In Kap. 4 hatten wir die Tätigkeiten von Sprecher und Hörer beim Sprechen und Verstehen analysiert. In Kap. 4.2.1 wurde der Sprechakt als eine Handlung charakterisiert. Hier kommt es nun darauf an, die Natur dieser Handlung im Rahmen der Sprechsituation zu analysieren.
Die Theorie von Sprechakt und Sprechsituation speist sich aus verschiedenen Quellen. Die Sprachphilosophie untersucht, wie sich in einer Äußerung die Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks mit zwischenmenschlichem Handeln, das die Welt verändert, verbindet. Die Soziolinguistik untersucht Sprachverwendung in verschiedenen Situationen empirisch und macht darüber Generalisierungen. Die deskriptive Linguistik hat zwei Zugänge zum Problem. Der erste besteht darin, Sprechsituationen als eine Art von Situationen zu nehmen und die linguistische Analyse von Situationen, die eigentlich für dargestellte Situationen (im unten zu definierenden Sinne) konzipiert ist, auf Sprechsituationen anzuwenden. (Auch Sprechsituationen sind Gegenstand sprachlicher Darstellung, etwa in Erna erzählte Erwin eine Geschichte.) Dieser Zugang wird gleich im folgenden genommen. Der zweite Zugang besteht in einer semantisch-pragmatischen Analyse der Deixis. Diese folgt im nächsten Abschnitt.
Das Verhältnis zwischen ‘langue’ und ‘parole’ kann wesentlich durch den Gegensatz zwischen ‘virtuell’ und ‘aktuell’ gekennzeichnet werden. Die Sprache als ‘langue’ ist das Verfügen über die ‘parole’; und die ‘parole’ ist die Aktualisierung dieses Vermögens. Das jedesmalige Sprechen findet unter Menschen in Raum und Zeit statt. Dies schafft eine Situation, die Sprechsituation genannt wird.
Die Sprechsituation kann auf allgemeinster Ebene linguistisch als Situation beschrieben werden. Eine Situation ist eine raumzeitliche Konstellation von Entitäten, die in ihrer Eigenschaft als Situationsteilnehmer Partizipanten heißen. Sie haben gewisse Eigenschaften, die wesentlich mit Bezug auf die Empathiehierarchie bestimmt werden können. Sie sind miteinander durch statische und dynamische Relationen verbunden, welche, bezogen auf je einen von ihnen, Partizipantenrollen heißen. Der Situationskern ist der immaterielle Schnittpunkt dieser Relationen, der den Situationstyp bestimmt. In diesem Sinne sind z.B. ‘Bewegung’, ‘Wahrnehmung’, ‘Experienz’ und ‘Kommunikation’ Situationstypen.
Situationen werden klassifiziert nach den genannten Parametern: nach der Anzahl und Natur der Partizipanten, der Dynamizität des Situationskerns, nach Merkmalen der Partizipantenrollen wie insbesondere ihrer Zentralität und der Kontrolle vs. Affiziertheit.
Eine Sprechsituation ist eine Kommunikationssituation. Das besagt folgendes: Es gibt drei Partizipanten, Sprecher, Hörer und Nachricht. Nur die ersten beiden werden Sprechaktteilnehmer genannt. Sie besetzen die obersten Positionen der Empathiehierarchie, der dritte Partizipant liegt auf der untersten Ebene.
Dies ist eine prototypische Charakterisierung der Sprechsituation, von der Abweichungen möglich sind. Die Terminologie im gegenwärtigen Zusammenhang ist stark sprecherorientiert, wie schon der Terminus ‘Sprechsituation’ und die Definition von ‘parole’ als “das jedesmalige Sprechen” zeigen. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer asymmetrisch, denn der Sprecher ist, wie gesagt, in der Situation zentraler als der Hörer. Sie unterscheiden sich auch in dem Maße, in welchem sie für eine Sprechsituation notwendig sind. Sprechsituationen ohne Hörer kommen vor; es sind Monologe. Sie weisen verschiedene Symptome des Abweichens vom Normalen auf; z.B. können die Personalia der ersten und zweiten Person Singular dieselbe Referenz haben. Sprechsituationen ohne Sprecher kommen auch vor, nämlich beim Stimmenhören. Dieser Fall ist klar pathologisch und insofern marginal; und andererseits ist er noch komplexer als der des Monologs, weil der Hörer subjektiv durchaus den Eindruck hat, daß es einen Sprecher gibt. Insofern also eine Sprechsituation ohne Sprecher stark pathologisch, eine solche ohne Hörer jedoch nur schwach pathologisch ist, kann man vereinfachend sagen: “keine Sprechsituation ohne Sprecher”, und die terminologische Ungleichbehandlung der beiden insoweit rechtfertigen.
Noch konstitutiver für die Situation als Sprecher und Hörer ist freilich der zentrale Partizipant, die Nachricht. Bei der Suche nach Abweichungen von diesem Postulat stößt man auf zwei völlig verschiedene Fälle. Der eine ist die Übermittlung von Gedanken zwischen “Sprecher” und “Hörer”, ohne daß es eine Nachricht gibt. Das wäre Telepathie, also auch wieder ein paranormaler Fall und jedenfalls kein Sprechakt und keine Sprechsituation. Die andere Möglichkeit ist einfach Schweigen zwischen Sprecher und Hörer. Das Schweigen als solches ist kein positiver Akt und insofern ambivalent. Es kann Bestandteil eines Sprechaktes bzw. zweier aufeinander folgender Sprechakte sein. Hier ist Schweigen also nicht Abwesenheit einer Nachricht, sondern das Wechseln von einer Nachricht zur nächsten. Es kann aber auch in tausend Situationen vorkommen, die keine Sprechsituationen sind. Fazit: keine Sprechsituation ohne Nachricht.
