Die Grammatikalisierung einer sprachlichen Einheit ist vor allem ihre Verfestigung, d.h. ihre Unterwerfung unter Beschränkungen des Sprachsystems. Die fragliche Einheit verliert an struktureller Autonomie. Das besagt für den Sprecher, daß er die Freiheit, sie nach seinen kommunikativen Absichten zu manipulieren, verliert bzw. abgibt und ihm statt dessen die Grammatik diktiert, wie er damit verfahren muß.
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir zahlreiche Fälle von Grammatikalisierung gesehen. Mehrere davon sind in der folgenden Tabelle zusammengefaßt.
Vulgärlatein | Spanisch | Französisch | Bedeutung | |
Demonstrativum | > | definiter Artikel | ||
(ille) ventus | el viento | le vent | der Wind | |
"eins" | > | indefiniter Artikel | ||
(unus) ventus | un viento | un vent | ein Wind | |
Demonstrativum | > | (klitisches) Personalpronomen | ||
illa illum legit | ella lo lee | elle le lit | sie liest es | |
Vollverb | > | Hilfsverb | ||
habeo cantatum | he cantado | (j')ai chanté | ich habe gesungen | |
cantare habeo | cantaré | (je) chanterai | ich werde singen | |
Substantiv | > | Adjektivsuffix | ||
stricta mente | estrechamente | étroitement | eng (Adv.) |
Als erstes Beispiel betrachten wir das System des definiten und indefiniten Artikels, le und un, im Französischen (der Fall von span. el - un wäre weitgehend parallel). Sie gehen auf das lateinische distale Demonstrativum ille “jener, der da” und auf das lateinische Numerale unus “ein” zurück. Als sie noch das Demonstrativum und das Numerale des Lateinischen waren, wählte der Sprecher sie nach ihrem Sinn. Wenn er "jenes Pferd" ausdrücken wollte, sagte er ille equus oder equus ille; und wenn er "ein Pferd" (im Gegensatz zu "zwei Pferde") ausdrücken wollte, sagte er unus equus oder equus unus. Er konnte auch ille unus equus “jenes eine Pferd” und alle denkbaren Permutationen dieses Syntagmas sagen. Er sagte nichts von alledem, wenn er bloß "ein Pferd" oder "das Pferd" ausdrücken wollte, denn in diesen Fällen sagte er einfach equus; die lateinische Grammatik sieht kein Mittel zur Markierung von (In-)Definitheit vor.
Heute ist die Situation völlig verändert. Zwar kann der Sprecher immer noch wählen, ob er j'ai vu un cheval oder j'ai vu le cheval sagen will. Aber er kann nicht mehr cheval un oder cheval le sagen, und auch nicht un le cheval; und er kann auch nicht auf den Artikel verzichten und j'ai vu cheval sagen. Tatsächlich ist der Artikel in den meisten Kontexten obligatorisch. Noch schlimmer, die Wahl zwischen den beiden Artikeln ist in vielen Kontexten durch die Grammatik vorgeschrieben. In Domino est le cheval le plus furieux que j'ai vu kann man den definiten Artikel nicht ersetzen; und in Domino est un des chevaux les plus furieux que j'ai vus kann man den indefiniten Artikel nicht ersetzen. Der Artikel besetzt eine fixe Strukturposition im Nominalsyntagma, die Kategorie des Artikels als solche ist fast immer obligatorisch, und die Wahl zwischen ihren beiden Gliedern ist in vielen Fällen ebenfalls nicht frei.
Das lateinische ille tritt bereits im Vulgärlatein ohne spezifische deiktische Kraft auf, wie in , wo dasselbe Wildschwein gemeint ist, von dem bereits im ganzen Vortext die Rede ist.
