf welchen andere Gegenstände verortet werden. Zweitens, für viele Zwecke genügt es nicht, einen Gegenstand nur nach einer Dimension zu verorten; im Extremfall muß man seinen Ort in drei Beziehungen angeben können.
Eine räumliche Situation ist jedenfalls eine Situation. Sie hat also Partizipanten. Das sind im Falle einer räumlichen Situation die folgenden:
Das deiktische Zentrum ist für eine räumliche Situation nicht definitorisch, sondern es ist, wenn ein Mensch sich sprachlich oder nicht-sprachlich im Raum orientiert, sowieso allgegenwärtig und steht als Bezugspunkt immer zur Verfügung. Es tritt auch nicht notwendigerweise als Partizipant einer räumlichen Situation eigens in Erscheinung, sondern bleibt oft implizit im Hintergrund. Man braucht es nur für das Verständnis der Raumkonstruktion; darauf kommen wir unten zurück. Gleichzeitig dient es in analoger Weise auch als Zentrum für alle anderen Arten der Deixis.
Das Locatum ist für eine räumliche Situation konstitutiv und unabdingbar. Im minimalen Falle gibt es überhaupt nur diesen Partizipanten, und die räumliche Situation reduziert sich dann darauf, daß das Locatum (im Raum) existiert. Eine solche Feststellung ist eine Existenzprädikation. Im Deutschen hat sie eine Form wie ‘X existiert’, ‘es gibt ein X’ oder ‘da ist X’. Hier findet also noch keine Verortung statt. Um das Locatum wirklich zu lokalisieren, braucht man ein Relatum.
Wir nehmen zunächst an, daß das Relatum ein Gegenstand ohne Struktur, also bloß ein Punkt auf der Ebene ist. Die Aufgabe sei z.B., ein Auto (Locatum) mit Bezug auf einen Fahnenmasten (Relatum) zu verorten. Dann kann man sagen ‘das Auto steht am Fahnenmast’, ‘es steht nahe beim Mast’, ‘es steht fern vom Mast’, ‘es steht in einer Entfernung von 5,50 m vom Mast’. Wie man sieht, kann man das Auto gleichsam in einem von zahllosen konzentrischen Kreisen um den Mast herum verorten. Wenn das Relatum nicht eindimensional, sondern ein – immer noch strukturloser – zwei- oder dreidimensionaler Gegenstand wie ein Kreis oder eine Kugel ist, besteht auch noch die Möglichkeit, daß das Locatum sich im Relatum befindet. Solche Verortung, wo die Eigenstruktur des Relatums außer Betracht bleibt, nennt man topologische Verortung. Ein jeder Gegenstand, der sich im physikalischen Raum befindet, schafft durch seine bloße Gegenwart topologische Regionen um sich herum wie sein Inneres, sein Äußeres, die Nähe und die Ferne zu ihm.
Dasselbe gilt auch für das deiktische Zentrum, wenn es als Relatum dient. Z.B. wird in dem Satz ‘das Auto ist nahe’ das deiktische Zentrum implizit als Relatum genommen; d.h. der Satz bedeutet “das Auto ist nahe bei mir”. Ähnliches gilt beim Gebrauch deiktischer Lokaladverbien; ‘das Auto ist hier’ bedeutet “das Auto ist bei mir” usw.
Oft ist es aber wichtig, auf welcher Seite des Relatums das Locatum sich befindet. Das bedeutet, daß man eine weitere Dimension spezifiziert. Ein unstrukturiertes Relatum genügt dann nicht mehr; man benötigt entweder ein zusätzliches Relatum oder ein strukturiertes Relatum. Wir beschränken uns zunächst weiterhin auf die Verortung in der Ebene. Für die dimensionale Verortung in der Ebene sind drei Bezugsrahmen geläufig (Levinson 2003):
Nehmen wir als Beispiel St. Severi in Erfurt als Locatum, den Dom als Relatum und lokalisieren St. Severi mit den drei Strategien:
In manchen Situationen wie in diesem Beispiel hat man die Wahl zwischen den drei Strategien. In anderen Situationen geben äußere Voraussetzungen die zu wählende Strategie vor:
Der deiktische und der intrinsische Bezugsrahmen haben gegenüber dem absoluten eine Gemeinsamkeit: In beiden Fällen wird von der physikalischen, nämlich dreidimensionalen Struktur eines Gegenstands Gebrauch gemacht. Die dimensionale Struktur des deiktischen Zentrums – das nicht nur, wie gesagt, in jeder räumlichen Situation allgegenwärtig, sondern auch evolutiv-systematisch fundamental ist – dient dabei als analogisches Vorbild. So hat ein Auto eine Vorder- und eine Rückseite. Das sind die Seite, nach der es sich normalerweise bewegt, und die gegenüberliegende Seite. Gegeben diese Längsachse, hat es auch eine linke und eine rechte Seite. Diese Gestaltungskriterien sind natürlich am Menschen abgesehen. Bei Gebäuden und Möbeln ist es einen Schritt komplizierter: Hier ist die Vorderseite die Seite, von der der Mensch normalerweise seinen Zugang nimmt, also eigentlich die der Vorderseite des Menschen gegenüberliegende Seite.
