B1. | Mama, Erna hat mich gehauen. |
B2. | Bist du denn nicht in der Uni gewesen? |
So kann man über dem Satz Erna hat mich gehauen Aussagenlogik machen, Wahrheitsbedingungen für seine Implikationen angeben und auf diese Weise einen großen Teil seiner Bedeutung beschreiben. Aber für die semantische Interpretation des Ausdrucks Mama in B1 hilft aussagenlogisch begründete Semantik nicht weiter. Wenn Erwin B1 zu seinem Vater sagt, ändern sich die Wahrheitsbedingungen von B1 in keiner Weise; die Äußerung von B1 verunglückt lediglich. B2 hat die Implikatur, daß der Sprecher bisher angenommen hatte, der Hörer sei in der Uni gewesen, aufgrund von kurzfristig verfügbar gewordener Evidenz – typischerweise durch die vorangegangene Äußerung des Hörers – jedoch den Eindruck gewonnen hat, diese seine Annahme sei falsch. Eine Implikation kann das schon aus dem einfachen Grunde nicht sein, weil B2 ein Fragesatz ist; mit solchen hat die Aussagenlogik nichts zu tun.
Implikaturen sind zunächst in semantische und pragmatische Implikaturen einzuteilen.2 Eine semantische Implikatur hat mit einem logischen Schluß die Nichtannullierbarkeit (s.u.) gemeinsam. Die soeben anhand von B1f besprochenen Implikaturen sind semantische Implikaturen. Das große Gebiet der semantischen Eigenschaften, die der Aussagenlogik unzugänglich sind, wird durch semantische Implikaturen abgedeckt. Diese negative Charakterisierung des größten Teils der Semantik (“das, was einer aussagenlogischen Analyse nicht zugänglich ist”) ist einfach ein Symptom des embryonalen Entwicklungsstandes der Semantik und sicher der Sache nicht angemessen. Erst recht ein Zufall der Forschungsgeschichte ist es, daß diejenigen Implikaturen, die am besten untersucht sind, nicht die semantischen, sondern eine besondere Art der pragmatischen Implikaturen sind, auf die wir im nächsten Abschnitt kommen.
Eine pragmatische Implikatur ist eine Inferenz nicht aus einem Satz, sondern aus einer Äußerung. Sie basiert also nicht ausschließlich auf der Satzbedeutung, sondern bezieht Informationen aus der Sprechsituation und dem gemeinsamen Wissen der Teilnehmer, insbesondere aus Kommunikationsprinzipien, mit ein. Hiervon sind wiederum die konversationellen Implikaturen ein besonderer Typ. Sie beruhen auf einem allgemeinen Kooperationsprinzip, das im folgenden Abschnitt erläutert wird.
Für die Kooperation gibt es rationale Verhaltensweisen, die Menschen befolgen, die effiziente Kooperation wünschen. Sie gelten auch für sprachliche Interaktion. Sie können (nach Grice 1975) in einem Kooperationsprinzip zusammengefaßt werden, welches seinerseits in vier Arten von Maximen spezifiziert werden kann:
Handlungen inkl. Sprechakte, die eine oder mehrere der Maximen engültig verletzen, sind unkooperativ. Eine Lüge z.B. verletzt die Qualitätsmaxime Nr. 1.
Es gibt zwei Arten von kooperativen Handlungen: Solche, die sich direkt nach den Maximen richten; und solche, welche sich indirekt nach ihnen richten. Letzteres besagt, daß eine Handlung, die eine Maxime zu verletzen scheint, nichtsdestoweniger kooperativ sein kann. Hörer versuchen nämlich, das was der Sprecher sagt, auf der Basis der Annahme zu interpretieren, daß der Sprecher sich an das Kooperationsprinzip hält. Wenn eine Äußerung, oberflächlich betrachtet, eine der Maximen nicht einhält, so bleibt der Hörer nicht an diesem Punkt ihrer Interpretation stehen, sondern er versucht in der Verletzung einen (kooperativen) Sinn zu sehen. Er zieht aus der Äußerung Inferenzen, indem er ihren semantischen Gehalt mit Information aus der Sprechsituation und dem Redeuniversum, insbesondere mit den Zielen der Konversation, kombiniert. Eine Inferenz, die auf dem Kooperationsprinzip beruht, heißt konversationelle Implikatur. Es folgen einige Beispiele.
B3. | a. | Wo ist eigentlich Erwin? |
b. | Nun ja, vor Ernas Haus steht ein roter Porsche. (nach Levinson 1983:102) |
A
– der Sprecher von B3.a – hat die Antwort B3.b in der Struktur seiner Frage nicht vorgesehen. B
s Antwort wirkt auf den ersten Blick unkooperativ, denn sie verletzt Maxime #5. A
s normale Reaktion besteht jedoch nicht darin, B
(etwa mit Beantworte bitte meine Frage!) für unkooperativ zu erklären, sondern sich zu fragen, welchen Schluß B
ihm wohl nahelegen will. A
nimmt also an, daß B3.b für B3.a relevant ist. Nun aktiviert er sein Weltwissen, welches die Proposition ‘Erwin fährt einen roten Porsche’ sowie Information über Erwins Verhältnis mit Erna einschließt. Ferner verfügt A
über den Wahrscheinlichkeitsschluß, daß wo ein Besitz von X
steht, X
nicht weit ist. Und so zieht A
schließlich die Inferenz, daß Erwin bei Erna ist. Ausgelöst ist sie durch die prima-facie-Verletzung der Relevanzmaxime, und deshalb ist es eine konversationelle Implikatur.