. | Etiam | uidete | quam | porcus | ille | siluaticus | lotam | comederit | glandem! |
auch | seht | wie | Schwein | jenes | waldbewohnend | köstlich | gefressen:hat | Eichel | |
“Schaut auch, welch köstliche Eicheln das Wildschwein gefressen hat!” (Petr. 40, 7) |
Auf dem Weg zu den romanischen Sprachen bleibt nur die definite Bedeutungskomponente erhalten, während die deiktische Komponente vollkommen verloren geht. Ähnlich ist es mit dem Zahlwort, das auf dem Weg zum indefiniten Artikel den inhärenten Kontrast von “genau einer” (im Gegensatz zu mehreren) verliert. Im Spanischen geht die Grammatikalisierung noch weiter als im Französischen, denn dort kann der indefinite Artikel sogar pluralisch vorkommen, wie in unos caballos “Pferde”.
Die romanischen Personalpronomina der 1. und 2. Ps. gehen, mit Ausnahme der iberoromanischen Pronomina der 2. Ps. zur höflichen Anrede, sämtlich auf die Personalia des Lateinischen zurück. Die romanischen Personalia der 3. Pers. gehen sämtlich auf dasselbe ille, in substantivischer Funktion, zurück, auf welches auch der definite Atikel, in adjektivischer Funktion, zurückgeht.
Beispiele für die Grammatikalisierung der klitischen Pronomina im Französischen sind in der Darstellung des Französischen zu sehen. Sie verlieren ihren Akzent, werden phonologisch reduziert, werden auf eine bestimmte syntagmatische Position fixiert und treten schließlich, in der Umgangssprache, sogar in der Kongruenz auf.
Das Lateinische hatte, außer in einigen Subkategorien des Passivs, keine Hilfsverben, sondern bildete alle Verbformen synthetisch. In den romanischen Sprachen werden mehrere verbale Kategorien analytisch gebildet, darunter:
Solche periphrastischen Verbalformen werden ständig neu gebildet. Folgende Tabelle aus dem Spanischen:
Kategorie | Beispiel |
Progressiv | Juan está leyendo un libro. |
"Hans liest gerade ein Buch." | |
Inkrementiv | Juan fué comprendiendo la história. |
"Hans verstand die Geschichte nach und nach." | |
Konstantiv | Juan anda contando historias. |
"Hans erzählt ständig Geschichten." | |
Kontinuativ | Juan continuó leyendo. |
"Hans las weiter." | |
Repetitiv | Juan volvió a leer el libro. |
"Hans las das Buch wieder." | |
Exitiv | Juan acabó leyendo todo el libro. |
"Hans las schließlich das ganze Buch." | |
Präteritum Recens |
Juan acababa de leer el libro. |
"Hans hatte soeben das Buch gelesen." | |
Habitual | Juan suele madrugar. |
"Hans steht gewöhnlich früh auf." | |
Ingressiv | Juan se pone a leer un libro. |
“Hans beginnt, ein Buch zu lesen.” |
Das Lateinische hatte ein synthetisches Futur, das mit diversen Allomorphen eines Verbsuffixes gebildet wurde, wie in cantabo “werde singen”. Es ist in keiner romanischen Sprache fortgeführt. Stattdessen greift das Vulgärlatein zu einer Periphrase, die das Vollverb in den Infinitiv setzt und diesen mit einer finiten Form von habere “haben” kombiniert. Diese Verbindung ist im Spätlatein produktiv und hat zunächst debitiven Sinn, wie in .
. | non | ipsa | parte | exire | habebamus | qua | intraueramus | |
Latin | NEG | self:ABL.SG.F | part(F):ABL.SG | leave:INF | have:IMPF:1.PL | REL:ABSL.SG.F | enter:PLUP:1.PL | |
we did not have to leave at the same side where we had entered | (Itin. Eger. 48,1) |
In einer Verwendung wird die Konjugation des Hilfsverbs auf Präsens Indikativ Aktiv beschränkt, wie in cantare habeo (“habe zu singen” >) “werde singen”. Das Hilfsverb verliert seine Selbständigkeit und wird zum Verbsuffix, wie in span. cantar-é, frz. chanter-ai “werde singen”. Gleichzeitig geht die obligative modale Komponente verloren, und es bleibt lediglich der Zukunftsbezug. Das romanische synthetische Futur erneuert also das lateinische synthetische Futur.
Ähnliches gilt für andere verbale Kategorien, insbesondere den Konditional, frz. chanterai, span. cantaría “würde singen”.