Die Strategie der intrinsischen Verortung ist daher der Strategie der deiktischen Verortung sehr ähnlich. ‘Erna steht rechts von mir’ hat dieselbe Struktur wie ‘Erna steht rechts von Erwin’. Nichtsdestoweniger besteht ein Unterschied. Erstens läßt sich die deiktische Verortung immer vereinfachen, weil man das deiktische Zentrum nicht zu nennen braucht: ‘Erna steht rechts’. Wenn intrinsische Verortung gemeint ist, geht dies nur, wenn das Relatum schon genannt ist und durch implizite Anapher fortbesteht. Zweitens sind zahlreiche Ausdrücke systematisch zweideutig, wenn nicht klar ist, ob der Bezugsrahmen deiktisch oder intrinsisch ist:
Je nachdem, ob der Bezugsrahmen deiktisch oder intrinsisch ist, bedeutet also eine Lokalisierung etwas völlig Verschiedenes. Diese Art von Ambiguität tritt im absoluten Bezugsrahmen nicht auf; und übrigens auch nicht in Sprachen, die den deiktischen Bezugsrahmen nicht verwenden.
Wenn wir nun die Lokalisation in der dritten Dimension hinzunehmen, bestehen zwar dieselben drei Bezugsrahmen und Strategien; aber die Gewichte verschieben sich. Der absolute Bezugsrahmen ist hier durch die Schwerkraft gegeben; sie bestimmt, wo oben und unten ist. Gleichzeitig ist der vertikale Teil des absoluten Bezugsrahmens fundamental asymmetrisch, denn unten ist ein für allemal die Erde, oben der Himmel. Durch diese Salienz und Asymmetrie ist die absolute Orientierung in der Vertikalen ungleich üblicher als in der Horizontalen. Dazu kommt, daß der deiktische Bezugsrahmen unter normalen Umständen auf dasselbe hinausläuft wie der absolute. Orientieren muß man sich fast nur, wenn man sich bewegt; dazu aber hat man normalerweise aufrechte Körperposition. Das bedeutet, daß eine Körperregion – der Kopf – als ‘oben’ definiert ist, weil sie üblicherweise im absoluten Bezugsrahmen solchermaßen ausgerichtet ist, und daß diese Körperregion sich auch fast immer, wenn es darauf ankommt, in absoluten Termini oben befindet. Daher ist es oft gleich, ob man sich absolut oder deiktisch orientiert. ‘Das Damoklesschwert hängt oben’ kann, streng genommen, bedeuten “hängt in der Vertikalen relativ weit vom Nullpunkt, d.h. vom Boden entfernt” oder “hängt über mir”. Das läuft aber in vielen Fällen [allerdings nicht gerade in diesem!] auf dasselbe hinaus oder ist nicht wichtig.
Dieses Zusammentreffen mit der deiktischen Orientierung verstärkt den Vorrang der absoluten Orientierung in der Vertikalen. Die intrinsische Orientierung bleibt natürlich unabhängig davon. Aber auch die Gegenstände, die eine intrinsische Ober- und Unterseite haben, z.B. ein Schreibtisch, stehen normalerweise immer in derselben Ausrichtung, so daß auch der Konflikt zwischen absoluter und intrinsischerr Orientierung nicht so oft auftritt. Immerhin: Wenn der Schreibtisch seine kanonische Position hat, dann ist der Satz ‘auf dem Schreibtisch krabbelt eine Spinne’ eindeutig. Angenommen aber, während eines Umzugs steht der Schreibtisch umgekehrt auf vier Stühlen; was bedeutet der Satz dann?
Die drei Bezugsrahmen stehen für die Orientierung zur Verfügung. In vielen Gemeinschaften wie der unseren werden sie alle drei benutzt. Die Wahl zwischen ihnen wird oft durch die Umstände bedingt, wie oben schon angedeutet. Weniger ist über andere Faktoren bekannt, die die Wahl determinieren. Infrage kommen z.B. individuelle Vorlieben und Beschränkungen oder kulturelle Festlegungen, d.h. Orientierungsstrategien, die in einer Gemeinschaft üblich sind.
Was den ersteren Punkt betrifft, so kommen in unserer Gesellschaft sowohl Menschen vor, die sich nicht nach den Himmelsrichtungen orientieren können, als auch Menschen, die sich nicht nach Links und Rechts orientieren können. Das scheint soweit noch keinen gesteigerten Erkenntniswert zu haben. Immerhin kann man wohl verallgemeinern, daß die Orientierung nach Himmelsrichtungen in unserer Gesellschaft weitgehend auf bestimmte Situationen beschränkt ist, die typischerweise auf dem freien Feld stattfinden. Systematische vergleichende Untersuchungen darüber, wie man sich in einer Gemeinschaft üblicherweise orientiert, haben erst vor relativ kurzem begonnen. Die folgenden Darstellungen beruhen auf Untersuchungen, die im Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen durchgeführt wurden (s. Levinson 2003).
Zunächst fiel auf, daß die Ausdrücke für ‘links’ und ‘rechts’ sowie ‘vorn’ und ‘hinten’ in manchen Völkern, z.B. den Tzeltal (Maya in Chiapas), den Guugu Yimithirr (Australien), den Tamil (Südindien) und mehreren anderen, in alltäglicher Rede viel seltener vorkommen als in SAE-Sprachen. Bei der obigen Aufgabe, St. Severi zu verorten, würden Angehörige solcher Völker es unter allen Umständen vorziehen, St. Severi ‘nördlich vom Dom’ zu lokalisieren; die Version ‘rechts vom Dom’ käme ihnen nicht in den Sinn.
In einer Reihe von Völkern rund um den Globus wurden Experimente zur Raumorientierung und Raumkonstruktion, also zur praktischen und sprachlichen Orientierung im Raum, durchgeführt, die in den folgenden Abschnitten dargestellt werden.