B4. | a. | Wie ist es eigentlich Erwin vor Gericht ergangen? |
b. | Ach, er hat eine Geldstrafe bekommen. (nach Levinson 1983:106) |
Bei der Interpretation von B4.b wird die Quantitätsmaxime #3 wirksam. Danach muß man schließen, daß Erwin mit einer Geldstrafe davongekommen ist. Hat Erwin außerdem lebenslänglich bekommen, und der Sprecher von B4.b weiß das, so verletzt er diese Maxime. Man beachte wiederum, daß er in diesem Fall mit B4.b die Wahrheit sagen würde; auch diese Inferenz ist also einer Wahrheitswertsemantik nicht zugänglich.
Es gibt zwei Arten von Implikaturen:
Sonach ist die Implikatur, daß Erwin in B4 mit einer Geldstrafe davongekommen ist, eine Standardimplikatur, während die Implikatur, daß Erwin sich in B3 bei Erna befindet, aus der Verletzung einer Maxime resultiert. Ein letztes Beispiel dieses letzteren Typs ist B5.
B5. | a. | Kanzler Bismarck war ein Mann aus Eisen. |
b. | Kanzler Bismarck hatte feste Prinzipien. (nach Levinson 1983:110) |
B5.a verletzt die Qualitätsmaxime #1, denn Menschen können nicht aus Eisen sein. Die Interpretation geht also davon aus, daß etwas anderes gemeint sein muß. Dafür kommen im Prinzip alle Eigenschaften von Eisen in Betracht, die sich auf Menschen übertragen lassen. Die Inferenz B5.b ist nur eine der Möglichkeiten. Wie man sieht, sind Metaphern Verletzungen der Qualitätsmaxime; und genau da setzt ihre Interpretation an.
Pragmatische Implikaturen unterscheiden sich von semantischen Implikaturen und erst recht von logischen Implikationen darin, daß sie annullierbar (engl. defeasible) sind. Eine Inferenz ist annullierbar gdw sie nur dann gezogen wird, wenn dem keine Implikationen oder höherwertigen Implikaturen entgegenstehen. Z.B. ist mit dem natursprachlichen Quantor einige (im Gegensatz zum logischen Existenzquantor) die Implikatur verbunden, daß die Aussage nicht für alle gilt.
B6. | a. | Einige Seminarteilnehmer waren auf der Demonstration. |
b. | Nicht alle Seminarteilnehmer waren auf der Demonstration. |
Die aus B6.a gezogene Implikatur B6.b beruht auf der Quantitätsmaxime, denn wenn der Sprecher wußte, daß die Aussage für alle gilt, mußte er das gemäß dieser Maxime sagen. Man beachte, daß B6.b nur eine Implikatur, selbstverständlich keine Implikation von B6.a ist: logisch betrachtet schließt die Aussage, daß einige auf der Demonstration waren, durchaus nicht aus, daß alle dort waren.
Diese Implikatur ist nun annullierbar.
B7. | Einige, wenn nicht alle Seminarteilnehmer waren auf der Demonstration. |
B7 ist völlig unauffällig und keinesfalls widersprüchlich, was es ja sein müßte, wenn B6.a B6.b logisch implizierte.
Man vergleiche dies mit dem Versuch, eine logische Implikation zu annullieren. B6.a impliziert logisch, daß es nicht der Fall ist, daß kein Seminarteilnehmer auf der Demonstration war. In B8 wird versucht, diese Implikation zu annullieren.
B8. | Einige Seminarteilnehmer waren auf der Demonstration, und zwar kein einziger. |
Im Gegensatz zu B7 ist B8 anomal: man kann nicht sagen, was es bedeuten soll.
Pragmatische Implikaturen sind also gleichsam schwächer als logische Implikationen und semantische Implikaturen: eine logische Implikation – z.B. ein Bedeutungspostulat – gilt immer; eine pragmatische Implikatur gilt nur, wenn sie mit allem, was vorgängig sicher oder im Kontext ausdrücklich gesagt ist, vereinbar ist.
1 Grice 1975 führt die Begriffe ‘implicate’ und ‘implicature’ ein und setzt sie ausdrücklich gegen die bestehenden Begriffe ‘implizieren’ (engl. imply) und ‘Implikation’ (engl. implication) ab. Implikation ist eine logische Beziehung zwischen zwei Propositionen (mehr anderswo). Sie wird in der semantischen Analyse wirksam, insoweit deren Gegenstand die von Sätzen kodierten Propositionen sind. Die rein semantische Interpretation reicht aber nicht aus, um den Sinn einer Äußerung in einer bestimmten Sprechsituation zu verstehen. Dazu sind vielmehr Inferenzen verschiedener Art nötig, die Grice unter dem Begriff ‘Implikatur’ zusammenfaßt.
2 Sie heißen in Levinson 1983, ch. 3 (nach Grice 1975) konventionelle bzw. nicht-konventionelle Implikaturen.
Grice, H. Paul 1975, "Logic and conversation." Cole, Peter & Morgan, Jerry L. (eds.), Speech acts. New York etc.: Academic Press (Syntax and semantics, 3); 41-58.
Grice, H. Paul 1981, "Presupposition and conversational implicature." Cole, Peter (ed.), Radical pragmatics. New York etc.: Academic Press; 183-198.
Levinson, Stephen C. 1983, Pragmatics. Cambridge: Cambridge University Press (Cambridge Textbooks in Linguistics); ch. 3.