Im Lateinischen wurden Adverbien von Adjektiven durch eine Reihe von Allomorphen eines adverbialisierenden Suffixes abgeleitet. Diese Suffixe werden in den romanischen Sprachen nicht fortgeführt. Das Vulgärlatein führt stattdessen eine Periphrase ein, die das Adjektiv als Attribut mit dem Substantiv mens “Geist, Sinn” kombiniert und dies Nominalsyntagma in den Ablativ setzt, was eben der adverbiale Kasus ist, wie in stricta mente “strengen Sinns” > “streng” (Adv.). Das Adjektiv weist feminines Genus auf, weil lat. mens (wie auch frz. ment, span. mente “Geist”) femininum ist.
Die Bildung wird in den romanischen Sprachen univerbiert, so daß das ehemalige Bezugsnomen der Konstruktion, nunmehr sinnentleert, zum Suffix des Adjektivs wird. Somit haben die romanischen Sprachen die lateinische synthetische Adverbialisierung erneuert. Im Spanischen ist die Verbindung zwischen dem Adjektiv und dem Adverbialsuffix noch loser. Dies erweist sich, wenn zwei so abgeleitete Adverbien koordiniert werden, wie in estrecha y precisamente “strikt und präzise” (< lat. stricta et praecisa mente “strikten und präzisen Sinns”).
Während das lateinische Kasussystem (außer im Pronomen) vollständig verloren geht, werden Präpositionen zum Ausdruck der grammatischen Relationen herangezogen. Die grammatischsten bzw. rein strukturellen Kasus Nominativ und Akkusativ gehen ersatzlos verloren; hier hilft die romanische Wortstellung, Subjekt und direktes Objekt zu unterscheiden. An die Stelle des lateinischen Genitivs tritt das romanische Präpositionalsyntagma mit de; an die Stelle des lateinischen Dativs tritt das romanische Präpositionalsyntagma mit a. Die romanische “Genitiv-”Präposition de ist aus der lateinischen konkret-lokalen Präposition de “von ... herab” grammatikalisiert; die romanische “Dativ-”Präposition a ist aus der lateinischen konkret-lokalen Präposition ad “(hin) zu” grammatikalisiert. Beide verlieren durch die Grammatikalisierung ihre konkret-lokale Bedeutung und bekommen eine abstrakte, rein strukturelle Funktion. Im Spanischen wird a noch weiter grammatikalisiert. Wir sahen, daß es bereits in altspanischer Zeit zur differentiellen Objektmarkierung herangezogen wird.
Die Grammatikalisierung von Kasusrelatoren folgt i.a. folgendem Schema:
Struktur | relationales Substantiv in Lokalkasus | > | klitische Adposition | > | agglutinatives Kasusaffix | > | fusionierendes Kasusaffix | > | ∅ |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Funktion | Raumregion | konkret | abstrakt | ||||||
Stadium | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 |
Die Stationen sind hier mit typischen Vertretern bezeichnet; andere semantische Ausprägungen sind möglich. Die erste Stufe ist im Lateinischen nicht belegt, sie existiert aber in romanischen Sprachen, etwa in span. en cima de “auf, über” (< “auf dem Gipfel von”).
Aus den dargestellten Fallbeispielen lassen sich die wichtigsten Parameter eines Grammatikalisierungsprozesses abstrahieren. Sie sind wie folgt darzustellen:
Relationenachse
Autonomieaspekt ╲ |
paradigmatisch | syntagmatisch |
Kohäsion | Paradigmatizität | Fügungsenge |
---|---|---|
Variabilität | Wählbarkeit | Stellungsfreiheit |
Gewicht | Integrität | Skopus |
Wichtig ist, daß das grammatikalisierte Zeichen auf der syntagmatischen und der paradigmatischen Achse an Autonomie einbüßt. Für den Sprecher bedeutet das, daß er weniger Freiheit hat, es nach dem Sinn und nach kommunikativen Bedürfnissen zu manipulieren, und daß er sich stattdessen immer mehr nach grammatischen Beschränkungen zu richten hat.