Zum Normalfall gehört ferner ein raumzeitlicher Zusammenhang der Sprechsituation. Das bedeutet, daß Sprecher und Hörer sich zur selben Zeit am selben Ort befinden. Auch hiervon kann wieder abgewichen werden. Beim Telefonieren befinden die beiden sich nicht am selben Ort, und bei schriftlicher Korrespondenz gibt es eine Phasenverschiebung zwischen Senden und Empfangen. Beides führt wieder zu Komplikationen, z.B. bei der Verwendung von Ausdrücken wie ‘hier’ und ‘jetzt’.
Zur prototypischen Sprechsituation gehört wahrscheinlich auch, daß Sprecher und Hörer einander zugewandt sind. Man kann das daraus schließen, daß bei Abweichungen sich die Deixis wieder kompliziert. Z.B. wird zwischen zwei Personen, die Rücken an Rücken an einen Marterpfahl gefesselt sind, die Verwendung von Ausdrücken wie ‘da’, ‘vorn’ und ‘hinten’ schwierig. Allerdings ist es nicht in allen Sprachgemeinschaften üblich, daß Sprecher und Hörer Blickkontakt haben. Aus Australien wird die übliche Verwendung von Rede i.S.v. ‘broadcasting’ berichtet. Insofern könnte die Bezeichnung der ‘face-to-face interaction’ als ‘canonical encounter’ (Lyons 1977:637f) ein Eurozentrismus sein.
Ein weiteres Merkmal der prototypischen Sprechsituation ist es, daß die Rollen von Sprecher und Hörer jederzeit getauscht werden können. Dies sind also nicht zwei soziale Rollen vergleichbar etwa den Rollen von Arzt und Patient. Sie sind vielmehr temporär. Wer gerade welche Rolle hat, wird ausgehandelt, normalerweise unter der Voraussetzung, daß die Rollen gleich andersherum verteilt sein werden. Das jedenfalls gehört zum Begriff des Dialogs. Hierin liegt eine Symmetrie der Sprechsituation, die wesentlich in der conditio humana begründet ist und der zuvor erwähnten Asymmetrie zuwiderläuft.
Sprecher und Hörer sind die beiden kanonischen menschlichen Teilnehmer der Sprechsituation. Die prototypische Sprechsituation ist also ein Dialog. Daneben kann es andere menschliche Teilnehmer geben. Zunächst ist der Fall zu behandeln, daß diese auch Sprechaktteilnehmer sind. Eine Mehrzahl von Sprechern kommt nur unter bestimmten Bedingungen vor. Auszuscheiden ist zunächst der Fall, wo die Leute durcheinander reden, denn das sind dann mehrere - zufällig gleichzeitig am selben Ort stattfindende - Sprechakte. Damit mehrere Sprecher gemeinsam einen Sprechakt ausführen, also im Chor sprechen können, müssen sie die Nachricht miteinander verabredet haben. Das kommt, außer im griechischen Drama, vor allem bei ritualisiertem Sprechen, z.B. bei gemeinsamem Gebet, und beim Chorsingen vor. Wegen der engen Bedingungen ist eine solche Sprechsituation vom Prototyp relativ weit entfernt. Dagegen ist es völlig normal, daß der Sprecher sich an eine Mehrzahl von Hörern wendet. Daß diese Sprechsituation weniger prototypisch ist, erweist sich nur darin, daß ein symmetrischer Rollentausch - außer eben unter den soeben genannten Ausnahmebedingungen - unmöglich ist.
Ferner kann es in einer Sprechsituation andere menschliche Teilnehmer geben, die nicht Sprechaktteilnehmer sind. Sie heißen ‘Mithörer’ (engl. bystander). Auch eine Sprechsituation mit einem Mithörer ist nicht prototypisch, wie man u.a. daran sieht, daß der Sprecher Schwierigkeiten hat, wie er den Mithörer bezeichnen soll (Anreden ist ausgeschlossen, denn dann wäre er Hörer, nicht Mithörer). Der Mithörer gehört dennoch zur Sprechsituation, was sich darin erweist, daß er - wenn auch mit etwas höherem Aufwand - jederzeit die Rolle des Sprechers oder Hörers übernehmen kann.
Sobald in einer Sprechsituation die Sprecherrolle zwischen mehr als zwei Personen wechselt - sei es, daß die Nicht-Sprecher sämtlich Hörer sind oder daß sie teils Hörer, teils Mithörer sind -, ist sie nicht dialogisch, sondern polylogisch. Polylogische Situationen sind in allen Sprachgemeinschaften völlig üblich, z.B. im Familienkreise oder im Dorfpalaver. Sie sind jedoch, wie gesagt, weniger prototypisch und natürlich komplexer als dialogische Situationen.
Schließlich gibt es Sprechsituationen, wo einer der beiden Sprechaktteilnehmer kein Mensch ist. Hierfür kommen einerseits übernatürliche Wesen und andererseits Tiere oder sogar noch anempathischere Gegenstände infrage. Fälle, wo der Sprecher ein solches Wesen ist, sind in der Literatur gang und gäbe, können aber als fiktiv ausgeschieden werden. Daß andererseits der Angesprochene etwas anderes als ein menschliches Wesen ist, ist ein durchaus normaler Fall. Daß er nicht prototypisch ist, erweist sich wieder an der Unmöglichkeit des Rollentauschs.